Verloren im Cyberspace. Joachim Köhler
die Gewinne bleiben bei dem, der die richtige App anbietet.
Diese fast materielosen Agenturen des globalen Philanthropismus haben nicht nur das Recht, sondern die Pflicht, sämtliche ihrer Kräfte auf Profitsteigerung zu richten. Darin liegt das Prinzip der Corporations, darauf basiert ihr Selbstverständnis. Ein Ungeheuer wie Amazon, das quasi spielerisch sämtliche Warenhäuser und Einzelhandelsgeschäfte der Welt zu Eckenstehern degradiert, hat nichts anderes im Sinn als seine Opfer es haben: Profite erzielen. Der neoliberale Ökonom Milton Friedman ging sogar so weit, diesen Hauptzweck der inkarnierten Gelddruckmaschinen zum moralischen Imperativ zu überhöhen. Die Unternehmenschefs, lehrte der Nobelpreisträger, stünden geradezu in der »sozialen Verantwortung«, für die Anteilseigner »so viel Geld wie möglich«33 zu erwirtschaften.
Da für die Geschäftspraktiken allein »Mister Corporation« verantwortlich zeichnet, können dessen teilhabende Besitzer ihre Hände in Unschuld waschen. Das gilt auch für die Tabakindustrie, die ihr Geld mit der lebensgefährlichen Sucht verdient. Nicht weniger gilt es für die Pharmafirmen, die mit angeblich ungefährlichen Schmerzmitteln Milliarden scheffeln, indem sie Millionen in Abhängigkeit bringen. Dank eines heroinartigen Wirkstoffs sind in den letzten 20 Jahren rund 200.000 Amerikaner an solchen legalen »Opioiden« gestorben. Auch jene Unternehmen können ein gutes Gewissen haben, die für ihre eigenen Arbeitnehmer, die sich krank gearbeitet haben, heimlich Lebensversicherungen abschließen. Die Prämie wird im Todesfall an die Firma, nicht die Familie ausgezahlt.
Die »Verkörperung« eines rigorosen Profitstrebens verleiht dem Begriff Corporation seine wahre Bedeutung. Voraussetzung ist allerdings, dass sie auch eine Verkörperung des Innovationsgeistes bietet. Produkte sind gut, neue Produkte sind besser. Die zwar erfinderische, aber immer einseitige Ausrichtung auf Gewinnsteigerung wird durch eine weitere Konsequenz problematisch. Sie ergibt sich aus dem Personenstatus dieser Unternehmen: Diese können nach Macht und Geld streben, wie und so viel sie wollen, aber ohne die negativen Konsequenzen tragen zu müssen. Im Gegensatz zu jedem Staatsbürger, der für seine Handlungen verantwortlich ist, haften die Anteilseigner nicht für das Ganze, mit dem sie ihr Vermögen verdienen, sondern nur für ihre persönlichen Einlagen.
Als fatal für die Gesellschaft erweist sich die Corporation im Worst Case Scenario, dem Firmen-GAU: Geht das Unternehmen bankrott, haben die Banken, die Gläubiger, die Mitarbeiter das Nachsehen. Dagegen verlieren die Anteilseigner höchstens ihren oft bescheidenen oder auch nur geliehenen Eigenanteil. Der große Schaden bleibt an einer Person hängen, die es nicht gibt. Und plötzlich ist auch nicht mehr die Rede von deren personhaftem Wesen und ihrer Corporate Identity. Was von der Markensolidarität bleibt, ist eine flüchtige Fiktion, zusammengesetzt aus willkürlichem Firmennamen und verödeten Produktionsstätten. Oder es kommt beim sogenannten Corporate Bail Out zur staatlichen Rettung mit Steuergeld.
Dies ist das Janusgesicht der Corporations: Was beim Verfolgen der Eigeninteressen noch bürgerliche Privilegien genoss, verflüchtigt sich, sobald Schäden an Mensch oder Natur verursacht werden. Aus finanziellen Gründen hat man etwas dagegen, »sich den Schuh anzuziehen«. Stattdessen löst man das Problem durch Externalizing, frei übersetzt, »man macht es zu anderer Leute Problem«. Die meist ökologischen Negativfolgen der Produktion werden externalisiert, damit der Gewinn den Anteilseignern unvermindert zufließen kann. Verantwortung ist ein gern gemiedenes Profithemmnis, gegen das sich eine ganze Zunft von Firmenanwälten stemmt. Tritt ein Totalschaden ein, löst sich die Körperschaft schlagartig in ihre Einzelteile auf. Wird das Restvermögen liquidiert, darf sich niemand wundern, dass die ersten Nutznießer dieser Erbmasse nicht die Gläubiger, sondern die Anteilseigner sind. Da sie das geringste Risiko trugen, sollen sie auch den geringsten Nachteil erleiden.34
Bei dem oft irreparablen Schaden, den die Gesellschaft zu tragen hat, denkt man zuerst an die Umweltverschmutzung. Doch ähnlich fatal wirkt sich das Externalisieren auf die »Innenweltverschmutzung« aus: Die Folgen des Rauchens wurden von der Industrie anfangs geleugnet, ja, vom Erfinder der Public Relations, Edward Bernays, sogar als gesundheitsfördernd dargestellt. Bewusst fügte man dem Tabak Zusatzstoffe bei, mit denen die Suchtwirkung verstärkt wurde. Zur Rede gestellt, gab man sich ahnungslos. Die verlorenen Prozesse und Milliardenstrafen in den USA haben die Zigarettenkonzerne nicht weiter beeindruckt. Der Krebs tötet den einzelnen Menschen, aber die Gesellschaft beraubt er: Den 14 Milliarden Einnahmen aus der deutschen Tabaksteuer 2019 stehen Ausgaben von 78 Milliarden an Krankheitskosten gegenüber, die an der Gemeinschaft hängen bleiben. Keiner kann bezweifeln, dass es das Prinzip Corporation war, das weltweit die Umwelt beschädigt und den Klimanotstand ausgelöst hat. Es war die pseudomenschliche Jagd nach Profit, schmackhaft gemacht durch ein buntes Produktspektrum, die zum Globalschaden führte. So wurde durch den Golem Corporation die Zukunft der Menschheit aufs Spiel gesetzt.
Aus der Anmaßung, dieser Unternehmensform den Personentitel zu verleihen, ergab sich noch eine andere, vielleicht nicht minder fatale Konsequenz. Das Beispiel der Corporations gab auch den Einzelpersonen das gute Gewissen, sich geschäftsmäßig, modern gesagt: rücksichtslos zu verhalten. Dass die Corporations mit ihrer Version des Pursuit of Happiness Erfolg hatten, wurde zum unwiderstehlichen Anreiz, nun auch selbst das Streben nach Glück in eine atemlose Jagd nach Geld zu verwandeln. Mensch zu sein, ohne menschlich zu sein. So entstand die coole Persönlichkeit, die ganz ihrer Vermögensbildung lebt und sich nicht um deren Konsequenzen kümmert. Zur Corporate Identity gehört eben auch das »Nach uns die Sintflut«.
Einfach märchenhaft
Eines der beliebtesten Märchen der Brüder Grimm ist »Hänsel und Gretel«. Alle Kinder wollen, dass man es ihnen vorliest, so oft wie möglich. Denn an Dramatik ist die Gruselstory kaum zu überbieten, was ebenso für die Betroffenheit der Kleinen gilt: Empörung lösen die treulosen Eltern aus, Verzweiflung die Verlassenheit der Kleinen, die sich im dunklen Wald verirren und, welch bittere Ironie, nach ihren Eltern sehnen. Dann aber taucht ein Hoffnungsschimmer auf: das Licht, das im Dunkel scheint, das wundersame Lebkuchenhäuschen, zu dem ein lieblich singendes Vöglein lockt. Magnetisch angezogen, glauben die Geschwister nun alles gefunden zu haben, was ihr Herz begehrt. Bald ist ihr Heißhunger gestillt, die Lust auf Süßigkeiten befriedigt. Und um das Glück vollkommen zu machen, lädt eine freundliche Alte sie ins Haus ein und bewirtet sie mit erlesenen Speisen.
Dann, wie der Blitz aus heiterem Himmel, entpuppt sich die liebenswerte Alte als böse Hexe, von der die Kinder im Knusperhäuschen der tausend Köstlichkeiten gefangen gehalten werden. Und gemästet. Zwar darf Hänsel nach Herzenslust essen, aber nur, weil er selbst gegessen werden soll. Diese Vorstellung der Messer und Gabel handhabenden Hexe bildet den grässlichen Höhepunkt des kindlichen Mitleidens. Worauf der Showdown zwischen der Unschuld und dem abgefeimten Bösen folgt. Im Augenblick höchster Not, wo für die beiden alles auf dem Spiel steht, tut Gretel das Unerwartete, ja, zuvor ganz und gar Unvorstellbare: Sie stößt die Menschenfresserin in ebenden Ofen, in dem sie selbst mit ihrem Bruder gebraten werden sollte. Und die kleinen Zuhörer klatschen Beifall.
Der User des Internet, dem jeder Wunsch gratis erfüllt wird, befindet sich in ähnlicher Lage wie die Märchenkinder. Er glaubt, dass alle Speisen für ihn allein angerichtet sind. Und wird dabei selbst zur Speise. Man kocht ihn ab, bis er gar ist und für den E-Commerce, den Online-Handel, angerichtet. Oder wie auch Apple-Chef Tim Cook warnte: »Wenn der Service kostenlos ist, dann bist du nicht der Konsument, sondern das Produkt.«35 Dieses menschliche Produkt wird ohne sein Wissen weiterverkauft und von der Werbeindustrie vereinnahmt. Menschen werden zu Einnahmen. Aus der Gefangenschaft im digitalen Lebkuchenhäuschen gibt es auch keinen Ausweg. Einmal gespeichert, immer gespeichert. Wünsche werden einem nicht von den Augen abgelesen, sondern unablässig vor Augen geführt. Dank des Trommelfeuers der Werbung befindet man sich in einer Endlosschleife aus Gier und Sättigung. Sie raubt einem die Freiheit, die man im Netz eigentlich zu finden hoffte.
Jeder einzelne Internetnutzer ist überzeugt, dass ihm alle Wünsche erfüllt werden. Für die meisten entspricht dies ihrer Vorstellung von Freiheit. So bedeutet der American Way of Life, zu kriegen, was man will, und es Freiheit zu nennen. Mit dem Online Shopping wurde die Instant Gratification (sofortige Wunscherfüllung)