Verloren im Cyberspace. Joachim Köhler
und Warenversendern wimmelnde Auslieferungslager sind nicht nach den Waren benannt, die hier prozessiert werden. Sondern nach der Sehnsucht der Menschen, ihrer habhaft zu werden. Die Lager tragen die poetische Bezeichnung Fullfillment Center, was sie auch sind: Zentren der Wunscherfüllung, die jeden Erwachsenen in seine Kindheit zurückversetzen. Die eigentlichen Leistungsträger sind Lastenroboter der Marke Kiva, die von einem Computer, dem Kopf der kopflosen Fahrzeuge, ihre Routen in Millisekunden berechnet bekommen. Ganze Flotten von ihnen tragen, als rollende Plattformen, Warenregale zu den Beschäftigten, die das Gewünschte herausnehmen und verpacken. Dank der rollenden Regalbeweger und einer Armee unterbezahlter Arbeitsmenschen und Ausfahrer trifft die Ware umgehend beim Kunden ein.
Die Cyberwelt lehrt den Menschen, nicht lernen zu müssen. Das nehmen ihm heute die Computer mittels Machine Learning ab. Der Begriff des Lernens, das bei den Menschen immer auch Leben-lernen ist, wird dabei den digitalen Prozessen angepasst. Wenn man von »lernenden Computer« spricht, geht man von der Theorie aus, dass das Lernen, wie das praktische Leben, aus Informationsaneignung besteht. Doch Computer lernen nur das, was man ihnen als Daten eingibt. Oder sie versuchen etwas so lange, bis sie das Richtige gefunden haben. Dann speichern sie den Weg, der zum korrekten Ergebnis führte, und haben etwas gelernt. Das kann der Chip. Mechanisch, automatisch, wartungsfrei. Ohne dabei das Geringste zu begreifen. »Künstliche Intelligenz« (KI) versteht alles, aber begreift nichts.
Heute scheint der Mensch ohne Lernmaschinen nicht mehr leben zu können. Unser Cyber-Alltag ist von ihnen bestimmt. Gibt man bei Google eine Anfrage ein, antwortet einem die Lernmaschine exakt so, wie es auf einen persönlich passt, einschließlich der Werbung, für die man empfänglich ist. Erhält man E-Mails, hat die pseudointelligente Maschine den Spam großenteils herausgefiltert. Möchte man bei Amazon ein Buch bestellen oder bei »Amazon prime« einen Film ansehen, weiß die Maschine ziemlich genau, was einem gefällt, und bietet es automatisch an. Oder bietet es einem so lange automatisch an, bis es einem gefällt. Wer bei YouTube einen Clip aufruft, wird danach mit einer ganzen Springflut von »Das könnte dir auch gefallen«-Streifen überfallen. Mit anderen Worten, der Computernutzer ist der Lernmaschine schon in die algorithmischen Greifhände gefallen, die ihn für die Werbeindustrie zurechtportionieren. Das Maschinenlernen der Computer macht aus dem Menschen selbst eine Lernmaschine. Der Cyberspace bedient ihn und verwurstet ihn zugleich.
Da die Maschine für ihn lernt, muss der posthumane Mensch nichts lernen außer der Bedienung des Geräts. Hier genügt es, zu fragen, um gratis jede erdenkliche Antwort zu erhalten. Es genügt zu bitten, um jedes gewünschte Schauspiel geboten zu bekommen. Man möchte unterhalten sein? Bitteschön. Man lechzt nach sexueller Befriedigung? Nur keine falsche Zurückhaltung. Wozu lernen, wenn einem alles auf dem Silberteller präsentiert wird? Psychologen sehen darin eine Rückkehr in die Zeit, in der das Wünschen noch geholfen hat. Dies ist märchenhaft, nur eben jenseits des wirklichen Lebens.
Für den Vater der Tiefenpsychologie, Sigmund Freud, bedeutete der Zwang zur sofortigen Wunscherfüllung, dass sich der Mensch vom Lustprinzip beherrschen lässt. Dabei meinte er nicht das gewohnte »Darauf hätte ich jetzt Lust«, sondern den sexuellen Erfüllungswunsch, der eigentlich ein Erfüllungszwang ist. Um das Objekt der Begierde zu erlangen, setzt man alles andere hintan, damit sich die gesamte Lebenskraft auf diesen einen Vorgang konzentriert. Dafür fehlt die derart mobilisierte und verschwendete Energie dem Menschen an anderer Stelle und lässt auf Dauer sein Leben verarmen. Er gewinnt die Lust, aber aufs Leben hat er »keinen Bock mehr«.
Der moderne Wunscherfüller, der nur auflebt, wenn er online ist, isoliert sich damit vom wirklichen Leben und seiner Vielfalt. Auch die eigene Liebesfähigkeit geht verloren. Wozu der ganze Aufwand mit den anderen, fragt der Cybermensch, wenn ich alles per Mausklick haben kann? Eigentlich zur Selbstbestimmung fähig, wird der Mensch stattdessen in die schnelle Abfolge von Frage und Antwort, Wunsch und Erfüllung, Gier und Sättigung hineingezogen. Man wird kurzfristig befriedigt, aber man lebt nicht mehr. Man lernt nicht mehr. Im schlimmsten Fall schleppt man sich von Sättigung zu Sättigung. Das nennt man Suchtverhalten, und das Internet konditioniert einen dazu. Was wie absolute Freiheit erscheint, man selbst zu sein, ist in Wahrheit der Zwang, den Wünschen zu folgen, die einem suggeriert werden. Und die den User versklaven. Der Rest ist nur noch Selbst-Befriedigung.
Zu einer Selbst-Versklavung eigener Art wird man von Streaming Services wie Netflix, Amazon Prime oder Sky verurteilt, von denen wöchentlich neue hinzukommen. Im Gegensatz zum TV sieht man nicht nach vorgegebenem Programm und muss auch nichts mehr zur späteren Benutzung aufnehmen. Was man möchte, klickt man im Streaming-Dienst an, und zwar so oft man möchte. Am beliebtesten sind die Serien, die mit ihrer Vielteiligkeit bewusst unermüdliche Abhängigkeit schaffen. Die monatlichen Kosten sind geringer als ein Kinobesuch. Das führt dazu, dass alle Altersgruppen sich Tag und Nacht dem Filmrausch überlassen.
Rausch ist das treffende Wort. In Amerika werden die vor allem bei Jugendlichen beliebten Alkoholexzesse Binge Drinking (»Saufen, bis der Arzt kommt«) genannt. Seit es Streaming-Dienste gibt, ist ihm das Binge Watching (»Komaglotzen«) zur Seite getreten. Vom Menschen zur Couch Potato (»Dauerschauer«) mutiert, sieht man sämtliche Staffeln einer Serie im Tag-und-Nacht-Marathon an. Da viele Serien in sieben und mehr Staffeln aufgeteilt sind, die wiederum bis zu einem Dutzend Folgen à 45 Minuten haben, kann sich ein Binge Watching über mehrere Tage hinziehen, und zwar 24/7. Dabei wird der Bildschirm oft in Gruppen umlagert, bei denen der Alkohol nicht zu kurz kommen darf. Die Länge dieses Kollektivrauschs dürfte sich damit der Dauer der dionysischen Feste in der Antike nähern.
Prinzipiell ist die Cyberwelt auf spontane Wunscherfüllung spezialisiert. Sie versteht es sogar, die Wünsche zu erfüllen, noch bevor sie aufgetaucht sind. Softwareprogramme können voraussagen, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Mensch eine bestimmte Entscheidung trifft. So erfüllt das Internet auch den Wunsch nach neuen Wünschen. Und schafft täglich, stündlich neue Begehrlichkeiten, die in sich selbst schon Erfüllung sind, insofern sie den nimmermüden Wunsch nach Neuigkeit erfüllen. Salzwasser macht Lust auf Salzwasser. Wenn Freiheit gleichgesetzt wird mit Wahlfreiheit, die wiederum mit der Wunscherfüllung vollendet ist, dann hat die Menschheitsgeschichte mit dem Cybermenschen ihr höchstes Ziel erreicht. Er kann alles. Nur ist er kein Mensch mehr. Er scheint die Wirklichkeit nicht mehr zu brauchen. Auch nicht die der eigenen Körperlichkeit, die ihre Vergänglichkeit nicht ablegen will. In seinem Körper sieht der User nur noch das Werkzeug, mit dem er Tastatur, Maus oder Touchscreen bedient, das Schlüsselwerkzeug seines Universums. Dank dessen Hilfe verfügt er darüber, aber über sich selbst verfügt er nicht mehr. »Wer überall ist«, sagte der Philosoph Seneca, »der ist nirgendwo.«36
Im Internet kann man sich alles wünschen und kriegt meist etwas Passendes. Ob man genau das bekommt, was man sich erwartet, ist eine andere Frage. Oft wird einem nur suggeriert, dass die Antwort der Suchmaschine oder die Ware des Online-Handels exakt dem entsprechen, was man bestellt hat. Google bietet als Antwort zuerst einen Werbelink. Amazon sendet meist korrekt, aber oft ist es nur eine täuschend echte Kopie. Meist wird das nicht einmal bemerkt, und wenn, dann ignoriert man es, weil der richtige Markenname darauf steht. Und auf das Äußerliche kommt es an. Bei vielen Produkten zählt nicht, was drin ist, sondern was draufsteht. Die Parallele zum Social Media-Nutzer lässt sich nicht übersehen.
Längst hat die Cyberwelt auch vom öffentlichen Raum Besitz ergriffen. Das Checken, Surfen, Skypen, Gamen, anfangs auf die eigenen vier Wänden beschränkt, hat die Straßen und Plätze der Städte, die Parks, Einkaufspassagen und Bahnhofshallen, selbst die Friedhöfe erobert: Menschen aller Altersstufen laufen mit dem Internet in der Hand herum. Statt ihre Identität im Hier und Jetzt wahrzunehmen und mit der Gegenwart auch die Möglichkeit zur Geistes-Gegenwart, starren sie in den Cyberspace, der sie aus Zeit und Raum, Hier und Jetzt, entführt. Das Smartphone ist der Taschenspiegel, in dem sich das kleine Ich unendlich vergrößert sieht. Die mickrige Alltagswelt ist verschwunden, ein unendliches Wolkenkuckucksheim bietet sich einem an. In Echtzeit, jetzt. Und zwar alles, das große Ganze dem kleinen User. Der viel zu beschäftigt ist, um sich selbst weiterentwickeln zu können. An sich zu arbeiten, ist ohnehin überflüssig. Denn bildschirmperfekt ist man schon.
Was zuerst der Mensch ist, der in den Spiegel schaut, wird dann zum Spiegel, der in den Menschen schaut. Dort