Verloren im Cyberspace. Joachim Köhler

Verloren im Cyberspace - Joachim Köhler


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rel="nofollow" href="#u96db6e11-a724-43ab-9b39-d123cc9ad9b5">Der kleine und der große Tod

       Die Maschine steht still

       20. Kapitel: Von der Gelassenheit

       Das Geheimnis des Nicht-Tuns

       Die Stillung des Sturms

       Anmerkungen

       Namenregister

       Einleitung

      Vom Verschwinden des Menschen

       »Wie das Schicksal der Gorillas

       heute stärker von uns Menschen

       abhängt als von den Gorillas selbst,

       so hängt das Schicksal unserer

       Spezies von den Handlungen der

       maschinellen Superintelligenz ab«.6

       Nick Bostrom, 2014

      Die Cyberwelt ist eine Sphinx. Sie zeigt der Welt ihr schönes Menschengesicht, doch ihren Raubtierkörper verbirgt sie. Scheinbar allwissend, bleibt sie doch undurchsichtig und unberechenbar. Aber sie kann einem jede Frage beantworten und jedes Rätsel lösen. Im antiken Mythos war es die Sphinx, die dem Menschen Rätsel vorlegte. Konnte er sie nicht lösen, brachte sie ihn um.

      Irgendwann bringt der Cyberspace jeden zur Verzweiflung. Von den technischen Problemen ganz zu schweigen. Man schmeichelt sich, mit dieser Wunscherfüllungsmaschine anstellen zu können, was immer man will. Aber irgendwann muss man sich doch eingestehen, dass sie es ist, die mit einem anstellt, was sie will. Und keiner weiß, wer sich hinter dieser »sie« verbirgt.

      Die Machtübernahme dieser Technologie begann mit Elektronengehirnen, groß wie Wohnzimmer, die man in den 1950er Jahren als Gipfel menschlichen Erfindungsgeistes anstaunte. Ein halbes Jahrhundert später sind sie zu winzigen Smartphones geschrumpft, die die Fähigkeiten der Wohnzimmerschränke um unvorstellbare Dimensionen erweitern. So verfügt ein gewöhnliches iPhone heute über die 100.000fache Rechenleistung, mit der die Nasa-Computer 1969 die Apollo-Kapsel auf den Mond steuerten.

      Da man die Smartphones immer bei sich trägt, verwandeln sie einen selbst in ein menschliches Elektronengehirn. Das »mobile Endgerät«, das einem die Denkarbeit abnimmt, denkt schneller und weiß mehr, unendlich mehr, als irgendein einzelner Mensch. Rund um die Uhr steht die Taschensphinx mit dem spiegelglatten Gesicht bereit, uns alle Rätsel und endlich das Rätsel des Lebens selbst zu lösen.

      Zukunftsforscher wie Nick Bostrom haben auf das Rätsel Mensch eine eigene Antwort gegeben: Der moderne Computer mit seiner maximalen Leistung auf minimalem Raum, so seine Prognose, stellt nur den Anfang einer Entwicklung dar. Dank ihrer wird sich der Cyberspace, der aller menschlichen Intelligenz überlegen ist, auch von der Intelligenz seiner Erfinder emanzipieren. Vielleicht schon bald dürfte eine »Superintelligenz« entstehen, die sich, ganz ohne menschliches Zutun, selbst weiterentwickelt und in Eigenregie die Kontrolle über das Ganze übernimmt. In ihrer »Allmacht«, so Bostrom, »könnte sie sogar auf eine Weise ins Gefüge der Welt eingreifen, die den Gesetzen der Physik widerspricht«7. Zeichen und Wunder nicht ausgeschlossen.

      Dank freundlicher Patronage durch die Superintelligenz weiß und kann der Mensch, der nach dem Menschen kommt, viel mehr und genießt auch viel intensiver als seine Vorfahren. Aber er hat nichts mehr zu sagen. Schon heute bekommt man einen Vorgeschmack auf diese digitale Deklassierung, wenn man ratlos vor einem Fahrkartenautomaten oder Bankcomputer steht oder einen neuen Laptop in Betrieb nehmen oder das jeweils neueste Elster-Formular ausfüllen möchte. Der Mensch, der dank Computern alles zu können scheint, lernt durch sie und die überall lauernden Automaten, dass er eigentlich nichts kann. Und dass er sich das, was ihm Arbeit ersparen soll, erst mühsam erarbeiten muss.

      Die posthumanen Menschen, deren Intelligenz sich einer superintelligenten Maschine unterworfen hat, wurden schon vor über hundert Jahren beschrieben. Der englische Schriftsteller E. M. Forster hatte damals eine erstaunliche Zukunftsvision, die über alles hinausging, was zu seiner Zeit für möglich gehalten wurde. In seiner Kurzgeschichte »Die Maschine bleibt stehen« (»The Machine Stops«) ist der nachmenschliche Mensch immer noch Mensch, aber er handelt nicht mehr menschlich. Er fühlt auch nicht mehr menschlich. Er kommt ganz ohne Natur aus, er hat sie ja vergiftet, so dass sie nur noch ein kümmerlicher Aussatz der Erdoberfläche ist. Aber wie sich zeigt, geht es auch ohne sie. Dem Tageslicht entzogen und voneinander isoliert, lebt jeder Einzelne in seiner kleinen Welt, die nicht größer ist als eine Zelle. Aber man ist sehr zufrieden damit. Denn von der Misere des Daseins wird man durch prompte Wunscherfüllung und mediale Dauerberieselung abgelenkt.

      Forsters Mensch, der nach dem Menschen kommt, führt ein gespenstisches Schattendasein und weiß es nicht einmal. Ihm fehlt auch die Erinnerung daran, wie er in diese fatale Lage gekommen ist. Und er ahnt nicht, dass er diesen Zustand kaum noch länger aushalten wird. Sein Verschwinden kündigt sich bereits an. Weil er sich jahrhundertelang der Zerstörung der Natur und der Verleugnung seiner eigenen natürlichen Existenz schuldig gemacht hat, ist sein Lebensrecht verspielt. Sein Untergang lässt sich nicht mehr abwenden. Das wird den Menschen erst klar werden, wenn es zu spät ist.

      Der Autor dieser realistischen Prophezeiung, 1879 in London geboren, wurde eigentlich für seine konventionellen, in der Sprache der Jahrhundertwende geschriebenen Gesellschaftsporträts bekannt. Die Romane »Zimmer mit Aussicht« und »Wiedersehen in Howard’s End« wurden zu Bestsellern, die später erfolgreich verfilmt und mit Oscars ausgezeichnet wurden. Dagegen blieb seine Shortstory »Die Maschine bleibt stehen« lange unbeachtet. Vielleicht wurde sie auch bewusst ignoriert, wie man von etwas wegsieht, das man fürchtet.

      Man wollte nicht wahrhaben, dass es sich nicht um Unterhaltungslektüre handelte, sondern um die Vorhersage eines Weltuntergangs. Auch in einem anderen Punkt unterscheidet sich »Die Maschine bleibt stehen« von anderen Sci-Fi-Geschichten: Forster hat nicht einfach ins Blaue hinein fabuliert, sondern offensichtlich etwas gesehen, wovon noch niemand etwas ahnte, ja ahnen konnte. In einer Zeit, in der es weder Computer noch Internet gab und die Männer noch Zylinder und die Frauen Straußenfedern an den Hüten trugen, beschrieb er die Machtübernahme durch die Cyberwelt.

      Forsters Online-Menschen leben in vollautomatisierten und -klimatisierten Zellen unter der Erde. Sie sind Singles aus Überzeugung. Nur ungern verlassen sie ihre kleine Welt. Das ist auch nicht nötig, denn was sie brauchen, wird ihnen gebracht. Da die Beleuchtung ihrer Zellen hervorragend ist, kommen sie blendend ohne Tageslicht aus. Dass die Gesichter der Unterirdischen bleich sind wie Tünche, stört sie nicht. Sie lassen auch keine Kritik an ihrem gespenstischen Leben zu. Gegen jeden, der ihr Rundum-sorglos-Paket samt Social Distancing in Frage stellt, wehren sie sich mit Händen und Füßen.

      Sie lieben dieses Leben nun einmal. Es bleibt ihnen nichts zu wünschen übrig, und anderes bleibt ihnen auch nicht übrig. Denn es gibt nichts anderes mehr. Aber das stört sie nicht. Um nichts in der Welt wollen sie aus ihrer Vereinzelung zurück in die Gemeinschaft. Vor allem lieben sie die unsichtbare Macht, die ihnen alle Mühen des Menschseins abnimmt, einschließlich der des Menschseins selbst. Forster nennt dieses allgegenwärtige Wesen »die Maschine«. Sie ist ein Prototyp von Nick Bostroms »maschineller Superintelligenz«8. Gegen die Geisteskraft dieses Weltcomputers kommt kein menschliches Gehirn an. Aber das will auch keiner: Das voll computerisierte Leben im Schoß der Maschine ist einfach zu bequem.

      Als Forster dies 1909 schrieb, gab es noch keine Bildschirme,


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