Der FC Bayern, seine Juden und die Nazis. Dietrich Schulze-Marmeling
Frühsommer 1903 reist der FC Bayern erstmals in die Schweiz. In St. Gallen verliert man am 31. Mai gegen den heimischen FC (2:3), einen Tag später erreicht man gegen den FC Zürich immerhin ein Unentschieden (2:2). Mit dem schweizerischen Vizemeister FC St. Gallen, bereits 1879 gegründet und damit heute der älteste noch bestehende Klub im Land der Eidgenossen sowie einer der ältesten auf dem europäischen Kontinent, gehen die Bayern eine Sportfreundschaft ein.
Vor dem Ersten Weltkrieg spielen die Bayern besonders häufig gegen Teams aus dem deutschsprachigen Teil der Schweiz – insgesamt 17-mal. Gegen Schweizer Fußballer gibt es dann endlich auch den ersten Sieg in einem internationalen Spiel: Am 9. Mai 1907, beim zwölften Versuch gegen ein ausländisches Team, behalten die Bayern an der Plinganerstraße gegenüber den Old Boys Basel mit 2:1 die Oberhand.
In der Saison 1913/14 tritt der FC Bayern gleich dreimal gegen die Wiener Amateure an, wobei man zweimal verliert (1:2, 0:1). Das einzige Unentschieden (1:1) erreicht man Mitte August 1913, als man sich für einige Tage in der Donaumetropole aufhält (und sich auch mit der Vienna misst). Hinter den Wiener Amateuren verbirgt sich der spätere FK Austria; die Umbenennung erfolgt am 18. November 1926 auf einer Generalversammlung im Wiener Domcafé, zu einem Zeitpunkt, als in Österreich der Profifußball legalisiert wird. Amateure/Austria ist der Klub des assimilierten jüdischen Bürgertum Wiens, ebenso sehr ein Gesellschafts- wie ein Fußballverein.
Kräftig Lehrgeld muss man gegen Teams aus dem »Fußball-Mutterland« bezahlen. Gegen das Amateurteam The Pirates verliert man am 29. April 1908 an der Schwabinger Leopoldstraße mit 0:8, gegen die Profis von den Blackburn Rovers am 18. Mai 1910 an gleicher Stelle mit 0:7. Mit dem FC Sunderland, dem FC Middlesborough und den Tottenham Hot spurs kommen weitere englische Profiteams nach München. Sunder-land gewinnt am 30. Mai 1909 mit 5:2, Middlesborough am 12. Mai 1913 mit 9:1. Die Tottenham Hotspurs, der Klub aus der britischen Metropole, dem viele Londoner Juden anhängen, schlagen die Bayern an der Leopoldstraße mit 6:0. Die »Spurs« sind am 9. Mai 1914 letzter ausländischer Gast, bevor der Erste Weltkrieg die erste internationale Ära des Klubs abrupt beendet.
Es waren also nicht in erster Linie Siege, die der FC Bayern bei seinen internationalen Spielen anstrebte. Vielmehr suchte man sich namhafte Gegner aus, von denen die eigenen Spieler in taktischer und spielerischer Hinsicht lernen konnten und die für die Münchner Zuschauer attraktiv waren. Dass nicht wenige dieser Vereine in einem ähnlichen bürgerlichintellektuellen Milieu zu Hause waren wie die Bayern und häufig jüdische Akteure in ihren Reihen hatten, dürfte kein Zufall sein. Dies gilt auch für einige der süddeutschen Konkurrenten der Bayern.
Juden im süddeutschen Fußball
Ein Vierteljahrhundert bevor der FC Bayern seinen ersten nationalen Titel feiern darf, gewinnt der FC Freiburg die Deutsche Meisterschaft – jener Verein also, dem die Münchner in den ersten Jahren wesentlich ihr Überleben zu verdanken hatten. Es ist ein illustres Team, das am 19. Mai 1907 in Mannheim Viktoria 89 Berlin mit 3:1 bezwingt. Mit Dr. Paul Goldberger de Budda, Dr. Louis C. de Villiers, Dr. Felix Hunn, Dr. Josef Glaser und Dr. Hofherr laufen gleich fünf Promovierte auf.
Das Tor hütet Dr. Paul Goldberger de Budda, Spross einer jüdischen Großbürgerfamilie in Wien. Die Wurzeln der Familie liegen in Budapest, genauer: Obuda, das 1872 mit Buda und Pest zur Stadt Budapest fusionierte. Vater Edmund Goldberger ist Vizepräsident des Verwaltungsrates der Firma Sam F. Goldberger & Söhne Aktiengesellschaft, Revisor der Österreichisch-Ungarischen Bank und Präsident des Kreditvereins der Allgemeinen Depositenbank. Sein Abitur hatte Paul Goldberger noch 1899 in Wien gebaut, wo er 1900 mit dem First Vienna Football Club den Challenger Cup gewann. Im Herbst 1901 ging er an die Technische Hochschule in Berlin-Charlottenburg und kickte für Britannia Berlin. Im Frühjahr 1905 zog der Doktorand nach Basel, wo er über das N-Bromphthalimid promovierte. Nach dem Gewinn der Deutschen Meisterschaft wechselt Goldberger zum Frankfurter Kickers FC, für den anfänglich auch Walther Bensemann gespielt hat. Dort hütet er nicht nur das Tor, sondern arbeitet auch im Vorstand mit. 1911 gehört Goldberger zu den treibenden Kräften einer Fusion von Kickers und Frankfurter FC Victoria, die 1920 in die Turn- und Sportgemeinde Eintracht, der späteren Eintracht Frankfurt aufgeht.
Goldberger ist nicht der einzige Jude im siegreichen FFC-Team. Im Mittelfeld führt Max Maier Regie, Sohn eines jüdischen Fettviehhändlers mit Wohnsitz in der Freiburger Rheinstraße 68. 1910 wandert Maier nach Argentinien aus.
Zwei prominente jüdische Kicker bringt auch der von Walther Bensemann gegründete Karlsruher Fußball-Verein (FV) hervor, der 1910 Deutscher Meister wird: den damals erst 18-jährigen Julius Hirsch und den 20-jährigen Gottfried Fuchs. Mit Fritz Förderer bilden Hirsch und Fuchs den besten Innensturm im deutschen Fußball. Der Fußballhistoriker Hardy Grüne bezeichnet den Champion als erstes »Dream-Team« im deutschen Fußball. 1912 wird der KFV nach 1905 und 1910 ein drittes Mal das nationale Finale erreichen, allerdings den »Störchen« von Holstein Kiel unterliegen.
Josef Frey, ein langjähriges KFV-Mitglied, wird in Josef Werners Buch »Hakenkreuz und Judenstern« mit der Aussage zitiert, dass der KFV »wegen der Mitgliedschaft zahlreicher jüdischer Bürger, teils respektvoll, teils missgünstig oder gehässig, als ›Judenverein‹ bezeichnet« wurde.
Am 26. März 1911 läuft erstmals ein Jude für die DFB-Auswahl auf. Beim Länderspiel gegen die Schweiz, dem elften offiziellen Auftritt der DFB-Elf, stürmen die Deutschen mit dem nun 21-jährigen Karlsruher Gottfried Fuchs. Gespielt wird auf dem Kickers-Platz im gediegenen Stuttgart-Degerloch. Die Platzherren sind ein gutbürgerlicher Verein, zu dessen Gründungsmitgliedern 1899 auch jüdische Bürger wie der 2. Vorsitzende Karl Levi gehörten. Im Milieu des Lokalrivalen VfB wird die Anlage einige Jahrzehnte später als »Hebräerwies« und »Golanhöhen« firmieren. Auf diesem Platz also schlägt Deutschland die Schweiz mit 6:2 und Debütant Fuchs gleich zweimal zu.
Am 17. Dezember 1911 feiert auch der nun 19-jährige Julius Hirsch seinen Einstand in der Nationalelf. Auf dem MTV-Platz an der Münchner Marbachstraße unterliegt Deutschland den Ungarn mit 1:4. Debütant Hirsch geht leer aus, trifft aber dafür einige Monate später, am 24. März 1912 im niederländischen Zwolle, gleich viermal – als erster deutscher Nationalspieler überhaupt. Deutschland und die Niederlande trennen sich 5:5, den weiteren deutschen Treffer erzielt Hirschs Freund, Glaubensgenosse und Vereinskamerad Gottfried Fuchs.
Beide fahren auch zum olympischen Fußballturnier nach Stockholm. Die erste Begegnung gegen Österreich geht mit 1:5 in die Hose, vom »jüdischen Duo« ist nur Hirsch dabei. Im folgenden Spiel gegen Russland werden zwei historische Rekorde aufgestellt: Deutschland gewinnt mit 16:0, der höchste Sieg in der Länderspielgeschichte des DFB. Zehn Treffer gehen auf das Konto von Gottfried Fuchs. Auch dieser Rekord steht noch heute.
Townley, Hogan und der saubere Pass
Der Karlsruher FV ist ein ausgesprochen moderner Verein. Im Januar 1909 hatte man mit dem Engländer William J. Townley einen Profitrainer verpflichtet. Townley brachte seinen Akteuren technische Raffinessen bei, verbesserte ihre Ballbehandlung, ließ sie Spielzüge und Angriffskombinationen einüben und machte sie mit dem schottischen Flachpassspiel vertraut. »Stoppen, schauen, zuspielen« lautete sein Motto. Hardy Grüne: »Townley revolutionierte Deutschlands Fußball. Statt nach dem hierzulande noch üblichen ›möglichst hart und weit schießen‹ zu verfahren, führte ›der alte Blackburn Rover‹, wie er liebevoll von der Presse genannt wurde, britische Errungenschaften ein.« Sämtliche KFV-Teams, ein Novum im deutschen Fußball, spielten nach dem »Townley-System«.
Seine Trainerkarriere hatte der zweifache englische Nationalspieler 1908 beim bereits vorgestellten DFC Prag begonnen. In England gab es einen Überschuss an Trainern – zumal man im »Mutterland« zunächst der Auffassung frönte, dass die Position eines hauptamtlichen Trainers überflüssig sei. Die abwertende Haltung gegenüber dem Beruf des Fuß-balltrainers entsprang der arroganten Auffassung, dass England in Sachen Fußball eine angeborene und ewige Überlegenheit besitze.
Auf dem Kontinent musste man hingegen lernen und war sich dessen bewusst. Moderne und ambitionierte Klubs rissen sich um englische und schottische Übungsleiter.
Auch einige nationale Verbände engagierten Engländer. So betreute Jimmy Hogan 1910 die niederländische Nationalelf bei ihrem 2:1-Sieg