Verloren im Cyberspace. Joachim Köhler
unterirdisches Glück genießen, weil sie kein anderes mehr kennen, großzügig mit Bildschirmen aus. Man kann nicht nur alles sehen, was einen interessiert, sondern auch gesehen werden und interaktiv mitmischen. In den Multimedia-Kämmerchen herrscht bereits ein Internet of Things, bei dem alles mit allem zusammenhängt. Und der Mensch hängt mittendrin. Alles ist natürlich auch mit der allgegenwärtigen, höchst wachsamen Maschine verknüpft, die offensichtlich über ein Selbstbewusstsein verfügt.
In Forsters Unterwelt geht es hypermodern zu. Betritt man sein Zimmer, blinken überall elektrische Knöpfe, mit denen man Essen oder Kleider, oder was immer das Herz begehrt, bestellen kann. Auch lässt sich der Raum in eine kleine Wellness-Oase verwandeln. Auf Knopfdruck entsteigt dem Fußboden eine rosa Badewanne aus Kunstmarmor, in die automatisch ein heißes Bad eingelassen wird. Wohlgerüche und Dauerberieselung durch sanfte Musik sorgen für andauerndes Wohlgefühl. Fühlt man sich unwohl, wird man maschinell getestet und therapiert. Hat man etwa Kopfweh, legt sich einem wie von Geisterhand ein kühlendes Tuch auf die Stirn.
Diese posthumanen Menschen kennen keine Langeweile. Möglichst oft geben sie sich der »Ekstase« hin, »einen Knopf zu drücken, und sei er noch so bedeutungslos, oder eine Klingel läuten zu lassen, und sei sie noch so überflüssig«. Auch Einsamkeit kommt nie auf, denn man kann per Videoschaltung skypen. Da gab es Knöpfe, mit denen Vashti (die Mutter des Helden) mit ihren Freunden kommunizierte. Zwar enthielt der Raum fast nichts, aber mit ihnen konnte sie Verbindung zu allem herstellen, was ihr in der Welt etwas bedeutete. Dagegen war körperliches Berühren der Mitmenschen verpönt. In einer Welt sich überschlagender Innovationen galt es als hoffnungslos antiquiert. War Körperkontakt unvermeidlich, hielt man Mindestabstand. Toleriert wurde Nähe nur, wenn es sich nicht vermeiden ließ, etwa beim Kinderzeugen.
Die plumpen Sozialkontakte hatte man aufgegeben, um sich an Stelle dieser Zeitverschwendung ganz den Social Media zu widmen. Ihr ununterbrochenes Gerede und Geplauder verstummte nie. Da Stille out war, kommunizierte man Tag und Nacht miteinander, wobei es zwischen beiden, wie in der modernen Cyberwelt, ohnehin keinen Unterschied mehr gab. Seit die Maschine die Natur ersetzte, »hatte Vashti schon tausende neue Leute kennen gelernt. In dieser Hinsicht hatte die menschliche Kommunikation enorme Fortschritte gebracht.«
Beim Redemarathon konnte sie in ihrem automatisierten Lehnstuhl ruhen, »während die Gesprächspartner, ebenfalls in Lehnstühlen sitzend, sie dabei gut genug sehen und hören konnten.« Zwischendurch ertönte auch die Stimme der Maschine, die, wie eine Vorform von Alexa, selbständig mit ihr Kontakt aufnehmen konnte, um informierend und korrigierend in ihr Leben einzugreifen. »Durch die Maschine«, sagt Vashti begeistert, »sprechen wir miteinander und sehen einander. In ihr liegt unser ganzes Sein«. Das klingt wie die Firmenphilosophie von »Zoom«, das heute vom Silicon Valley aus weltweit Videokonferenzen organisiert. Derlei konnte Forsters Maschine schon vor über hundert Jahren. Im unterirdischen England findet sich auch schon eine Vorahnung von Amazon: Man brauchte nur zu bestellen, und prompt wurde man bedient. »Wie schlecht funktionierte das alte System«, sagte Vashti rückblickend, »in dem die Menschen zu den Dingen gehen mussten, statt dass die Dinge zu den Menschen gebracht wurden.«
Die Enge ihrer unterirdischen Wohnzelle fiel ihr auch deshalb nicht auf, weil sie den Kontakt mit der ganzen Welt mittels Smartphone halten konnte. Der in Amerika dafür übliche Begriff Cell Phone erhielt so hundert Jahre, bevor es erfunden wurde, seine sprichwörtliche Bedeutung. »Es dauerte fünfzehn Sekunden«, erklärt Forster sein Zukunfts-Handy, »bis die runde Tafel, die sie in Händen hielt, zu glühen begann. Ein schwaches blaues Licht flackerte darüber hin, verdunkelte sich zu Purpur. Und schon konnte sie das Bild ihres Sohnes Kuno sehen, der auf der anderen Seite der Erde lebte. Und er sah sie.« Als er seine Mutter mittels einer Art von audio-visuellem Skype inständig bittet, ihn persönlich zu besuchen, wehrt sie ab. Obwohl man, so schreibt der Autor zu Zeiten der ersten wackligen Flugapparate, mit neuartigen Passagiermaschinen bequem um die ganze Welt reist, lehnt sie jedes Verlassen ihrer bequemen Wohnzelle strikt ab. »Ich kann dich doch sehen«, sagte sie. »Was willst du mehr?« Und außerdem, »Kritik an der Maschine gehört sich nicht.« »Du redest, als hätte Gott sie geschaffen«, erwidert der rebellische Kuno. »Aber Menschen haben sie gemacht, vergiss das nicht. Sie ist viel, aber sie ist nicht alles. Ich sehe etwas wie dich auf dem Bildschirm, aber ich sehe nicht dich. Ich höre etwas wie dich durch dies Telefon, aber ich höre nicht dich.«
Kuno weiß, dass das, was man noch als menschliches Leben bezeichnet, diesen Begriff nicht mehr verdient. Es ist nur ein schlechter Ersatz für die einstige Realität. Echt am neuen Menschen ist nur, dass er sterben muss. »Das einzige Ding«, sagt er, »das hier unten wirklich lebt, ist die Maschine. Wir haben die Maschine geschaffen, unseren Willen zu tun, aber wir können sie nicht mehr zwingen, unserem Willen zu folgen. Sie hat uns das räumliche Empfinden und das Gefühl für Berührungen geraubt, sie hat jede Art menschlicher Beziehung verwässert und die Liebe zu einem fleischlichen Akt degradiert. Sie hat unsere Körper und unseren Willen gelähmt, und jetzt zwingt sie uns, sie anzubeten. Die Maschine entwickelt sich, aber nicht nach unserer Vorgabe. Die Maschine schreitet voran, aber nicht zu unserem Ziel.«
Was Forster auf diese Idee brachte, die so gar nicht in seine Dampfmaschinen- und Telegraphenwelt passte, ist schwer zu erklären. Rätselhaft bleibt auch, wie der Autor die fatale Entwicklung unseres Planeten voraussagen konnte. Umweltzerstörung und Luftverschmutzung waren noch für lange Zeit kein Thema. »Aus Begierde nach Bequemlichkeit«, so erläutert der Autor, »war die Menschheit weit über ihre Bedürfnisse hinausgegangen. Die Schätze der Natur hatte sie bis zum äußersten ausgebeutet.« Bis nichts mehr von ihr übrig blieb.
Spätestens seit Beginn des Industriezeitalters dient die Natur als Quelle für Rohstoffe, die zu Werkstoffen verarbeitet und dann in Wegwerfprodukte verwandelt werden. Diese wiederum kehren zur Natur als ihrer Deponie zurück. Der Dual Use als Lieferant und Mülleimer überfordert die Umwelt. Alle industriellen Produkte wie Plastik und Schwermetalle sind für die Natur unverdaulich. Und auch für den Menschen, der als Naturwesen, selbst wenn er es nicht wahrhaben will, mit ausgebeutet und mit vergiftet wird. Und dabei fleißig mit ausbeutet und mit vergiftet.
Auch Forsters bleiche Menschheit konsumiert nicht, um zu leben, sondern lebt, um zu konsumieren. Nach dieser Devise wurde die Natur »verfrühstückt«. War das Verhalten zu ihr jahrtausendelang durch das Prinzip der Gegenseitigkeit bestimmt, kippte es spätestens seit dem Jahrhundert der Dampfmaschinen in einseitige Ausbeutung um. Diese wiederum wurde durch das explosive Weltwachstum nach 1945 angeheizt und endlich durch die Algorithmen der Computer perfektioniert. Von dieser exponentiellen Entwicklung in Richtung Entmenschlichung hat Forster nichts wissen können. Aber er sah sie voraus.
Als Folge seiner Entfremdung von der Natur konzentriert sich der Mensch auf den Konsum und das, was allen Konsum übersteigt, die glückverheißende Multimediawelt. Hier existiert Natur nur noch im Bild. Aber dieses bietet die Schönheit, die aus der zubetonierten und elektrifizierten Wirklichkeit vertrieben wurde. Die virtuelle Natur ersetzt die gewachsene. Doch die Rohstoffe zur Verfügung stellen, die von der Zivilisation vertilgt und anschließend als Schrott zurückgegeben werden, kann sie nicht. In der Welt der Wegwerfprodukte wird der Mensch selbst zum Wegwerfprodukt. Er lässt sich ausbeuten, aber zugleich findet er die verlorene Freiheit in der fensterlosen Cyberwelt wieder, an die er sich wegwirft, um sich in der vermeintlich höheren Lebensform seines Online-Profils wiederzugewinnen.
Hat die Natur uns einst die Freiheit zu leben geschenkt, so kann sie diese Aufgabe nicht mehr erfüllen. Man hat ihr zu viel zugemutet, und jetzt ist sie erschöpft. Während sie zugrunde geht und die Luft so giftig wird, wie Forster prophezeit hat, wirft man sich sozusagen dem Computer an die Brust. Mit der Konsequenz, die der Autor beschreibt: Das Zoon Politicon, das Gesellschaftstier, als das Aristoteles den Menschen beschrieb, wird zum Einzelwesen. Es lebt in der fensterlosen Zelle, der Computer ist sein Altar, das Smartphone sein Partner. Alle Bedürfnisse werden auf der Stelle befriedigt. Es ist der Fortschritt, der in den Abgrund führt.
In Forsters Vision ist die Vernichtung des Lebendigen so weit vorangeschritten, dass man die Welt nicht mehr bewohnen kann. Wer unbedingt einen Blick auf die verödete Oberfläche mit ihrer giftigen Atmosphäre werfen will, braucht eine Atemmaske. Denn »sobald man der Luft ausgesetzt ist, tötet sie einen.« Und