Joachim Löw und sein Traum vom perfekten Spiel. Christoph Bausenwein
Schweiz bereits seit Jahren eingeübte Selbstverständlichkeiten.
Nach dem französischen Vorbild begannen Siegenthaler und seine Mitstreiter damit, nun auch in der Schweiz Trainingszentren für Jugendspieler einzurichten. Dort werden seitdem Viererkette, Raumdeckung und eine offensive Grundeinstellung unterrichtet. Zum Beispiel sollen die Spieler lernen, wie man sich konstruktiv aus einer Bedrängnis befreien kann. Das Ziel: in jeder Situation eine offensive Handlungsoption zu erreichen und Hilfslösungen wie Querspielen, Rückpässe oder Befreiungsschläge zu vermeiden. Aber die Schweizer Trainer-Macher richteten ihr Augenmerk nicht nur auf das rein Fußballerische. Auf eine gute schulische Ausbildung, teils durch externe Lehrer, legte man ebenso großen Wert, weitere Themenfelder waren die Förderung sozialer Intelligenz sowie die gezielte Persönlichkeitsbildung. »Im modernen Fußball sind mentale Fähigkeiten gefragt, die man eben nicht auf dem Fußballplatz erlernt«, so Siegenthaler, »sondern in der Schule«. Ein guter Fußballspieler, betont er, müsse sehr intelligent sein. »Die koordinativen Fähigkeiten unter Druck zu benutzen und in Sekundenbruchteilen Entscheidungen zu treffen, ist eine Art von Intelligenz, die sogar überdurchschnittlich sein kann.« Fußballspieler müssen die ihnen gestellten Aufgaben konzentriert und systematisch angehen. Und daneben geht es auch darum, besser mit Verletzungen umzugehen, mit dem Umfeld, mit der Presse, mit der eigenen Zukunft und überhaupt ein bewusstes und selbst kontrolliertes Leistungssportler-Leben zu leben, um regelmäßig seine Höchstleistung abrufen zu können.
Neben den kognitiven Fähigkeiten richtete Fußball-Mastermind Siegenthaler seine Aufmerksamkeit vor allem auf die emotionalen Gegebenheiten. Emotionen können Spiele entscheiden, ist er überzeugt. Das gelte nicht nur für die augenblickliche Verfassung einzelner Spieler, sondern für das gesamte Team. Daher müsse man wissen, wie sich eine Elf unter Druck verhält, wie sie den Ball erobert oder wie sie antwortet, wenn sie in Rückstand gerät, kurz: wie sich ihre Mentalität fußballerisch ausdrückt. Es sei also äußerst nützlich, in dieser Hinsicht den jeweiligen Gegner zu studieren, aber auch das eigene Team auf mögliche schwierige Situationen vorzubereiten, einen »Matchplan für alle Eventualitäten« zu haben. Denn unter Druck, so Siegenthaler, würden alle Mannschaften auf das zurückgreifen, was sie im Grunde ausmacht. Im Fall Deutschland hieß das zum Beispiel jahrzehntelang, nur noch quer zu spielen und weite Bälle nach vorne zu schlagen.
Siegenthaler hatte ein richtungsweisendes Konzept, einen breiten Ansatz und viele interessante Ideen. Schade war nur, dass das Spielerreservoir der Schweiz qualitativ nie ausreichte, um auf internationalem Parkett große Erfolge feiern zu können. Als Trainerausbilder in Magglingen, erzählt Siegenthaler, habe er zusammen mit den anderen Ausbildern immer wieder an der »perfekten« schweizerischen Nationalmannschaft herumgetüftelt. »Kann man den Nachteil der unterschiedlichen Sprachregionen nicht in einen Vorteil verwandeln? Wenn wir die Tessiner in die Verteidigung stellen, die Deutschschweizer rennen, die Welschen zaubern und das Spiel gestalten lassen – dann hätten wir eine gute Mannschaft. So haben wir damals herumspekuliert.« Das schweizerische Dreamteam blieb ein Hirngespinst der Magglinger Fußballintellektuellen. Aber immerhin sollte Siegenthaler einen Teil seiner Träume beim deutschen Sommermärchen 2006 und vor allem bei den Zaubernächten im südafrikanischen Winter von 2010 verwirklicht sehen.
KAPITEL 3
Der (zu) nette Herr Löw
oder: Aufstieg und Demontage eines Trainer-Neulings
1995/96 war die erste Bundesliga-Spielzeit, in der es drei Punkte pro Spiel gab. Es waren drei statt zwei Auswechslungen erlaubt. Die Spieler trugen erstmals feste Rückennummern. Und es war die Saison, in der Joachim Löw als Co-Trainer des VfB Stuttgart sein Debüt gab. Auf diesem Posten war er die Wunschbesetzung des neuen VfB-Coaches Rolf Fringer. »Ich kannte seine Einstellung, seine Seriosität und seinen Willen, sich zu verbessern«, begründete Löws Schaffhausener Ex-Trainer seine Wahl. Außerdem sei er »ein ganz vernünftiger Kerl und kein Blender«. Der Kontakt war nach seinem Weggang in Schaffhausen nie abgerissen. »Als dann das Angebot von Stuttgart kam«, schildert Fringer die damalige Situation, »habe ich mich dafür eingesetzt, dass er bei seinem damaligen Verein FC Frauenfeld aus dem laufenden Vertrag kommt.« Also zog Löw von Frauenfeld in das 2.500-Seelen-Örtchen Strümpfelbach im Remstal, von wo aus er das Trainingsgelände des VfB mit dem Auto in einer halben Stunde erreichen konnte. Nächsten Sommer, erklärte er im August bei seinem Amtsantritt als Co-Trainer, wolle er in der Schweiz noch seinen letzten Trainerschein machen. Dann sei er auf dem Stand des Fußball-Lehrers des DFB. Denn: »Klar ist mein Ziel, Cheftrainer zu werden.«
Die VfB-Führung um den mächtigen Präsidenten Gerhard »MV« Mayer-Vorfelder versprach sich viel vom Schweiz-Import Fringer. Denn mit Trainern aus dem südlichen Nachbarland – Helmut Benthaus (Meister 1984) und Jürgen Sundermann (Aufstieg 1977, Vizemeister 1979) – hatte man schon durchaus gute Erfahrungen gemacht. Fringer hatte mit dem FC Aarau 1993 einen Meistertitel geholt; warum sollte ihm das, so wurde spekuliert, nicht auch in Stuttgart gelingen. Schließlich galt der Mann, der am Spieltag stets mit Anzug und Krawatte erschien, als ein Meister der Taktik. In der Führungsetage war man überzeugt davon, dass er der unter anderem mit Spielmacher Krassimir Balakov und Abwehrchef Frank Verlaat wesentlich verstärkten Mannschaft einen modernen und erfolgreichen Fußball beibringen würde.
Fringer führte die Viererkette und die Raumdeckung ein und forderte von seinen Spielern die bedingungslose Unterordnung unter das System. In der Umsetzung seiner Neuerungen wurde er von seinem Assistenten tatkräftig unterstützt. Joachim Löw, so zeigte sich rasch, war kein Hütchenaufsteller, sondern ein selbstbewusster Teamarbeiter. Er war stets loyal, hatte aber auch eine eigene Meinung und trug mit seiner akribischen Arbeitsweise viel zur Trainings- und Spielvorbereitung bei.
Die Ergebnisse freilich, die das innovationsfreudige Trainerteam aus der Schweiz generierte, waren zunächst irritierend. Geschwächt nicht zuletzt durch das Fehlen eines erfahrenen Torwarts – Eike Immel war zu Beginn der Saison verkauft und durch den jungen Marc Ziegler ersetzt worden –, flog der VfB im Pokal gegen den SV Sandhausen raus (13:14 im Elfmeterschießen) und musste in der Bundesliga deprimierende Niederlagen hinnehmen: am 5. Spieltag ein 1:4 im Heimspiel gegen Leverkusen, am 6. Spieltag ein 3:6 in Dortmund, das der »Kicker« als »taktische Trauervorstellung« beschrieb. Doch die Rehabilitation folgte nur eine Woche später, als der VfB die Borussia aus Mönchengladbach mit 5:0 überrannte. In diesem Spiel zeigte die Fringer-Mannschaft ihr großes Potenzial, vor allem in der Offensive, wo das »magische Dreieck« mit Balakov, Bobic und Elber erstmals seine Zauberkünste aufblitzen ließ. Das Team mit dem roten Ring auf der Brust spielte nun konstanter und überzeugte mit erfrischender Spielweise, selbst wenn die Ergebnisse nicht immer stimmten. Eine 3:5-Niederlage in München Ende Oktober kommentierte der Fringer-Assistent Joachim Löw mit den selbstbewusst-süffisanten Worten: »Jetzt haben wir wenigstens dafür gesorgt, dass auch die Münchner mal ein attraktives Spiel gesehen haben.« Zur Winterpause lagen die Stuttgarter hinter den Bayern auf Rang drei.
Doch dann folgte in der Rückrunde der Einbruch, unter anderem bedingt durch den mehrwöchigen Ausfall von Abwehrchef Verlaat. Der VfB rutschte in der Tabelle immer weiter nach unten, am 22. Spieltag musste er mit dem 0:5 gegen Borussia Dortmund die höchste Heimniederlage der Vereinsgeschichte hinnehmen. Das Trainerteam stand machtlos am Spielfeldrand. Während der Co-Trainer mit der Prinz-Eisenherz-Frisur sich hinter seinem dichten schwarzen Haar, das ihm wie ein Visier vor der Stirn stand, zu verstecken schien, bildete sich im Gesicht des rotblonden Chefs, der vorne gezwungenermaßen offen trug, das schiere Entsetzen ab. Am Ende reichte es immerhin noch für den zehnten Platz.
Als Ursache für den Absturz diagnostizierte der »Kicker« die instabile Defensive – 62 Gegentreffer waren die zweitmeisten der Liga, zurückzuführen waren sie unter anderem auf den zu Beginn der Saison vollzogenen Torwartwechsel – sowie die nie gelösten Konflikte des Trainers mit wichtigen Führungs- und Stammspielern. Fringers Rauswurf schien schon vor dem Saisonende nur noch eine Frage der Zeit. Einer Kündigung stand jedoch die schwierige finanzielle Situation des Vereins entgegen, und so herrschte eine gewisse Ratlosigkeit. Als der angeschlagene Fringer schließlich vier Tage vor Saisonbeginn, am 13. August 1996, verkündete, dass er Nationaltrainer