Die Wale im Tanganjikasee. Lennart Hagerfors
nahm Farquhar seine Würde, seine Kraft?
Bombay ging an der Spitze, dicht gefolgt von Farquhar. Im Abstand von fünfundzwanzig Metern wankte ich hinterher, mit nacktem Oberkörper und umringt von Soldaten und Jungen aller Altersstufen, die Fratzen schnitten und Faxen machten. Die ersten fünfhundert Meter sahen wir nicht einen Menschen. Aber vor uns, in den besseren Vierteln, stieg das Stimmengewirr an. Ich versuchte, meine Schritte zu beschleunigen, um Farquhar einzuholen, konnte aber nicht einmal den Abstand verringern. Kaum war er um eine Ecke gebogen, brach ein gewaltiger Lärm aus. Leute riefen, lachten und sangen. Gleich darauf war ich an der Reihe. Flehend wandte ich mich an die Soldaten. Mir schwebte die vage Idee vor, daß wir vielleicht versuchen sollten, einen abgelegeneren Weg zu wählen. Aber ich schaffte es nicht einmal, diesen Gedanken auszusprechen. Ein Gewehrkolben im Nacken und ein Tritt in den Hintern ließen mich vor aller Augen stolpern. Der Jubel verstärkte sich.
Überall waren Leute: auf den Hausdächern, entlang der Straße, in den Fenstern, auf den Palmen. Die Farbenpracht der Kleider leuchtete vor den weißen Wänden der würfelförmigen Häuser. Die Stimmung war festlich und fröhlich, und diese unerwartete Belustigung gab dem Ganzen noch einen zusätzlichen Reiz. Die Leute kreischten wie verrückt. Neben mir Gesichter aller Schattierungen zwischen schwarz und weiß, und alle schienen sie von Schadenfreude und Bosheit verzerrt. Einige wirkten furchtbar zornig. Weshalb dieser Zorn?
Weiter unten, am Strand, ein Stück von den Booten entfernt, die im seichten Wasser hochgezogen lagen, stand eine große Schar vornehmer Europäer in weißen Anzügen und hellen Kleidern. Zwischen ihnen und den Booten stand ein einsamer Mann, die Arme auf der Brust gekreuzt. Stanley. Die kurze Gerte ragte unter der einen Achselhöhle hervor.
Ich sah alles wie durch einen dünnen Vorhang von strömendem Wasser. Der Lärm war so penetrant, daß er zeitweilig für mich erstarb. Ich weiß nicht, ob ich lachte oder weinte. Aber irgend etwas muß ich gemacht haben, denn ein Soldat schlug mich auf den Mund und schrie mir zu, ich solle still sein. Ich erinnere mich daran, weil ich überrascht war, daß ich einen Laut hervorgebracht hatte.
Ich konzentrierte mich darauf, zu Stanley zu gelangen. Ich fürchtete, die Volksmenge würde mich in Stücke reißen. Sie versuchten, mir Hiebe und Schläge zu versetzen, einige warfen sogar Steine nach mir. Als ich endlich durch den Sand auf Stanley zuwankte, erschien er mir als mein Befreier. Kein anderer konnte mich retten. Kaum war ich bei ihm angekommen, gab er mir mit der Gerte einen kurzen Schlag auf die Brust und zeigte dann mit ausgestrecktem Arm auf eins der Boote.
«Ins Boot, Mann!»schrie er im Falsett.
Da faßte ich Mut. Ich hatte nichts zu verlieren. Es war mir egal, daß alle Blicke auf uns gerichtet waren, ich kümmerte mich nicht um die sonderbare Stille, die dem Lärm gefolgt war.
«Ist es nicht klüger, daß ich hierbleibe? Sehen Sie mich an. Ich bin ein Nichts.»
Da lachte Stanley und wandte sich an die Europäer, um diesen Witz mit ihnen zu teilen. Aber ich sah, daß die meisten nur peinlich berührt dreinschauten. Da wurde er wieder ernst und brüllte:
«Ins Boot, Mann! Haben wir etwa keinen Vertrag gemacht!»
Ich bekam noch einen Hieb, diesmal einen wesentlich härteren. Da griff Farquhar ein. Ich weiß nicht, wie es sonst geendet hätte. Mit dunkler, ruhiger Stimme – wo nahm er die her? – sagte er zu mir:
«Komm, Shaw! Wir gehen ins Boot. Unser Leben steckt in dem Vertrag.»
Er faßte mich unter und führte mich auf eins der Boote zu. Langsam wateten wir durch die Gischt der Brandung. Er half mir über die Reling, und ich sank aufs Hellegatt hinunter, wo ich mich zusammenkauerte.
So lag ich lange, geschützt vor allen Blicken. Farquhar saß die ganze Zeit neben mir, sagte aber nichts. Meine Wunden brannten, und Durst quälte mich. Ringsumher ertönten Rufe und Kommandos, Pferdegewieher und die Schreie der Esel. Stanleys schrilles Falsett drang hin und wieder durch. Die Männer und die Pferde platschten durchs Wasser, regelmäßig rollte die Brandung heran und stieß jedesmal das Boot an. Nach einer Weile brachte mir Farquhar Wasser, ohne daß ich ihn darum bitten mußte.
Als die Sonne im Zenit stand, stieg das Stimmengewirr wieder an. Ich spürte, wie das Boot mit einem kräftigen Ruck vom Boden abhob und in die Brandung hinausschaukelte. Langsam erstarben die Hurrarufe und der Gesang, und das Klatschen der Wellen gegen die Beplankung nahm überhand. Aus der Ferne hörte ich von den anderen Booten her, vom Wind übers Wasser getrieben, die angstvollen Schreie der Esel. Ich hörte die Angst der Kreatur heraus, die sich nicht in ihrem Element befand.
Dann schlief ich im Schatten unter einem Mantel, den Farquhar aufgetrieben hatte.
Bagamojo
den 16. März 1871
Es ist angenehm, resigniert zu haben. Die erste Zeit hier in Bagamojo war ziemlich schlimm. Ich verließ mein Zimmer nur, um zum Abort zu gehen. Jedesmal setzte ich mich dabei dem Gehänsel der Soldaten aus. Sobald sie mich sahen, fingen sie an herumzutorkeln, zu weinen, hysterisch zu lachen, und sofort versammelte sich ein dankbares Publikum.
Am zweiten Tag nach unserer Ankunft bekam ich Fieber, die Striemen von den Peitschenhieben hatten sich entzündet und eiterten. Die Wunde von dem einen Schlag, den Stanley mir auf die Brust gegeben hatte, plagte mich besonders. Farquhar, dieser Muffel, kam jeden Tag zu mir und versorgte meine Wunden. Bevor er das Zimmer wieder verließ, sagte er jedesmal:
«Du mußt resignieren. Nimm deine Aufgabe an!»
Es klang wie eine Beschwörung. Einmal warf ich ihm einen blutigen, vereiterten Verband nach. Er genießt meine Schwäche.
Am vierten Tag nach unserer Ankunft auf dem Festland stand Stanley auf der Schwelle meines Zimmers. Lange sah er mich mit seinen blaugrauen Augen an, ohne zu blinzeln. Wie macht er das? Vertrocknet der Augapfel nicht? An diesem Tag waren sie besonders blank, da er gerade die französischen Jesuiten am Rand von Bagamojo besucht hatte. Dort haben sie französische Weine. Er setzte sich auf eine Kiste neben mein Bett und erzählte von Weinsorten und Gerichten, von denen ich noch nie etwas gehört hatte. Er war entzückt wie ein Kind.
Plötzlich stand er rasch auf. Ich dachte, er sei im Begriff zu gehen, doch er stellte sich an die Fensterluke, mit dem Rücken zu mir. Er kreuzte die Arme, und der ganze Körper spannte sich wie eine Feder.
«Man muß stark sein, Shaw! Stark und zielstrebig. Auf uns Europäern ruht eine große Verantwortung.»
Lange und feierlich sprach er von der Erhärtung des Willens und dem Fluch der Schwäche. Was er sagte, war nichts Besonderes, nur das, was alle Vorgesetzten zu sagen pflegen. Doch das Wie war bemerkenswert. Er sprach mit einer schrillen Wut, als stünde er vor einer riesigen, feindseligen Zuhörerschaft und versuchte sie davon zu überzeugen, daß sie unrecht hätte. Mich schien er völlig vergessen zu haben.
Dann verstummte er und ließ die Worte in meinem kleinen Zimmer verklingen. Nach einer Weile ließ er sich auf meinen Bettrand sinken und griff nach meiner Hand. Instinktiv drückte ich mich gegen die Wand und entzog ihm meine Hand. Jetzt klang seine Stimme wie ein Zischen:
«Ich bin stark. Ich bin ein fordernder, strenger, aber gerechter Vater für unsere ganze Karawane – besonders für die Neger. Ich weiß, was es bedeutet, einen Vater zu haben, denn ich habe nie einen gehabt. Und auch nicht viel von meiner Mutter. Ich weiß es.»
An dieser Stelle entschlüpfte mir ein Kichern, und seine Augen weiteten sich. Es kam mir ungeheuer komisch vor, daß Stanley einmal ein Kind gewesen war. Mit langen, tiefen Atemzügen atmete er über mich hin. Die Wein- und Knoblauchdünste verursachten mir Übelkeit und Schwindel. Schließlich hatte ich ja seit Tagen kaum etwas gegessen.
«Aber ich bin schwach. Wozu mich mitnehmen? Nehmen Sie lieber jemand Starken mit!»
Da stand er auf, stemmte die Fäuste in die Hüften und heftete den Blick an die Decke. Es war wie im Theater.
«Verlaß dich auf mich. Ich weiß, was ich tue. Auch die Schwäche hat ihre Bedeutung, vorausgesetzt, sie ist nicht apathisch. Die Starken vernichten