Der FC Bayern, seine Juden und die Nazis. Dietrich Schulze-Marmeling
Im Nationalsozialismus wird Gabriele Münter mit einem Ausstellungsverbot belegt. Kandinskys Werke werden zur »entarteten Kunst« erklärt und 57 von ihnen aus deutschen Museen entfernt.
Mit seiner Fußballvernarrtheit steht Kurt Landauer in seiner Familie zunächst allein. In der Kommunikation mit den anderen Familienmitgliedern fehlt es daher häufig an Gesprächsstoff und an gemeinsamen Interessen. Erst einige Jahre später treten auch die jüngeren Brüder Franz und Leo dem FC Bayern bei.
Kurt Landauer beginnt beim FC Bayern als Aktiver, übernimmt aber im Laufe der Jahre mehr und mehr administrative Aufgaben.
Verstärkung aus den Niederlanden
Nicht nur deutsche Juden sind beim FC Bayern willkommen, sondern auch Ausländer. 1902 zieht der aus Arnheim stammende Niederländer Willem Hesselink nach München, um sein Studium der Chemie fortzusetzen. Daheim hat der Sohn eines Weingroßhändlers, der auch Vizekonsul von Spanien war, bereits an der Universität Leiden unter den späteren Nobelpreisträgern Hendrik Anton Lorentz (1902) und Heike Kamerlingh Onnes (1913) studiert. An der Ludwig-Maximilian-Universität wird nun Conrad Wilhelm Röntgen, Nobelpreisträger 1901, zu seinen Professoren gehören.
Wie viele hinzugezogene Studenten vor ihm schließt sich auch Hesselink dem FC Bayern an. Der Neue erweist sich als Glücksfall für den Klub. Mit seinen 24 Jahren bringt er bereits ein enormes Ausmaß an Erfahrung mit – als Spieler wie als Organisator; 1892 zählte er als 14-Jähriger zu den Gründern von Vitesse Arnheim. Hesselink war ein vielseitiger Athlet. Neben Fußball betrieb er noch Cricket, Tauziehen und Leichtathletik. Über eine Meile und im Weitsprung stellte er Landesrekorde auf. Sein 6,20-Meter-Sprung aus dem Jahr 1898 wird erst 1910 übertroffen. Im Tauziehen wurde Hesselink mit seinem Team niederländischer Meister.
1899 schloss er sich der HVV Den Haag an, der Haagse Voetbal Vereniging. Wie Vitesse Arnheim hatte auch der HVV seine Wurzeln im Cricket. Diese Sportart spielt in den Niederlanden und besonders in Den Haag eine wichtige Rolle. Der in den Niederlanden aufgewachsene Schriftsteller Joseph O’Neill lässt in seinem Roman »Niederland« seine zentrale Figur, den Bankier und Hobby-Cricketer Hans van den Broek, über Den Haag und Cricket philosophieren: »Ich bin aus Den Haag, wo sich holländisch bürgerlicher Snobismus und holländisches Cricket, durchaus nicht gänzlich ohne Zusammenhang, am stärksten kon zentrieren.«
Vor dem Ersten Weltkrieg ist die HVV der erfolgreichste Fußballklub der Niederlande. Von 1900 bis 1914 gewinnt sie achtmal die nationale Meisterschaft. Bei den ersten beiden Titeln, 1900 und 1901, ist auch Willem Hesselink dabei. Das in Berlin erscheinende Sportjournal »Sport im Wort« charakterisiert ihn nach einem Spiel der Berliner Preußen in den Niederlanden als »zweifellos gefährlichsten Spieler«. Mehrfach wird er in die Bondselftal berufen, der inoffiziellen Nationalmannschaft der Niederlande.
Ein Ausländer als Star und Präsident
1903 wird Willem Hesselink Präsident des FC Bayern und beerbt in dieser Funktion den Preußen Franz John. Auf dem Feld avanciert er gleichzeitig zum ersten ausländischen Star des Klubs. Daneben agiert das Multitalent auch noch als Trainer.
Sein Studium vernachlässigt er darüber keineswegs. Am 27. Juli 1904 reicht der Bayern-Präsident seine Dissertation ein. Das süffige Thema lautet: »Über die Weine des Weinbaugebietes am Douro, die sog. Portweine«. Es folgt eine Beschäftigung als Doktor der Chemie an der Hohen Philosophischen Fakultät.
Am 14. Mai 1905 läuft Hesselink zum ersten und letzten Mal für die nun offizielle niederländische Nationalmannschaft auf. Es ist das zweite offizielle Länderspiel der Niederlande. Vor 30.000 Zuschauern in Rotter-dam fährt die Elftal gegen Belgien einen späten, aber klaren Sieg ein. Erst in der 74. Minute erzielt Hesselink die Führung. Zweimal Eddy De Neve, Sohn eines Majors der Königlichen Niederländisch-Indischen Armee und in Jakarta aufgewachsen, und der Arnheimer Guus Lutjens erhöhen in den folgenden zehn Minuten auf 4:0, was auch der Endstand ist.
Nach einem Zwischenaufenthalt in Frankfurt/M. (1907-1908) kehrt Hesselink in die Niederlande zurück, wo er in Arnheim ein gerichtsmedizinisches Laboratorium aufbaut und zum Direktor des Gesundheitsamtes avanciert. Hesselink wird Mitglied der Internationalen Akademie für Kriminologie und erwirbt den Ruf eines Experten für Blutanalysen, Fingerabdrücke und Schriftvergleiche. Sporthistoriker Andreas Wittner: »Noch heute kann man sich im Niederländischen Polizei-Museum in Apeldoorn über Dr. Willem Hesselink und seine zahlreichen Erfolge in der Verbrecherjagd informieren.«
Dem Fußball bleibt Hesselink weiterhin treu. Er spielt noch einige Jahre für Vitesse und wird 1913 und 1914 mit dem Klub, den er mitgegründet hat, niederländischer Vizemeister. Daneben agiert er auch als Trainer des Teams und Schatzmeister des Klubs. Von 1917 bis 1922 ist Hesselink dann Präsident von Vitesse.
Lehrstunden
Der FC Bayern entwickelt schon früh eine Vorliebe für internationale Begegnungen. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges bestreitet der Klub 361 Spiele, 50 davon sind internationale Freundschaftsspiele – eine erstaunliche Zahl, die Ambitionen und weltoffenes Denken dokumentiert.
Die meisten der internationalen Kräftemessen gehen verloren. Allerdings sind es auch ansehnliche Hausnummern, mit denen man es aufnimmt. Zum Auftakt muss es gleich der Deutsche Fußball-Cub (DFC) Prag sein, der am 25. Mai 1896 von deutschnational gesinnten Juden in der Moldaustadt gegründet wurde und aus dessen Reihen der erste DFB-Vorsitzende Ferdinand Hueppe stammt. Obwohl in Österreich-Ungarn ansässig, werden die Prager 1903 an der ersten deutschen Fußballmeisterschaft teilnehmen und es bis ins Finale schaffen. Auf der Suche nach Mitgliedsvereinen hatte der junge DFB auch »deutsche« Klubs in Österreich und Böhmen zum Beitritt und zur Teilnahme an Meisterschaften eingeladen.
Am 9. Dezember 1900 reisen die Bayern nach Prag, wo ihnen der DFC eine Lehrstunde erteilt. 8:0 siegen die Prager, gegen die man vor dem Krieg noch vier weitere Spiele bestreitet.
Im Mai 1904 wird die DFB-Ära des DFC beendet sein. Nachdem der DFB der FIFA beigetreten ist, dürfen Nicht-Reichsdeutsche dem Verband nicht mehr angehören. Fortan spielt der DFC Ligafußball in Böhmen bzw. ab 1919 in der Tschechoslowakei. Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Prag im März 1939 wird man den Traditionsklub als »jüdischen Verein« kurzerhand auflösen.
Bis in die 1920er Jahre aber gehört der Klub zu den besten Adressen auf dem Kontinent; insgesamt 16 DFCler tragen das österreichische oder ungarische Nationaltrikot, darunter Adolf Patek, der von 1958 bis 1961 den FC Bayern trainieren wird. Ebenso der jüdische Publizist Dr. Paul Fischl, später Verleger und Herausgeber des »Prager Tageblatts«. Für den österreichisch-jüdischen Schriftsteller Friedrich Torberg war Fischl »einer der besten Fußballer aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg«. Nach 1933 wird sein Verlag »J. Kittl Nachfolger« vielen von den Nazis verfemten Autoren – so Ernst Weiß, Ludwig Winder, Julien Green, Sinclair Lewis – eine neue Heimat bieten.
Bayerns zweiter internationaler Auftritt führt den Klub nach Südtirol, wo man sich in Meran dem Akademischen Sportverein Graz mit 1:5 geschlagen geben muss. Von den ersten zehn internationalen Begegnungen gehen neun verloren, einige davon deutlich.
Nach drei Auslandsreisen fungiert am 6. März 1904 erstmals der FC Bayern als Gastgeber. An der Schwabinger Clemensstraße geht man gegen die Blue Stars St. Gallen mit 0:10 unter. Sechs Wochen später endet das zweite Kräftemessen gegen die blauen Sterne mit dem gleichen Ergebnis.
Und die Lehrstunden gehen weiter. Auch die zweite Begegnung mit dem DFC Prag geht im Juni 1906 an der Karl-Theodor-Straße mit 1:11 in die Hose. Sechs Tage später kommt es noch etwas derber, als Slavia Prag, ein 1892 von sportbegeisterten Studenten gegründeter bürgerlicher Renommierklub und der älteste tschechische Verein, an der Karl-Theodor-Straße seine Visitenkarte abgibt. Der vom Schotten John William Madden trainierte Klub der Prager Intellektuellen, der heute von Fans des »proletarischen« Lokalrivalen Sparta als »Judenklub« beschimpft wird, schenkt den Bayern gleich 13 Tore ein. Das 0:13 vom 10. Juni 1906 ist die höchste Niederlage überhaupt, die die Bayern bis heute bezogen haben.
Ein halbes Jahr später zeigen sich die Bayern leicht verbessert. Diesmal behält Slavia »nur« mit 8:0 die Oberhand. Schämen müssen sich die Münchner nicht, denn vom 25. März 1897 bis