Flusenflug. Peter Maria Löw
Der fand das in der Zwischenzeit aber trotzdem nicht mehr witzig. Ich erklärte ihm, er solle sich nicht so haben, irgendwie hätten wir das ja geschafft, das hätte ich schon vorher im Gefühl gehabt. Nur wegen seines Genörgels würden wir jetzt wieder zurückfliegen.
In Cairns angekommen hatte Schläpferli endgültig keine Lust mehr weiterzufliegen. Wir mieteten uns erstmal ein Auto und setzten den dritten Teil unserer Reise fort. Wir fuhren also ein wenig Richtung Süden an der Küste entlang, um ungefähr in der Höhe der Whitsunday Islands ein Boot zu mieten. Ralf, der immerhin einen Segelschein besaß, hatte schon alles organisiert. Er hatte ein Segelboot für sechs Personen vorbestellt für zehn Tage. Er erklärte mir, Segeln sei eigentlich ganz einfach. Es mache nichts, dass ich überhaupt keine Ahnung vom Segeln hätte, er würde mir einfach Kommandos geben, auf dem Boot wäre er ja der »pilot in command«.
Schon bei der Bestellung des Bootes war Ralf jedoch ein kleines Missgeschick unterlaufen. Auf dem Verpflegungszettel, den man vorher ausfüllen musste, hatte er nämlich nicht begriffen, dass es sich bei den einzutragenden Angaben um die Mengen pro Tag handelte, sondern er ging beim Eintragen stattlicher Zahlen davon aus, dass es um die Verpflegung für die gesamte Zeit gehen würde. So erhielten wir also statt einer normalen Verpflegungsausstattung für zehn Tage für zwei Personen die zehnfache Menge. Das Boot jedenfalls quoll bei unserer Ankunft mit Lebensmitteln über. Der Vermieter hatte sich dabei nichts gedacht, da das Boot ja für sechs Personen ausgelegt war und manche Leute auf See großen Hunger entwickeln können. Wir hatten an die sechzig Steaks an Bord, was ja noch ging, aber zwanzig komplette Käsekuchen stellten schon eher eine körperliche Herausforderung dar. Darüber hinaus gab es natürlich Unmengen an Cornflakes, Kaffee, und mit unserem Eiervorrat hätten wir ganze Kindergärten, und zwar für Ostern, ausrüsten können. Aber alles hat natürlich auch zwei Seiten, und so sollten sich diese Vorräte auf hoher See zu einer ganz hervorragenden Tauschwährung mit anderen Segelbooten entwickeln. Im Gegenzug gegen Mückenschutz, frische Fische oder sonstige Dinge, die wir vergessen hatten, kam uns unsere Käsekuchenwährung sehr zugute. Selbst kleinere Arbeiten, wie z. B. das Auffüllen unserer Tauchflaschen, konnten damit ganz vortrefflich beglichen werden. Bis heute erinnere ich mich noch mit Staunen an die gastrischen Höchstleistungen unserer Körper, die in kurzer Zeit Unmengen von gegrillten Steaks verkraften mussten.
Nun steuerten wir also mit unserem 6-Mann-Segelboot, mit einer Besatzung bestehend aus einem Skipper aus der meerreichen Schweiz, der immerhin einen Segelschein besaß, und einem Matrosen ohne Segelkenntnisse mitten auf das Meer hinaus, um die Whitsunday Islands und das Great Barrier Reef zu erkunden. Gleich am ersten Tag zog ein kräftiger Sturm auf. Nachdem diese Segelboote nicht sonderlich wendig sind, beschloss unser Captain zu meiner großen Überraschung und meinem noch größeren Entsetzen mitten in den Sturm hineinzusteuern. Dies sei besonders effizient, meinte er, denn dann sei man auch schnell wieder heraus. Nun erlebte ich also auch einmal hautnah diese Szenen, die man aus Robinson-Crusoe-Filmen kurz vor Untergang des Schiffes kannte. Das Boot befand sich urplötzlich in einer doch sehr bedenklichen Schräglage. Irgendwie gelang es uns noch, den Großteil der Segel einzuholen. Das Wasser schwappte von vorne, von hinten und von der Seite in völlig unregelmäßigen Abständen über das Boot. Aus dem Bauch des Schiffes hörte man die klirrend zerspringenden Gläser der Bordausstattung und das Schlagen der Schranktüren. Ich hatte mich schlauerweise immerhin schon einmal am Boot festgebunden, damit es mich nicht gleich ins Meer spülte. Andererseits, so dachte ich mir, war das auch wieder nicht so praktisch, falls das Boot unterginge.
Wie lange wir tatsächlich in dem Sturm waren, weiß ich nicht mehr so genau, denn ähnlich wie in der Nähe eines Schwarzen Lochs scheint auch in einem solchen Sturm eine andere Art des Zeitablaufs zu herrschen. Ob es ganz kurz war oder sehr, sehr lange, kann ich nicht mehr genau sagen. Ich weiß nur, irgendwann war dieser Sturm so urplötzlich vorüber, wie er gekommen war. Schläpferli grinste vergnügt und meinte: »Siehst du, ich hab’s dir doch gesagt«. Ich konnte ein wenig nachvollziehen, warum sich Ralf bei meinen Flugkünsten unwohl gefühlt hatte. Wir erreichten also irgendwann wohlbehalten unsere Inseln, bis auf einige Gegenstände der Ausrüstung, die über Bord gegangen waren. So segelten wir also weiter von Insel zu Insel. Es war sehr idyllisch.
An eine Insel erinnere ich mich besonders. Wir betraten sie mit unserem kleinen Beiboot und bei jedem Schritt gab der kilometerlange Sandstrand ein Geräusch von sich. Zuerst dachte ich, es würde sich um einen Hörfehler handeln oder ich hätte vielleicht ein Problem im Fuß, aber dieses »quak, quak«, dieses froschartige Geräusch, setzte sich bei jedem Schritt fort. Als ich in den Sand heruntergriff, fühlte er sich eher wie fein gemahlenes Mehl an. Sobald ich aber meine Hand öffnete, fiel der vermeintliche Sand nicht zu Boden, sondern flog mit dem Wind einfach davon. Wie sich herausstellte, handelte es sich nicht um Sand, also Quarzsand, sondern um reines Silikon, das in fein gemahlener Konsistenz auf natürlichem Wege irgendwie den Silikonstrand dieser Insel geformt hatte. Optisch sah er aus wie blütenweißer normaler Sandstrand. Es ist doch immer wieder bemerkenswert, welche Wunder die Erde für uns bereithält. Es war Urlaub und so verwarfen wir schnell aufkeimende Geschäftsideen zur Vermarktung des »Natursilikons« an Schönheitschirurgen etc.
Auf einer anderen Insel hatte sich unser Skipper Ralf nach intensivem Studium der Tidentabellen entschlossen, mit mir einen Landgang zu machen. Wir »parkten« unser Boot also zweihundert, dreihundert Meter vor der Küstenlinie dieser Insel und schipperten mit dem Dingi an Land. Inzwischen hatten, es war schon gegen Abend, zwei andere Segelboote auf ungefähr gleicher Höhenlinie zur Insel hin, aber in einigem seitlichen Abstand von uns, ihre Anker geworfen.
Wir blickten also abends vom schönen Südseestrand auf das blaue Meer hinaus. Wir hatten unseren Grill mit den Steaks aufgebaut, ein duftender Käsekuchen wartete nachher auf dem Boot auf uns. Da beobachtete ich ein merkwürdiges Phänomen. Die Lichter unseres Bootes, insbesondere das Licht oben am Mast, begannen sich mit dem Mast etwas eigenartig zu bewegen. Erfolgten die Bewegungen zunächst mit der Dünung sachte von links nach rechts, so kam es mir vor, als ob sie in diesem Lauf ab und zu stecken blieben, also an einer Stelle verharrten, um dann umso schneller die restliche Bahn abzulaufen. Es ergab sich also eine irgendwie ruckelige Bewegung. Nun mag man ja auf der südlichen Halbkugel sehr viele andere Gesetzmäßigkeiten erkennen, aber dieser Befund stimmte mich doch etwas besorgt. Kratzte das Boot etwa mit dem Schwert am Grund und verursachte das vielleicht die Friktionen? Konnte das sein? Ich fragte Ralf, ob vielleicht die Ebbe eingesetzt habe. Er aber versicherte mir, dass er alles genau studiert hätte, und dass wir uns beim »Parkieren« bereits in einer Ebbephase befunden hätten, der Meeresspiegel also nur noch ansteigen könne. Dies widersprach aber wiederum meiner Wahrnehmung, denn das Wasser hatte sich seit unserer Anlandung am Strand um mehr als zehn Meter Richtung Meer zurückgeschoben. Ich ermahnte Ralf dringlich zum Boot zurückzufahren, denn irgendwas schien hier nicht zu stimmen. »Vielleicht handelt es sich um die Vorboten eines Tsunamis, bei dem sich das Wasser auch entgegen der Tidentabelle zurückzieht?«, warf ich in die Runde, und zumindest das bewegte Ralf dazu, schnellstmöglich auf das Boot zurückzueilen. Dort holten wir den Anker ein und fuhren sicherheitshalber zweihundert Meter weiter hinaus in tieferes Gewässer, um dort erneut den Anker zu werfen.
Das Spektakel setzte sich fort, das Wasser ging offenbar mit einer doch unerwartet hohen Sinkrate zurück. Das ließ sich am besten bei einem Stück Käsekuchen von unserem Schiff aus beobachten. Denn die anderen beiden Schiffe, die immer noch in »erster Insellage« ihre Anker geworfen hatten, begannen nun auch mit ihren Lichtern am Mast in ruckelige Bewegungen zu verfallen. Irgendwann beschränkte sich diese Bewegung nicht mehr auf einen von links nach rechts gleichmäßig verlaufenden 100 Grad Winkel, sondern verlagerte sich auf eine einzige Seite des Bootes. Das hieß, die Lichter – inzwischen war es schon recht dunkel – bewegten sich, militärisch gesprochen, nur noch von 1 Uhr bis vielleicht 2 Uhr und dann immer mehr in Richtung 3 Uhr. Dann erreichten uns hektische Funkrufe: »Mayday, Mayday, Mayday. We are dipping, we are dipping, we are dipping!«, waren die Meldungen, die bei uns immer aufgeregter eingingen. Doch wir konnten auch nichts gegen die physikalischen Gesetzmäßigkeiten ausrichten. So zogen wir es vor, von unserem Aussichtspunkt aus das Ganze erst einmal in Ruhe zu beobachten, das Rotweinglas, wie einen Rettungsring, in der Hand. Irgendwann lagen die beiden fremden Schiffe völlig auf dem Trockenen, seitwärts auf dem Sand, wie zwei schlafende Walrösser. Dies war nicht weiter gefährlich, sah aber doch irgendwie drollig