Flusenflug. Peter Maria Löw
Studium in Frankreich war, wie erwartet, kurzweilig und spannend, auf den zahlreichen Partys und Festen war der doch sehr formalistische, deutsche Universitätsbetrieb bald vergessen. Und gegen Ende unseres letzten Terms6 kamen sie dann alle, die Großkonzerne und Investmentbanken, die Headhunter und Unternehmensberater. Alle wollten uns haben, uns, die Deutschen mit den mehreren Studiengängen, den Doktortiteln und den Fremdsprachenkenntnissen. Teil unseres Plans war es immer schon gewesen, nach den Studien erst einmal in einer Angestelltenposition zu starten, um dort zu lernen und dort auch unsere ersten Fehler machen zu können. Erst danach wollten wir es alleine wagen. Was? Das wussten wir auch nicht, noch nicht, aber mit Gottvertrauen …
Ich entschied mich schließlich für die Unternehmensberatung. Mit McKinsey & Co. Inc. handelte ich, da ich mehrere Job-Offers hatte, alle möglichen Sonderkonditionen aus und startete am 6. Januar 1992 am deutschen Hauptquartier in Düsseldorf, als waschechter McKinsey-Associate.
Martin hatte bereits sieben Monate vorher auf die IMM gesetzt, die Industrie Management München. Seine Gesellschaft war eine der ersten M&A-Boutiquen7 in Deutschland und hatte sich darauf spezialisiert, Büromaschinenhändler systematisch aufzukaufen, um daraus einen Büromaschinenhandelskonzern zu schmieden. Deren Vorstand, Dr. Hans Albrecht, hatte vor Jahren ebenfalls bei INSEAD studiert. Er hatte dann Martin bei dem obligatorischen Bewerbungsinterview für die Zulassung zum INSEAD kennen- und schätzengelernt und den Kontakt gehalten. So bot er Martin also am Ende der Business School eine interessante Stelle an, nämlich mit ihm selbst als Chefakquisiteur die nun anstehenden Unternehmenskäufe durchzuführen. Gemeinsam erwarben sie in den nächsten neun Monaten an die 20 Unternehmen für die IMM. Martin erlernte das A und O des Firmenkaufs, das Screening nach guten Gelegenheiten, die Kontaktaufnahme, die Due Diligence8-Phase, die Analysen, die vertraglichen Gestaltungen, das Signing und das Closing9 und alles das, was danach kam. Inzwischen hatte Martin auch geheiratet und das erste Kind sollte demnächst auf die Welt kommen. Ich als »Rumtreiber« war zwar nicht »single«, aber immer noch ledig.
In diesen jeweiligen Lebenssituationen stehend, trafen wir uns also an jenem April im Jahre 1992 auf dem Nockherberg in München, so wie wir es jedes Jahr zu tun pflegten. Es war relativ heiß an diesem Nachmittag und das kühle Bier, das eiskalt in großen Steinkrügen serviert wurde, erfüllte genau das, was man von einer Erfrischung erwartete. Bereits eineinhalb Stunden waren verflossen und wenn man als »gesundes« Maß für einen vernünftigen Bierkonsum eine Maß10 pro Stunde festlegt, so hatten wir das Vernünftige schon ein wenig überschritten. Vier leere Krüge, vielleicht noch zu einem Achtel mit einer lauwarmen, dunklen Flüssigkeit gefüllt, die auch beim besten Willen nicht mehr getrunken werden konnte, lungerten wie Fremdkörper auf dem Tisch. Ob das »Noagerl« noch verdunsten musste, bis jemand die »Steine« holte?
Der guten Laune tat das alles keinerlei Abbruch. Das erste Bier hatte bereits kurz nach unserer Ankunft verführerisch auf dem Tisch gestanden. Die warme Luft kondensierte am eiskalten Steingut und zahlreiche Tröpfchen liefen schließlich in kleinen Bächlein vereint am Krug herab. Die Gespräche kreisten zunächst um private Themen. Martin war frisch verheiratet und Nachwuchs kündigte sich an. Ich, als Single, berichtete von dem ein oder anderen Abenteuer mit dem anderen Geschlecht. Wir scherzten über Bekannte und weniger Bekannte. Martin berichtete fröhlich von seinen Akquisitionen bei der IMM und wie spannend doch alles und wie zufrieden er vor allen Dingen sei. Ich erzählte von McKinsey, meinem Swarovski-Projekt in der großen weiten Welt und was wir dort schon alles erreichen konnten und wie zufrieden ich doch wirklich sei, und, und, und …
Da kam das zweite Bier. »Eigentlich«, Martins Stimme klang mit einem Mal ganz fremd, »eigentlich wollten wir uns doch selbständig machen, nicht wahr?« Nachdenkliches Kopfnicken von mir. Es entspann sich eine Diskussion über Vor- und Nachteile des Angestelltendaseins. Klar, wir verdienten überdurchschnittlich gut, klar, wir hatten beide eine spannende Tätigkeit, aber wirklich frei? Ich erzählte von einem Vorgesetzten, der »dumm wie Bohnenstroh« sei und dem ich alles erklären müsse. Und wie nervig es sei, wenn er, nur um seine Autorität zu wahren, unsinnige Entscheidungen durchsetzte – par ordre du mufti. Martin erzählte, wie wenig er am Erfolg der IMM eigentlich beteiligt werde, obwohl er doch einen Hauptanteil daran leiste. Lob gebe es auch nur selten. So einigten wir uns erst einmal auf die Formel: Jammern auf hohem Niveau.
Dann wurde es doch noch ein wenig ernster. Wenn wir noch länger auf diesen Angestelltenpositionen blieben und immer weiter befördert und mit weiteren Incentive-Paketen versorgt würden, dann würde es uns immer schwerer fallen, uns selbständig zu machen. Das Risiko des Verlustes einer sicheren und hochdotierten Stelle gegenüber der unsicheren Chance einer erfolgreichen Unternehmerschaft würde von Jahr zu Jahr steigen. Und irgendwann – mit Familie und Kindern – wäre ein Wechsel oder gar ein Neustart fast schon verantwortungslos. Und dann würden auch wir zu Angestelltentrotteln in Managementpositionen mutieren, die sich auf Kosten aller anderen im System nach oben boxen und ihren Charakter von Jahr zu Jahr mehr deformieren, bis sie nur mehr eingebildete Schatten ihrer selbst sind. Davon kannten wir einige.
Das dritte Bier nahte und nahm uns wieder die Ernsthaftigkeit. Die ausgelassene Stimmung kehrte zurück. Nach dem ersten Prost sprang Martin völlig unerwartet auf und es platzte aus ihm heraus: »Dann machen wir es einfach jetzt!«
Eine unheimliche Euphorie brach aus. »Genau, denen zeigen wir es. Was die können, können wir schon lange« und ähnliche geistvolle Sätze wechselten über den Tisch, wie die Bälle in einem Tennismatch. Doch was wollten wir eigentlich machen?
»Wir kaufen Firmen, wie es die IMM macht!« Die hätten auch ohne eigenes Geld doch inzwischen ein ganz schönes Portfolio, mit Investoren und Investmentbanken und allem Pipapo. Martin solle die Akquisition übernehmen, das könne er ja inzwischen, und ich? Ich als wichtiger Unternehmensberater, der ganze Konzerne betreute, würde mich dann um das Operative kümmern. In Windeseile hatten wir in unserer Fantasie einen riesigen Konzern geschmiedet. Wir hörten die Cashflows11 förmlich rauschen. Und dann wären wir frei, frei von Zwängen, frei von Geldnöten und könnten tun und lassen, was immer wir wollten.
Jäh wurden wir aus unseren Träumen gerissen. Die Böllerschützen feuerten eine Breitseite und selbst die Ameisen schienen sich zu erschrecken. »Ja, und was kaufen wir eigentlich genau und vor allen Dingen, wovon?«, fragte ich schüchtern. »Das geht schon«, meinte Martin, der erfahrene Firmenkäufer, »irgendwie. Wenn man erstmal eine gute Firma am Haken und ein gutes Konzept in der Tasche hat, dann klappt das auch mit der Finanzierung.« »Und was kaufen wir?«, insistierte ich. »Büromaschinenhändler natürlich,K o p i e r e r h ä n d l e r«, donnerte es mir entgegen. »Ich habe noch eine Liste kleinerer Kandidaten, die für die IMM uninteressant waren. Die wären doch was für uns, zum Einstieg.«
Wie lange das denn dauern würde? Martin, der zukünftige Familienvater, wurde ein wenig nachdenklich. »Es kann schon etwas dauern. Man müsste halt auch intensiv suchen, hmm … Ich müsste natürlich bei der IMM kündigen, auch wegen der Interessenkonflikte. Und dann noch vier Monate oder ein Jahr oder mehr, wer weiß?« »Aber wie willst du denn dann überleben und deine Familie ernähren?« Ich dachte kurz nach und hatte die Lösung: »Wir machen es so. Du kündigst bei der IMM und ich gebe dir einfach die Hälfte meines Gehalts. Dann hast du Zeit, so schnell wie möglich ein Target zu finden, und ich verdiene eben für uns beide.« Das war doch ein Deal!
Ohne je ein Unternehmen auf eigene Rechnung gekauft zu haben, ohne irgendwelche Erfahrung im Management kleinerer Gesellschaften, ohne irgendwelche Finanzmittel oder Geldgeber im Rücken, ganz auf uns gestellt, aber mit viel Optimismus und einer großen Risikobereitschaft hatten wir uns geeinigt. Wir waren entschlossen, unsere sicheren Existenzen aufs Spiel zu setzen, auch wenn objektiv betrachtet das Risiko und die Opferbereitschaft bei Martin deutlich höher waren. Aber, es würde schon gut gehen. Wo ein Wille ist …
Dann kam die vierte Maß und beseelt von unserem Entschluss wurde es wieder sehr lustig.
4Johann Wolfgang von Goethe, Faust. Der Tragödie erster Teil, 1808.