Verloren im Cyberspace. Joachim Köhler
geradezu förderte, sollte sich erst später erweisen. Es war der Erfinder des World Wide Web, Tim Berners-Lee, der im November 2019 vor dem »digitalen Schreckensszenario« warnte, das sich für die Zukunft abzeichnete. Sein Appell gegen Desinformation, Hassrede, Zerstörung der Privatheit und Ausbeutung der Nutzer wurde, wie könnte es anders sein, auch von den einschlägigen IT-Firmen (IT gleich Information Technology) unterzeichnet. Denn einem Gegner zuzustimmen, war schon immer die eleganteste Art, ihn loszuwerden.
Im Silicon Valley spricht man nicht gern über das hässliche Gesicht des Massenmediums. In ihren öffentlichen Äußerungen bleiben die Superstars ihrem Weltverbesserungoptimismus treu. Ständig wird betont, wie sehr für sie der Mensch im Mittelpunkt stehe. Das höchste Ziel sei es, immer mehr Menschen die Freiheit zu schenken, sich in freundschaftlichen Austausch miteinander zu bringen. Für Mark Zuckerberg verdient sein Unternehmen Facebook wegen dieses hehren Ziels geradezu den Ehrentitel einer »Kirche«: Kirche der Freiheit, des Humanismus, der Völkerfreundschaft, der Weltenharmonie. Und es wird dem Mann mit dem unsicheren Auftreten eines Schülers auch noch abgenommen. Seine App »Newsfeed« erhebt laut Facebook den Anspruch, der Allwissenheit ganz nahe zu kommen: Man will, so sagt Zuckerberg, den »richtigen Menschen« die »richtigen Inhalte« zur »richtigen Zeit« anzeigen. Zwar bleibt es den Usern (Nutzern) überlassen, was ihnen jeweils als »richtig« erscheint, aber die Auswahl wird von Facebooks Supercomputern generiert.
Die Methode, die punktgenaue Informationen liefert, heißt Data Mining. Diesen Prozess kann man tatsächlich, wie der Name andeutet, mit der Ausbeutung eines Daten-Bergwerks vergleichen. Analysiert wird der Ertrag mittels Algorithmen. Diese komplizierten Rechenanweisungen organisieren und filtern unvorstellbar große Datenmengen. Mittels automatischer Handlungsanweisung wird die Datenmasse über eine Vielzahl von Schritten analysiert und zugeordnet. So entsteht ein Mehrwert aus den Daten, der vorher nicht abzusehen war. Die chaotische Masse macht plötzlich Sinn. Algorithmen räumen auf. Sämtliche gespeicherten Informationen eines bestimmten Gebietes werden durch einen mathematisch-statistischen Prozess geschleust, an dessen Ende das gewünschte Produkt steht. Das kann etwa die Antwort auf eine »Google«-Anfrage liefern oder die Eingrenzung der Menschen, die für die Empfehlung einer Ware oder eines Politikers besonders empfänglich sind. Da es nicht »die« Antwort, sondern immer eine Vielzahl davon gibt, errechnet der Algorithmus exakt die für den Fragenden geeignetste, für den werbenden Unternehmer oder Politiker wirksamste und zugleich für das eigene Unternehmen profitabelste.
Der Algorithmus wurde zuerst in der industriellen Warenproduktion angewandt: Statt Informationen ging es hier um ein Programm für konkrete Montageschritte, mit denen ein Werkstück zusammengebaut wurde. Im 19. Jahrhundert nannte man das »Rationalisierung«. Erst durch sie wurde Fließbandarbeit möglich. Auch hier entsteht über eine Vielzahl kleiner Schritte, von denen jeder an sich sinnlos ist, ein sinnvolles Ganzes, das Produkt. Dagegen lässt sich die Frage, inwieweit dieses selbst »rational«, also vernünftig ist, durch keinen Algorithmus feststellen. Denn über den Sinn einer Sache kann allein der Mensch entscheiden, dem freilich in der Industrieproduktion wie in der Informationsverarbeitung nur noch eine dienende Funktion zugeteilt ist. Wobei er, wie Charlie Chaplin schon 1933 in »Moderne Zeiten« demonstrierte, meist einen Schritt zu spät kommt.
Ein Problem des Algorithmus besteht in der Qualität der Informationen, die man ihm zur Bearbeitung liefert. Sind die Daten inkorrekt, stimmt auch seine Antwort nicht. Gerade in den Social Media dürften die Daten nur selten mit der Wirklichkeit übereinstimmen. Was zur Folge hat, dass auch die Antworten, die der Computer gibt, nicht vollständig zutreffen. Da diese aber auf die Nutzer wie normative Werte wirken, bestärkt das Medium die Täuschung der Masse über sich selbst. Es ist eben nicht die Wahrheit, mit der die User sich vor anderen und sich selbst interessant machen, sondern, laut Facebook-Mitgründer Chris Hughes, »das, was sie sein wollen«.
Der YouTube-Algorithmus etwa zieht alles ins Kalkül, was der Nutzer je hoch- und heruntergeladen hat. Daraus ergibt sich ein Profil, das bei jedem neuen Aufrufen einer Seite aktiviert wird: Es werden nur solche Videos angeboten, die den Nutzer interessieren müssen. Teils genau zum Thema, teils scheinbar abseitig, aber eben doch für ihn geeignet. So wird er »im Spiel« gehalten. Er muss nicht einmal aktiv werden, kann seinen Fingern einmal Ruhe gönnen. Denn die Clips spielen von selbst ab, einer nach dem anderen. Damit es nicht langweilig wird, gibt es Werbeunterbrechungen, die der jeweiligen Stimmungs- und Interessenlage angepasst sind. Denn YouTube weiß, was der YouTuber will. Und besser als er selbst.
2. Kapitel
Im Reich der Milliardäre
»Die Menschen, die uns konditionieren,
sind keine schlechten Menschen.
Sie sind gewissermaßen
Menschen, die ihren eigenen Anteil
an der traditionellen Menschheit
geopfert haben, um entscheiden zu
können, was ›Menschheit‹ in
Zukunft bedeuten soll.«15
C. S. Lewis, 1943
»Mit Ausnahme von biologischen
Viren gibt es nichts, was sich
mit derartiger Geschwindigkeit,
Effizienz und Aggressivität
ausbreitet wie diese Technologieplattformen.
Und dies verleiht
auch ihren Machern, Eigentümern
und Nutzern neue Macht.«16
Eric Schmidt, 2013
»Zerreißen, zerbrechen, zerschlagen«
Was im Internet geschieht, wirkt ebenso unwiderstehlich wie unverzichtbar. Unter anderem, weil es immer den attraktiven Stempel der Neuheit trägt. Es glänzt wie eine frisch geprägte Münze. Alles, was online auftaucht, wirkt so neu, dass man vergisst, was man zuvor als »neu« bezeichnet hatte. Das Alte kommt einem vor, als wäre es nie neu gewesen. Oder überhaupt nie gewesen. Denn der Übergang vom einen zum anderen findet in höchster Eile statt. Die Aufmerksamkeit, die man dem frisch Eingetroffenen zollt, überlagert die Erinnerung an das Entschwundene. Wer sich dieser Dynamik verschließt, ist bald selbst Vergangenheit.
Der Strom von Real News und Fake News, von Inventionen und Innovationen fliegt rasend schnell an ihm vorbei. Wer nicht mit rast, wird überrollt. Dem User kommt schon bald die Fähigkeit abhanden, auf Neues nicht zu reagieren. Es scheint ein Wert an sich zu sein. Alles, was auf dem Schirm erscheint, birgt eine offene oder versteckte Aufforderung, Stellung zu beziehen. Am besten durch eine schnelle Antwort. Dieses zwanghafte Reagieren-Müssen lässt sich auch bei überaktiven Kindern beobachten.
Nichts ist es selbst, sondern alles nur Trigger für Anderes. Die Trigger Function (Auslöserfunktion) des Cyberspace drückt sich auch im Startup aus. Dieser Begriff für »hippe« Firmengründungen bedeutet nicht nur, dass etwas Neues gestartet wird, denn das geschieht ständig. Sondern auch, dass man schneller als andere auf eine Marktlücke oder eine Neuentwicklung reagiert. Erfolgreiche Startups lassen sich häufig von einem der Silicon Valley-Giganten mit einem Milliardenscheck aufkaufen. Irgendwie ist es auch stimmig, denn die ursprüngliche Heimat der Hightech-Startups war nun einmal das liebliche Tal. Seitdem gilt auf der ganzen Welt die Devise: »schafft zwei, drei, viele Silicon Valleys«. Die Reaktionsschnelligkeit gleicht in gewisser Weise dem Klickverhalten im Netz. Alle sind vom Fomo (Fear of Missing Out) verfolgt, der Angst, etwas zu verpassen. Wer zu spät kommt, den bestraft der Markt. Kommt die Novität an,