Verloren im Cyberspace. Joachim Köhler

Verloren im Cyberspace - Joachim Köhler


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Jahrtausends wurden dem Heimcomputer durch das Breitbandkabelnetz zusätzliche Möglichkeiten eröffnet. Bis sich die bestellte Seite in voller Pracht darstellte, dauerte es kaum länger als die Eingabe des Suchbegriffs. Nie war schnelle Wunscherfüllung schneller gewesen. Aber auch hier war noch eine Steigerung möglich: Denn heute ahnt die Suchmaschine bereits nach wenigen Buchstaben, worauf man hinaus will. Und liefert, noch bevor man zu Ende gesprochen hat. Selbstverständlich darf sich Weltwohltäter Google das Recht nehmen, einem regelmäßig ins Wort zu fallen.

      Noch vor der Jahrtausendwende hatte sich im Silicon Valley alles niedergelassen, was in der Cyberwelt zu Rang und Namen gekommen war. Neben den fünf Multis Google, Amazon, Facebook, Apple und Microsoft findet man heute auch Whatsapp, Instagram, Adobe, Cisco, eBay, Intel, Sun Systems, Hewlett & Packard, Netflix, Oracle, Nvidia, Symantec, SAP, Tesla, Skype, Zoom, Twitter und Yahoo! Mit diesem Ausrufezeichen, das zum Namen dieser Suchmaschine gehört, könnten sich alle schmücken. Denn jede Corporation ist Ausrufer ihrer selbst.

      Im blühenden Tal von Stanford, zum Zischen der nimmermüden Rasensprinkler, hatte sich der größte Brain Trust (»Denkfabrik«) der Welt angesiedelt. Die Produktionen dieses Supergehirns breiteten sich aus wie eine Pandemie, die noch den letzten Winkel der Welt beherrschte. Der Kulturwissenschaftler Yuval Noah Harari hat diese geistige Einflussnahme treffend mit der Allmacht der Papstkirche im Mittelalter verglichen. »Der Vatikan«, so der »Homo Deus«-Autor, »war im Europa des 12. Jahrhunderts beinahe das, was heute das Silicon Valley ist.« Beinahe. Das ideologische Versprechen, »wenn du uns folgst, steht dir der Himmel offen«12, ist das gleiche geblieben. Und die Menschen folgen, eins, zwei, drei im Sauseschritt.

      Was aus menschheitsverbindendem Idealismus entstanden war, entwickelte sich zur größten Geld- und Machtmaschine aller Zeiten. Der im Silicon Valley lebende Investmentmanager John Doerr schrieb, das Tal sei »die größte legale Vermögensbildung, die wir jemals auf unserem Planeten erlebt haben«. Google, Amazon, Facebook, Apple und Microsoft, genannt die Big Five, stellen die größtmögliche Öffentlichkeit für alle her und kontrollieren sie zugleich. Doch sich selbst halten sie bedeckt. Wie die Allmacht der Kirche durch die »Geheimnisse des Vatikans« geschützt war, verbergen die Cybermultis sich selbst, als ungreifbare, undurchschaubare Organisationen. Sie sind das rastlos schlagende Herz der Finsternis im unergründlichen Raum des Digitalen.

      Die Big Five sind Multis, weil sie, im ursprünglichen Sinn, multinational operieren. Sie sind aber auch Meister der Multiplikation. Was sie auf kleinstem Raum entwickeln und auf Mikrochips nach außen vermitteln, multipliziert sich zur gigantischen Dimension des Globalen. Man nennt diese Hebelwirkung, mit der das Große sich durch das Kleine bewegen lässt, Hyper Scale (Hypermaßstab). Nur eine relativ kleine Zahl hochqualifizierter Mitarbeiter ist nötig, um der digitalen Infrastruktur ständig ein neues Gesicht zu verleihen. Eine solche Umsetzung kleiner Investments in riesige Marktmacht und nie gesehene Gewinne bildet den Wunschtraum jedes Unternehmers. Im Silicon Valley ist er Wirklichkeit geworden.

      Die Cybermultis haben nicht die ganze Welt unter Kontrolle. Sehr wohl aber die Welt, die mit der Welt kommuniziert. Sie geben ihr sogar die Zeichen vor, mit denen sie mit sich korrespondiert. Der Unicode sagt exakt, wie man sich ausdrücken muss, um verstanden zu werden. Sämtliche Schriftzeichen, die im digitalen Raum Gültigkeit besitzen, werden hier festgelegt. So umzäunt man den Bereich, in dem die Milliardenkundschaft sich austoben darf. Das Team, das der Weltkommunikation ihre verbindlichen Formen verleiht, tagt unweit von Stanford und legt den Code fest. Der hier definierte Zeichenstandard hat weltweite Geltung. Wer im Internet schreibt, folgt ihm. Da alle Tastaturen darauf eingestellt sind, bleibt ihm auch keine Wahl. Der Google-Mann Mark Davis, der an der Stanford University in Philosophie promoviert hat, präsidiert dem Konsortium des Universal Coded Character Set, das der Welt das Schreiben beibringt.

      Nicht nur Buchstaben und Zahlen finden sich in den Unicode-Standards. Auch die Piktogramme, die man Emojis nennt, sind hier gelistet. Entwickelt für die Kurztext-Dienste, wirken diese Smiley-Gesichter wie Hieroglyphen aus dem Kinderzimmer. Hatte sich einst die Sprache aus Symbolen erhoben, sinkt sie mit den Emojis in die Bilderwelt zurück. Mit lachenden, weinenden, zornigen, Zähne oder Zunge zeigenden und tausend anderen Fratzen erspart man sich umständliche Gefühlsbeschreibungen. Wo einst Sprache war, herrschen Mondgesichter. Dank dieser Kinderfibelsymbolik werden weltweit alle Emotionen auf den kleinsten gemeinsamen Nenner gebracht. Und die Menschen gleich mit.

      Die fünf Giganten, die der Welt ihre Ausdrucksmöglichkeiten vorgeben, zählen zu den mächtigsten Corporations der Welt, ihre Gründer zu den reichsten Menschen. Deshalb ihre demonstrative Bescheidenheit. Sie selbst nennen sich High Tech, also Hohe Technik, wie man früher von der Hohen Priesterschaft sprach. Hoch, das heißt, über den anderen, über der Welt. Dabei erwecken sie bei ihrer weltumspannenden Kundschaft den Eindruck, als stünden sie ihnen mit Leib und Seele zu Diensten.

      Das Eroberungsrezept des Silicon Valley bestand darin, die Welt über den Tisch zu ziehen, indem es ihr einredete, es sei eine neue Art von Umarmung. So konnten die Big Five ihre internationale Präsenz unbehindert ausbauen und Milliarden Kunden einsammeln. Zur Umarmungsstrategie gehörte es, das eigene Billionenvermögen als unbeabsichtigten Nebeneffekt darzustellen. Auch gelang es den Big Five, das Negativ-Image der klassischen Großunternehmen zu vermeiden. Ihre Fassade, die bis heute über die realen Machtverhältnisse hinwegtäuscht, gibt nicht die Wirklichkeit dieser Hochleistungsmaschinen wieder, sondern das entspannte Lebensgefühl der San Francisco Bay Area. Während ihre Denkmaschinen heißlaufen, sind sie cool bis ans Herz.

      Auch für die amerikanische Journalistin Rana Foroohar bahnte sich Ende des 20.Jahrhunderts ein Bruch in der kalifornischen Computerwelt an. Anfangs sei alles von der Hippie- und Freiheitskultur der amerikanischen Studentenbewegung beeinflusst gewesen. »Schon im buntstiftbunten Google-Logo«, so die Financial Times-Journalistin, »zeigte sich der lebensfrohe, idealistische Geist des Unternehmens«13. Um dessen humanistische Ausrichtung zu betonen, lautete der erste Satz der offiziellen Firmenphilosophie, Don’t be evil (Tu nichts Böses). »Heute erscheint dies Motto«, so Foroohar weiter, »wie ein drolliges Überbleibsel aus den Anfangsjahren des Unternehmens«. Ihrem Buch über den moralischen Niedergang des Silicon Valley gab sie denn auch den Untertitel »Wie Big Tech seine ursprünglichen Prinzipien verriet«. 2015 ließ Google, nun eine Weltmacht, auch das verräterische Motto »Tu nichts Böses« fallen und ersetzte es durch das unverfängliche, weil sinnfreie Do the Right Thing (»Tu das Richtige«).

      Den Ausgangspunkt der digitalen Weltrevolution hatte die Mikroelektronik gebildet, die vom militärisch-industriellen Komplex im Kalten Krieg entwickelt worden war. Doch die Studenten, die von Krieg nichts mehr wissen wollten, verfolgten das entgegengesetzte Ziel. »Statt sich in der Politik zu engagieren«, so die US-Historikerin Margaret O’Mara, »wollten sie Computer bauen, mit denen man dem Militär, den Universitäten und den Corporations die Macht entziehen würde, um sie in die Hände der Nutzer zu legen.« Man hoffte, dass die Computerrevolution für die Völker den Durchbruch zu einer neuen Gemeinschaft brächte. Die Technik, so O’Mara, sollte »die saubere und schöne Lösung für alle Probleme« der Menschheit bieten. »Heute lachen wir darüber.«14

      Der Geist, der damals an Amerikas Universitäten herrschte, hatte auch Stanfords junge Technikgenies erfasst: Für sie stand nicht die kommerzielle Verwertbarkeit im Mittelpunkt, sondern die Chance für die Menschen, Kriege zu vermeiden und einander näherzukommen. Die Ergebnisse der Wissenschaft sollten allen zugänglich sein, das teure Telefon sollte durch die kostenlose Internetverbindung abgelöst werden. Endlich würde die ganze Welt im eigenen Zimmer abrufbar sein. »Mit der Computertechnik«, so der Computerpionier Alan Kay vom Xerox Parc, »wollten wir die Welt zu einem besseren Platz machen«. Tatsächlich schienen mit der Cyberwelt die Ideale der Französischen Revolution, Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit, endlich erfüllt: Jeder hat die Freiheit, sich mit allem und allen in Beziehung zu setzen. In der Kommunikation wiederum herrscht absolute Gleichheit. Und dank weltumspannender Social Media ist Brüderlichkeit nicht länger nur Utopie.

      Bald zeigten sich die Schattenseiten: Die Freiheit bot auch Freiheit zum Missbrauch. Die Gleichheit hob auch den Unterschied von Wahrheit und Unwahrheit auf. Und die solidarische Gemeinschaft blieb auf den virtuellen Bereich


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