Joachim Löw und sein Traum vom perfekten Spiel. Christoph Bausenwein
KAPITEL 2
Als Lehrling in der Schweiz
oder: Ein Erweckungserlebnis in der Fußballprovinz
Vor der EM 2008 bezog der DFB-Tross unter dem Bundestrainer Joachim Löw Quartier im Hotel Giardino in Ascona am Lago Maggiore. Ausgesucht hatte man es bereits zu einem Zeitpunkt, als die Gruppengegner und Spielorte noch gar nicht bekannt waren. So kam es zu dem eigentlich unglücklichen Zusammentreffen, dass die im Süden der Schweiz wohnende deutsche Auswahl in den Flieger steigen musste, um zu den im östlichen Österreich liegenden Stadien zu gelangen, in denen ihre Vorrundenspiele angesetzt waren. Ein schlimmer Planungsfehler, möchte man meinen. Halb so schlimm bzw. gar nicht schlimm, meinte hingegen der Bundestrainer Löw. Er wollte eben einfach gern in der Schweiz wohnen. Weil es im Tessin so ruhig ist. Und natürlich auch – aber das sagte er so natürlich nicht –, weil er eine besondere Beziehung zur Schweiz hat. Der Trainer Löw ist in der Schweiz sozialisiert worden, ja man könnte sagen, ohne Löws Schweizer Erfahrung wäre aus dieser Nationalmannschaft niemals jene geworden, die sie heute ist. Die fulminante Entwicklung der deutschen Nationalelf in den letzten Jahren lässt sich nicht nachvollziehen, wenn man nicht auf das besondere Verhältnis ihres Trainers zur Schweiz eingeht. Geboren ist Löw zwar in Baden, seiner Seele nach ist er aber auch ein Gefühlsschweizer.
Worum es bei diesem helvetischen Einfluss geht, konnte man bereits im Genfer Trainingslager vor der WM 2006 erleben. Löw war damals noch Assistent und als solcher für die taktische Neuausrichtung des Teams zuständig. Einmal ließ er die deutsche Elf testhalber gegen die U17 von Servette Genf antreten. Die deutschen Elitekicker gewannen standesgemäß mit 12:0. Aber der Sieg war den Klinsmännern schwerer gefallen als gedacht. Ungefähr eine halbe Stunde lang hatten die Schweizer Jugendlichen sehr gut standgehalten. Ihre Viererkette funktionierte, das gesamte Team beherrschte das ballorientierte Verschieben mit schlafwandlerischer Sicherheit. Deutsche Beobachter waren verblüfft. »Das kann hier in der Schweiz jede U17«, erklärte Löw. Und er sah sich bestätigt in dem, was er seit seiner Ernennung zum Bundestrainer-Assistenten immer wieder gepredigt hatte: dass der deutsche Fußball sich öffnen müsse und endlich reagieren müsse auf taktische und trainingsmethodische Änderungen im internationalen Fußball.
Der Assistent Löw zeigte sich 2006 in Genf als akribischer Arbeiter, der sich nicht davor scheut, selbst mit routinierten Profis noch das Fußball-Einmaleins zu üben. »Wir müssen in Deutschland lernen, im Training noch seriöser zu arbeiten. Das sind oft einfache Dinge«, bemerkte er. Und so ließ er gestandene Nationalspieler wie Arne Friedrich, Per Mertesacker, Christoph Metzelder und Philipp Lahm die Grundlagen einer Vierer-Abwehrkette üben – also das, was die U17 von Servette bereits sehr gut beherrschte.
Dieses Spiel war eine Art Anschauungsunterricht für das, was er tags zuvor bei einer Pressekonferenz ganz im Geiste Rudi Völlers erklärt hatte. Die Ansprüche der sogenannten Experten an den deutschen Fußball seien im Verhältnis zu dessen überschaubarer Qualität viel zu hoch, in Deutschland sei die Ausbildung rückständig. Die Quintessenz also: »Wenn einer die Grundrechenarten nicht beherrscht, kann man auch nicht sagen: Du wirst später mal Professor.« Als der Satz fiel, lachten die Journalisten. Aber Löw meinte es durchaus ernst. Die deutsche Nationalmannschaft, wollte er damit sagen, beherrsche nicht einmal die Grundrechenarten. »Wir üben hier elementare Dinge, die eigentlich zum Trainingsprogramm jeder U16 oder U17 gehören.« Er musste also nachholen, was man in Deutschland jahrzehntelang versäumt hatte. Nämlich Fußballspielern eine Grundausbildung verpassen. Ihnen zeigen, wie eine Viererkette funktioniert, wie man sich ballorientiert verschiebt, wie man mit vertikalen Kurzpässen das Spiel eröffnet. Und so ließ Löw die ihm anvertrauten Bundesligastars üben wie ABC-Schüler: Abstände einhalten, Verschieben, die richtigen Laufwege antizipieren. Immer wieder. Verschieben! – Laufwege, Abstände einhalten – Verschieben! – Laufwege, Abstände einhalten – Verschieben! – Laufwege, Abstände einhalten …. und so weiter und so weiter. Damit sie es irgendwann so gut beherrschen würden wie eine Schweizer U17.
Und irgendwann, in den Pausen zwischen dem Üben, erklärte er seinen Spielern wie einst Klinsmann die Vorteile der Viererkette, vielleicht in zwei Minuten, etwa so:
Die Viererkette ist ein Defensivsystem, in dem jeder der vier Abwehrspieler in der Grundformation etwa ein Viertel der Spielfeldbreite abdeckt. Jeder orientiert sich im Raum und am Mitspieler; Gegenspieler, die ihre Position wechseln, werden übergeben; die Kette verschiebt sich kompakt, immer am Ball orientiert. Die Vorteile: Erstens: Da er sich im Raum und am Mitspieler orientiert, weiß jeder Abwehrspieler immer, wo er verteidigen muss. Zweitens: Weil die Verteidiger auf Manndeckung verzichten und die Laufarbeit rochierender Gegner nicht mitmachen, sparen sie Kraft. Drittens: Durch das kollektive Verschieben zum Ball – nicht nur in die Breite, sondern auch in die Tiefe – wird der Abwehrraum optimal verdichtet, die Passwege des Gegners werden zugestellt. Und viertens: Im Zusammenwirken des gesamten Defensivverbundes ergeben sich weitere Vorteile. Durch den Verzicht, weitab stehende Gegner zu decken, werden Mitspieler frei, den ballführenden Spieler in Überzahl zu attackieren – er kann »gedoppelt« oder sogar »getripelt« werden –, die Chance auf Ballgewinn wird dadurch erhöht; und weil man den Raum aktiv beherrscht und deswegen die bei der Manndeckung nach dem Ballbesitzwechsel nötige Phase der Neuorientierung entfällt, ist immer ein schnelles und geplantes Umschalten auf die Angriffspositionen gewährleistet.
Fußball-Neuland in Rheinfall-Nähe
Deutsche Beobachter rieben sich in Genf ungläubig die Augen: Da stand der Assistenztrainer einer Fußball-Großmacht am Rande des Trainingsplatzes, um aus hochdotierten, aber taktisch rückständigen Bundesligastars versierte Viererketten-Versteher zu formen – und behauptete, dass man von der kleinen Schweiz fußballerisch einiges lernen könne! Das war ein geradezu ungeheuerlicher Vorgang. Aber er ist erklärbar. Die Ursache liegt in Löws sechsjähriger Trainerlehrzeit in der Schweiz.
Erstmals mit dem »Schweizer System« konfrontiert wurde der spätere Bundestrainer beim FC Schaffhausen, zu dem er 1989 als Spieler gewechselt war. Der 1896 gegründete Klub zählt zu den ältesten Schweizer Fußballvereinen, wenngleich nicht zu den erfolgreichsten. Die meiste Zeit spielte der Verein nur zweitklassig, nämlich in der Staffel Ost der Nationalliga B. So war es auch, als sich der deutsche Fußballroutinier Joachim Löw den an Borussia Dortmund erinnernden gelb-schwarzen Dress überstreifte. Immerhin: Der Verein aus dem nur 20 Kilometer jenseits der deutschen-schweizerischen Grenze liegenden – und nur 80 Kilometer von Schönau entfernten – kleinen Städtchen am Oberrhein spielte in der 2. Liga oben mit. Nach Platz eins im Jahr 1992 scheiterte das Team, in dem Löw eine Hauptrolle übernommen hatte, erst in der Aufstiegsrunde. In einem fremden Land sei man mehr gefordert als in heimatlicher Umgebung, erinnert sich Löw an sein drei Jahre währendes Engagement in Schaffhausen. »Als Ausländer und Mannschaftskapitän haben die Leute besonders viel von mir erwartet.« Aber das habe auch sein Gutes gehabt. Er sei »vom Egoisten zum Mannschaftsspieler gereift«, er habe gelernt, Verantwortung zu übernehmen. Sein Mannschaftskollege Joachim Engesser bestätigt diese Selbsteinschätzung. Der Kapitän sei sehr zielstrebig und ehrgeizig gewesen, dabei aber immer auch kollegial, ein perfekter Führungsspieler eben. Ein anderer Mitspieler, der Verteidiger Mirko Pavlicevic, meint gar: »Löw hat schon damals auf dem Platz wie ein Trainer gedacht und den jungen Spielern viel geholfen.«
Wichtig für diesen späten Reifeprozess war nicht zuletzt der Trainer in Schaffhausen, Rolf Fringer. Der im schweizerischen Adliswil geborene Österreicher, ganze drei Jahre älter als Löw, sieht sich selbst rückblickend als Lehrmeister des späteren Bundestrainers. »Wenn man heute wie selbstverständlich in Deutschland Pressing und 4-4-2 spielt«, so seine Feststellung, »muss man sagen, dass diese Art des Fußballs Mitte der Neunziger Neuland war. Deutschland hatte zwar immer eine starke Nationalmannschaft, war aber hausbacken in punkto Kreativität und Taktik. Löw hat da Pionierarbeit mitgeleistet, und das geht klar auf unsere damalige Arbeit in der Schweiz zurück.« Der junge Trainer, erst seit Kurzem mit einem Diplom ausgestattet, war Vertreter einer neuen, innovativen Generation von Fußball-Lehrern. Der Titel seiner Abschlussarbeit – »Möglichkeiten des offensiven Zonenspiels« – hätte