Verloren im Cyberspace. Joachim Köhler
in den Cyberspace eintritt, wird überwältigt vom unendlichen Angebot kostenfreier Informationen. Dass er zugleich von Verkaufsgenies überlistet wird, fällt dabei nicht auf. Keine Information kommt ohne diese dreiste Invasion aus. Jede Website dient sich dem Besucher als Auskunftsmittel an. Zugleich zieht sie über den Benutzer die eigenen Auskünfte ein. Dies wiederum erfolgt mittels Tracking (Spurenlesen). Der Begriff wird im Militärischen für die Feindaufklärung verwendet. Jedem Nutzer ist ein Verfolger auf der Spur. Er beobachtet ihn aus dem All, schaut ihm beim Texten über die Schulter und notiert alles mit, was sein Opfer schreibt und seinem Smartphone anvertraut. Und selbst was er ihm nicht explizit anvertraut, lässt sich implizit mittels Algorithmen erschließen. Wer verfolgt wird, fühlt immer auch den Doppelsinn des Wortes: Jemand folgt einem, und jemand ist hinter einem her. Was man online mit dem harmlosen Begriff Tracking bezeichnet, heißt im wirklichen Leben Stalking. Dieser Alptraum im wirklichen Leben gehört im Cyberspace zur Routine. Zum Glück merkt man es nicht.
Über jeden Nutzer oder vielmehr seinen digitalen Doppelgänger wird automatisch ein Protokoll erstellt. Hauptindizien sind dabei seine Mausklicks. Er selbst ist die Maus, mit der Verhaltensforschung betrieben wird. Der Lauf des Cursors (Mauszeigers) oder des Eingabefingers über den Bildschirm wird ebenso verfolgt wie die hin und her bewegten Augen des Versuchsobjekts. Denn wo eine Webcam lauert, wird auch Eye Tracking betrieben. Aus den Bewegungen der Augäpfel lassen sich die unterbewussten Prioritäten des Nutzers ablesen. Dasselbe gilt auch für die anderen Bewegungen und Lebensäußerungen. Sie alle liegen unter der digitalen Lupe.
Das beim Tracking gesammelte Wissen wird umgehend angewandt. Was der User zufällig im Netz entdeckt, ist für ihn dort platziert worden, damit er es zufällig entdeckt. Auch jene, die es wissen, vergessen im Eifer ihres täglichen Goldschürfens, dass es sich meist um Katzengold handelt. Gerade weil man immer wieder fündig zu werden glaubt, geht der Eifer in Sucht über. Der Cyberspace ist ein Nervengift, das abhängig macht. Entsprechende Entziehungskuren sind noch nicht erfunden. Sie hätten auch wenig Sinn. Der Rückfall würde schon am ersten Tag eintreten, wenn nämlich der Online-Kranke sein Smartphone einschaltet, um den Begriff »Smartphone-Entziehungskur« zu googeln.
Werbung wird bekanntlich in Form von Kampagnen durchgeführt. Beide Begriffe, Strategie wie Kampagne, stammen aus der Militärsprache. Der Stratege ist der Planer eines kriegerischen Feldzugs (Campaign). Früher versammelten sich die Truppen unter einer bunten Heerfahne, Banner genannt. Geht es in den Krieg, marschiert das Tuch vorweg. Der Schlachtruf der englischen Ritterarmeen lautete: Banners advance! (Banner voran!) Ist der Sieg errungen, wird das Banner mit dem Wappen des Siegers in den Boden gepflanzt.
Das Internet ist heute der Versammlungsort der Banner der Anzeigenfirmen. Kaum eine Website findet sich, auf der keine solche Heerfahne mit dem Firmenwappen, genannt Logo, aufgepflanzt wird. Oft wartet die Seite sogar, bis sich ihr Werbebanner entfaltet hat. Jede Anzeige führt Krieg um die Aufmerksamkeit der User. Hat sie diese gefangen genommen, bleibt der Besiegte zumindest mit seinen Daten tributpflichtig.
Eine wichtige Rolle in diesem Krieg spielt die Strategie, mit der die Werbebotschaft an den richtigen Mann gebracht wird. Man nennt sie Targeting. Ebenfalls ein Begriff aus der Militärsprache, der bedeutet, jemanden zum Ziel (Target), etwa eines Geschosses, auszuwählen. Im Internet ist dieses Geschoss die Anzeige. Je enger die Werbung den Kundenkreis zu definieren vermag, umso zielgenauer wirkt das Targeting. Hat man im Internet ein Produkt gekauft oder auch nur gegoogelt, werden für dies und ähnliche Waren automatisch die Banner gehisst.
Wer sich einmal über eine spezielle elektrische Zahnbürste informiert hat, wird auf unabsehbare Zeit von einer Kaufempfehlung für diese spezielle elektrische Zahnbürste heimgesucht. Gleichgültig, ob man nun wegen eines heftigen Elektrische-Zahnbürsten-Überdrusses zur analogen Zahnbürste zurückgekehrt ist oder die beworbene Zahnbürste tatsächlich erworben hat, wird man weiter vom Geist der elektrischen Zahnbürste verfolgt. Der amerikanische Medienkritiker Marshall McLuhan prägte dafür den Begriff, die Botschaft werde »einmassiert«. Im totalitären Staat leistet das die Gehirnwäsche.
Die Datenstaubsauger, denen alles gratis in den Rüssel geworfen wird, nennen sich Suchmaschinen. Während der User sich selbstvergessen durch das Website-Universum klickt, schreibt eine Software mit. Sie arbeitet die Ware für die Werbebranche auf. Wer googelt, wird feilgeboten. In Echtzeit. Adressenhändler hat es immer gegeben. Stillschweigend hat man akzeptiert, dass Name, Wohnort, Straße und, wer weiß, was noch, gesammelt und gespeichert und verkauft wird. Jetzt gibt es die Identitätshändler, für die eine Adresse, verglichen mit den zusammengerafften Vorlieben, Charakterzügen, Freundschaften und Ortsbewegungen, nur eine Marginalie ist. Auch deutsche Firmen sind am Geschäft mit dem Menschenhandel beteiligt.
Die Gütersloher Firma »AZ Direct« etwa hat, laut eigenen Angaben, rund 70 Millionen Mitmenschen im Angebot. Über jeden von ihnen stehen dem Käufer 250 verschiedene Lebensdetails zur Verfügung. Die Firma bezeichnet diese Methode als Multi Channel Marketing. Mit anderen Worten, man schießt aus allen Rohren. Zugleich generiert man laut Eigenwerbung laufend Neukunden, die man per Direct Mail, E-Mail Marketing, Display Advertising, Videoclips und bezahlten Social Media Postings zum Kauf animiert. Und jeder Werbetreibende kann sicher sein, dass er auf diesem Sklavenmarkt der Daten das Richtige findet.
Unerwünschte E-Mail-Botschaften verstopfen den Briefkasten und stehlen einem die Zeit. In seiner Hässlichkeit verrät der Name alles: Spam ist die Laus im Pelz, gegen die es nur ein Pulver gibt, den Spamfilter. Aber auch er kann nicht jeden Eindringling abwehren. Die Herkunft der dreisten Besucher lässt sich ohnehin nicht feststellen, da Spam meist von einem zwischengeschalteten Proxy Server anonymisiert wird, der die wahre Adresse vertuscht. Der Clou dieser aus dem Nichts auftauchenden Werberundschreiben besteht darin, dass sie mittels Adressdateien jedes Opfer ihrer Botschaft persönlich ansprechen. Viele fühlen sich dann angesprochen, dies auch persönlich zu lesen. Dabei lesen gleichzeitig zahllose Andere dasselbe. Oder sie werfen es weg. Nur dass dies Wegwerfen nicht so einfach ist. Meist bleibt ein Cookie im Computer zurück, das die Verbindung zur anonymen Quelle hält. Wer darüber hinaus den getürkten Anhang öffnet, hat damit meist dem Massenversender die Kontrolle über seinen Computer abgetreten. Zum Glück weiß man auch das nicht.
Generell trickst das Datenmanagement der Suchmaschinen jeden User aus. Sie bieten geborgten Wissensgewinn gegen profitablen Wissensertrag. Für sich. Wer mit der Suchmaschine etwas sucht, wird zuvor schon von dieser gesucht. Ihre Antworten antizipieren seine Frage. Und das heimliche Interesse, das sich dahinter verbirgt. Der Nutzer gehört der Maschine, die er zu benutzen glaubt. Besteht die Aufgabe der Werbung darin, den Kunden von seinem Geld zu trennen, so bewirkt die Online-Beeinflussung, den Menschen von sich selbst zu trennen. Der posthumane Mensch ist der von sich selbst getrennte Mensch. Er ist noch er selbst, aber was dieses Selbst bedeutet, erfährt er nur online. »Das Paradoxe ist«, schreibt Jan Heidtmann, »dass sich der Mensch selbst zum Untertanen degradiert.«25
Damit Werbung möglichst nachhaltig auf den Nutzer einwirkt, muss sie, nicht anders als Spam und alle anderen Zumutungen, häufig wiederholt werden. Hat beim ersten Mal der Intellekt Einwände dagegen erhoben, wird der Mensch durch Gewöhnung immer vertrauter damit. Bis das Produkt zum Bestandteil des eigenen Lebens geworden ist. Kauf und Konsum sind dann unvermeidliche Konsequenzen. »In jeder Hightech-Plattform«, so der ehemalige Google-Manager Tristan Harris, »arbeitet eine ganze Armee von Ingenieuren daran, dass der Nutzer online mehr Zeit verbringt und mehr Geld ausgibt.«26
Facebook versteht sich besonders gut auf das Micro Targeting, den gezielten Angriff auf klar definierte »kleine« Bevölkerungsgruppen. 2017 wurden Dokumente des Cybermultis geleakt, wonach Manager ihren Werbekunden erklärten, wie sie zu ihren aufschlussreichen Informationen kommen. Durch Überwachung von Postings, Interaktionen und Fotos etwa können sie den seelischen Zustand der jugendlichen Nutzer analysieren. Ziemlich exakt lässt sich feststellen, »ob die Teens sich unsicher, nutzlos, gestresst oder als Totalversager fühlen«.
Computer mit künstlichen neuronalen Netzen können auch Affekte wie Angst, Scham oder Begeisterung erkennen, in Echtzeit und mit hoher Trefferquote. Augenblicklich kann die Werbung mit Anzeigen zuschlagen, die »genau auf diese verletzlichen Momente