Verloren im Cyberspace. Joachim Köhler

Verloren im Cyberspace - Joachim Köhler


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Das Thema war Friedrich Nietzsches Buch »Die Fröhliche Wissenschaft«, was exakt dem Lebensgefühl in Palo Alto entsprach: Eifrig betrieb man die Wissenschaft, und zugleich genoss man das Leben.

      Noch war die Atmosphäre geprägt von der Kulturrevolution, die Amerika in den 1960ern verändert hatte. Überall konnte man den Geist der Flowerpower-Bewegung spüren, die im nahen San Francisco begonnen hatte. Statt Geld und Macht, den Turboladern Amerikas, stand nun die Freiheit an oberster Stelle. Es ging um Freiheit von Repression, Rassismus, Sexismus und Imperialismus. Vor allem aber wollte man den Konsumzwang, diese uramerikanische Krankheit, beenden. Die neue Generation legte Wert darauf, alles selber zu machen. Im Zeichen der Freiheit hatte man an den Universitäten gegen den Vietnamkrieg gekämpft. Amerika hatte den Krieg verloren, aber die Studenten den Krieg gegen den Krieg gewonnen. Bei politischen Protestveranstaltungen drängte sich die T-Shirt- und Button-tragende Jugend auf den Gängen der Stanford Universität, aus denen einem der Duft von Marihuana entgegenwehte.

      Schon Ende der 1950er Jahre hatte der Protest gegen die Konsumgesellschaft der Nachkriegszeit eingesetzt. Beatniks wie Jack Kerouac schufen eine anarchistische Gegenkultur. Die Friedensbewegung mit dem Folksänger Pete Seeger beschwor die Rückkehr zur Menschlichkeit. Martin Luther Kings schwarze Bürgerrechtsbewegung forderte Gleichheit für alle. Und Timothy Leary, der Hippie-Guru, ermutigte zum drogeninduzierten Ausstieg aus der Gesellschaft. Sein berühmtes Wort, Turn on, Tune in, Drop out, rief die Jugend zum Dreischritt auf: Sie sollte sich geistig über die Gesellschaft erheben, die richtige Wellenlänge finden und endlich die Alltagsmisere hinter sich lassen. Abschalten, Aussteigen, Umdenken. Learys Devise wurde zum Schlachtruf der alternativen Lebensform.

      Die Jugend- und Studentenbewegung, die von der Befreiung des Menschen träumte, hinterließ auch im Silicon Valley ihre Spuren. Die nahe gelegene Berkeley University, an der der Marxist Herbert Marcuse und Timothy Leary lehrten, war Hochburg des Protests gegen Vietnamkrieg, autoritären Staat und die Macht der Multis, genannt Corporations. Das ebenfalls nahe San Francisco mit seiner multikulturellen Bevölkerung und sexuellen Liberalität wurde zum Mekka der Woodstock-Generation. Wer in jenen Jahren in Kalifornien aufwuchs, wurde unvermeidlich vom Geist des Nonkonformismus angesteckt. Man rebellierte gegen die Autoritäten, agitierte gegen den Kapitalismus, strebte zurück zur Natur und sehnte sich nach dem neuen Menschen, der die Fesseln der zwanghaften Geldgier und repressiven Moral von sich warf. Aus dem »Eindimensionalen Menschen«, wie Marcuses Hauptwerk hieß, sollte der vieldimensionale Weltbürger werden. In Stanford konnte man ihn finden. Hier war Mitte der 1970er Jahre die Aufbruchstimmung eines neuen, menschlicheren Amerika noch lebendig.

      Die Weltmacht der Computer-Corporations, die man dereinst mit dem Namen des jugendbewegten Tals verbinden sollte, lag in ferner Zukunft. Der Alltag war noch analog. Man schrieb auf elektrischen Schreibmaschinen, studierte Archivmaterial in Form von Mikrofiches, hörte Musik auf Vinylplatten und ärgerte sich über das Knistern der Rillen, das einem die Reibungsverluste der analogen Technik vor Ohren führte.

      Die digitale Welt dagegen, die damals ihren Siegeszug antrat, besteht aus Zahlen, die nicht materiell dargestellt werden müssen. In Lichtgeschwindigkeit von Medium zu Medium übertragen, bleiben sie ewig mit sich identisch. Ihre Kombinationen lassen sich unendlich vervielfältigen, ohne dass sich das Geringste an ihrem Inhalt ändern würde. Digitales nutzt sich nicht ab. Es hält nicht nur die Wirklichkeit fest, sondern ist selbst eine Wirklichkeit. Am besten ließ sie sich auf Halbleitern aus Silicon speichern. Und damit war der neue Name, Silicon Valley, geboren.

      Angezogen von berühmten Forschern und dem Geld, das für ihre Arbeit zu Verfügung stand, entstanden im Umkreis der Stanford University die ersten Startups. Schon 1939 hatten die Stanford-Absolventen Bill Hewlett und David Packard in einer campusnahen Garage ihre spätere Weltfirma gegründet. »Die Elektroniker«, so sagte David Packard, »kommen aus einem einzigen Grund nach Palo Alto. Sie wollen nahe der Stanford Universität arbeiten, weil sie eine bedeutende Quelle für neue Ideen der Elektronikindustrie ist, und ebenso eine Quelle für gut ausgebildete Ingenieure«11. Die Lebensader der Unternehmungsgründungen bildeten die Venture Capital-Firmen, die sich auf das Wagnis (Venture) der Computertechnik einließen und die benötigten Gelder zuschossen. Ihre generösen Besitzer nennt man noch heute ehrfurchtsvoll Business Angels, sozusagen die geflügelten Boten des Unternehmer-Gottes Mammon. Wer damals Tausende investierte, hat heute Milliarden. Mit der neuen Computergeneration waren mechanische Schreib- und Rechenmaschinen zu Schrott geworden. Was sich in Zahlenkombinationen ausdrücken ließ, existierte nun jenseits von Zeit und Raum. Alles war machbar, und alles war am Platz. Damals begann etwas im Silicon Valley, das man die Verfügbarmachung der Welt nennen könnte. Und sie schien nur darauf gewartet zu haben.

      Herz der Finsternis

      Knapp zehn Jahre nach der Geburt der Heimcomputer aus dem Geist der Garagen folgte der letzte und entscheidende Schritt zur Weltveränderung. Die ersten Rechner hatten der Mathematik zu universeller Anwendung verholfen. Durch Tüftler wie Bill Gates und Steve Jobs war diese Revolution jedermann zugänglich gemacht worden. Blieb noch die Erfindung des Internet. Was früher seine Zeit gebraucht hatte, geschah nun in Echtzeit. Alles war sagbar, darstellbar, speicherbar, versendbar geworden. Und dies über jede Distanz hinweg, ohne Zeitverlust, in absoluter Präzision.

      1994 wurde durch den ersten Browser der Silicon-Valley-Firma »Netscape« das Internet für jedermann zugänglich gemacht. Es war die Einstiegsdroge. Jetzt konnte das Silicon Valley endgültig zum Zentrum der weltumspannenden Digitalkultur aufsteigen. Hatten Computer zuvor nur in geschlossenen Intranets kommuniziert, lernten sie nun, sich weltweit miteinander zu unterhalten. Durch das globale Netzwerk, das zuvor nur für Telefon und Telefax ausgelegt war, bildeten sämtliche angeschlossenen Computer eine kommunizierende Gemeinschaft. Fortan stand die Menschheit, wie in E. M. Forsters Vision, mit sich selbst im unendlichen Dialog. Aus dem Austausch, der zuerst Wissenschaft und Militär diente, hatte sich ganz natürlich das Dauergespräch der Menschen entwickelt, für die es keine Tageszeiten mehr gab. Man korrespondierte per E-Mail, plauderte in Chat Rooms und begann in den Social Media über Kontinente hinweg ein alternatives Leben zu führen.

      Dass diese weltumspannende, alles einschließende Cyberwelt aus einem gänzlich unkommerziellen Impuls geboren wurde, ist heute fast vergessen. Auch, dass dies weit entfernt von Kalifornien stattfand. Es geschah am europäischen Kernforschungszentrum CERN, wo man sich 1989 vor eine bis dahin unlösbare Aufgabe gestellt sah. Da diese Anlage teils auf schweizerischem, teils auf französischem Gebiet lag, bedienten sich beide wissenschaftlichen Netzwerke unterschiedlicher Computersprachen. Bei der Zusammenarbeit am gemeinsamen Projekt verstand man sich gut, aber die Rechner verstanden sich nicht.

      Ein englischer Physiker, Tim Berners-Lee, kam auf den, wie sich zeigen sollte, revolutionären Einfall, eine dritte Sprache zu erfinden. Mit ihr ließen sich auch alle anderen Sprachen verstehen. Die Hyper Text Markup Language (HTML) war geboren. Schon im 17. Jahrhundert hatte der deutsche Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz diese Idee einer digitalen Universalsprache vorweggenommen. In seiner »Characteristica Universalis« wollte der geniale Mathematiker ein Zeichensystem schaffen, mit dem sich alles, was es auf, unter und über der Welt gab – alle Objekte und ihre Beziehungen, Materielles und Geistiges, Profanes und Heiliges –, mit mathematischen Symbolen darstellen und berechnen ließ. Sie sollte die Grundlage für Leibniz’ visionäre Universalwissenschaft bilden, wie sie heute auch dank Tim Berners-Lee im Cyberspace verwirklicht ist.

      Da mit der HTML nun alle Netzwerke miteinander kompatibel waren, entstand wie von selbst das weltweite Internet. Womit die Erfindung einer Suchmaschine, die sämtliche Speicher nach bestimmten Begriffen abklapperte, förmlich auf der Hand lag. Die gewaltigen Chancen, die sich aus dieser digitalen Universalwissenschaft ergaben, wurden nicht von Berners-Lee oder dem CERN wahrgenommen, sondern von den geistesgegenwärtigen Junggenies des Silicon Valley. Mit ihren Desktops und fantasievollen Software-Anwendungen eroberten sie den Weltmarkt.

      Dabei ging es anfangs eher bedächtig zu. Wählte man eine Website an, dauerte es oft Minuten bis sie sich stockend aufbaute. Man wartete gern, wohl wissend, dass auch Rom nicht an einem Tag erbaut worden war. Die Geschwindigkeit, mit der das Internet


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