Buddhismus und kindliche Spiritualität. Alexander von Gontard

Buddhismus und kindliche Spiritualität - Alexander von Gontard


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ist ein halb-immergrüner Baum, der bis zu 30 m hoch wachsen kann. Die Blätter verjüngen sich zu einer Spitze hin und scheinen sich immer im Wind zu bewegen. So stark war die Auswirkung von Buddhas Erleuchtung unter dem Pipalbaum, dass er die nächsten sieben Tage danach in einem Zustand der Gelassenheit und Heiterkeit verblieb.

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      Abb. 4: Geschmückter Pipalbaum auf dem Gelände des thailändischen Klosters in Sarnath, Indien. Der Pipal- (oder Bodhi-)baum ist zum Symbol der Erleuchtung des Buddha geworden und findet sich in vielen buddhistischen Klöstern und Tempeln.

      Nach mehreren Wochen der Meditation lief er zu Fuß 210 km nach Sarnath, einem Dorf nördlich von Varanasi. 56 Tage nach seiner Erleuchtung hielt er seine erste Lehrrede in Sarnath vor seinen fünf ehemaligen Anhängern, die ihn während seiner asketischen Periode begleiteten. In dieser ersten wichtigen Rede, die als »Rede des Drehens des Rades« bekannt wurde, umriss der Buddha die Sinnlosigkeit der Extreme von Sinnesfreuden wie auch Selbstquälerei und zeigte die Lösung des mittleren Weges auf. Auch formulierte er zum ersten Mal die Essenz seiner Lehren, nämlich die vier edlen Wahrheiten, die im dritten Teil dieses Buches erläutert werden.

      Während dieser ersten wichtigen Lehrrede erlangte einer seiner Anhänger ein volles Verständnis und bat darum, als Mönch ordiniert zu werden. Im weiteren Verlauf wurden immer mehr Menschen durch die Lehren des Buddha berührt und angesprochen, sodass die Zahl der Mönche kontinuierlich anwuchs. Wie auch heute wurden Menschen damals von den weisen, nicht dogmatischen, nicht dualistischen und befreienden Wahrheiten des Buddha angezogen, die einfach auf der eigenen empirischen Erfahrung beruhten.

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      Abb. 5: Die erste Lehrrede des Buddha in Sarnath, Indien (Thai Monastery, Sarnath). Die typische Handhaltung deutet an, dass das Rad der Lehre zum ersten Mal gedreht und der mittlere Weg beschrieben wurde – für alle Menschen zu verstehen und zu praktizieren: Kinder, Jugendliche und Erwachsene.

      Ich fühle mich besonders hingezogen zu diesem Dorf von Sarnath, wo Christopher Titmuss und andere Lehrer jedes Jahr Meditationsgruppen und Reden anbieten. Ich besuchte Sarnath das erste Mal im Jahr 2007, mitten in einer persönlichen Krise, und wohnte unter sehr einfachen Bedingungen in dem thailändischen Kloster. Sarnath war damals ein verschlafenes Dörfchen, nur wenige Kilometer außerhalb von Varanasi, der heiligen Stadt der Hindus. Verschiedene buddhistische Länder (wie Thailand, Burma, Japan, China und Tibet) haben dort Klöster erbaut. Während der Meditation war ich tief berührt durch die Erkenntnis, dass nur wenige Meter entfernt der Buddha auf der gleichen Erde gesessen hatte und seine erste Lehrrede für seine fünf Anhänger aus seiner asketischen Zeit gehalten hatte. Die Ruinen alter buddhistischer Tempel und Klöster sind noch vorhanden und werden in einem archäologischen Gelände beschützt. Eine 44 m hohe, große Stupa steht dort, wo Buddha seine erste Lehrrede gehalten hatte, in der er erläuterte, dass der mittlere Weg der weiseste und lebensbejahendste Weg durchs Leben war – nicht die Extreme der Verwöhnung oder der asketischen Entsagung. Mit dieser Grunderkenntnis setzte ich mich damals intensiv auseinander.

      Selbst wenige Jahre später hatte sich Sarnath enorm verändert. Ich kehrte in den Jahren 2012 und 2015 wieder zurück. Der Verkehr und die Bevölkerungszahl hatten deutlich zugenommen. Zusätzlich hatte sich Sarnath zu einem beliebten Heiratsort für hinduistische Hochzeiten entwickelt. Diese sind laute Ereignisse, bei denen durch riesige Lautsprecher indische Bollywood-Lieder in maximaler Lautstärke abgespielt werden. Dieses Mal war es eine große Herausforderung, in der Meditation nicht auf die laute Musik zu reagieren und zu akzeptieren, dass wirklich alles im relativen Leben sich verändert, sich konstant verändert – auch in Sarnath.

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      Abb. 6: Das Bild zeigt den Buddha, den Erleuchteten, in tiefer Meditation mit geschlossenen Augen und einem friedlichen, lächelnden, gelassenen Gesichtsausdruck. Diese wunderschöne Skulptur seines Kopfes ist geschmückt durch Blattgold, das durch Pilger gespendet wurde. Eine Kette mit Blumen wurde zur Ehrerbietung auf dem Podest abgelegt. Dieser Kopf des Buddha ist nicht mehr direkt zugänglich, sondern wurde auf einer großen Statue des stehenden Buddha platziert, mitten im Gelände des thailändischen Klosters in Sarnath, dem Ort der ersten Lehrrede des Buddha.

      Wie lebte der Buddha nach seiner ersten berühmten Lehrrede weiter? Er blieb weiterhin ein Wandermönch für den Rest seines Lebens und verbrachte nur die Regenzeiten in festen Hütten, wodurch die ersten Klöster gegründet wurden. Er sprach frei mit jedem, der ihn fragte, und versammelte eine zunehmend große Zahl von Anhängern sowohl von Mönchen, später auch Nonnen und Laien. Wie wir später sehen werden, sprach er vor allem mit Erwachsenen, selten mit Jugendlichen oder Kindern. Bevor wir uns mit weiteren Inhalten seiner Lehren befassen, soll zunächst die zweite Linie der Kindheit des Buddha aufgezeigt werden, d. h. des mythologischen und verdichteten, aber nicht historischen Buddha.

      Der mythologische Buddha

      Im Gegensatz zum historischen Buddha hört sich seine Hagiographie, d. h. seine Heiligengeschichte aus anderen buddhistischen Texten ganz anders an. Wie Strong (2009) treffend bemerkte, gibt es nicht eine einzige Biografie des Buddha, sondern unterschiedliche Version der gleichen Geschichte:

      »Es gibt nicht eine einzige Biografie des Buddha und jede buddhistische Erzählung wurde beeinflusst durch historische Wiedererinnerungen, religiöse Gewichtungen, rituelle Berücksichtigungen, politische Bündnisse, soziale und kulturelle Faktoren oder einfach durch den Wunsch, eine gute Geschichte zu erzählen« (Strong 2009, S. xii).

      In anderen Worten, die Episoden aus dem Leben des Buddha, die besonders inspirierend waren, wurden wiederholt erinnert und rekonstruiert, um letztendlich seine mythologische Biografie zu formen. Strong argumentiert:

      »Zusammengenommen ergeben diese Geschichten eine heilige Biografie, oder besser gesagt, mehrere heilige Biografien, da wir sehen werden, dass es viele verschiedene Versionen der Geschichten über den Buddha gibt. Diese Erzählungen können erdichtet sein, d. h. Legenden und Traditionen, die ständig um ihn herum anwuchsen, aber diese ›Dichtungen‹ sind in vielerlei Hinsicht wahrer oder aus religiöser Sicht sinnvoller als die wirklichen ›Fakten‹« (Strong 2009, S. 2).

      Strong deutet hiermit an, dass Mythologie für die menschliche Seele inspirierender sein kann als die eigentlichen historischen Fakten.

      Indem man die wahre Person des Siddhartha Gautama und später des Buddha verlässt, verlässt man auch die Arena der Biografie, Psychologie und Geschichte und tritt auf die Bühne des Glaubens, der Mythologie und der archetypischen Bilder. Strong interpretiert diese übernatürlichen, detailliert ausgearbeiteten magischen Geschichten als selbsterfüllende Erzählungen, die sich entwickelten, indem die Orte des Lebens des Buddha sich langsam zu wichtigen Pilgerstätten entwickelten:

      »Diese Art des Details spiegelt das gleichzeitige und symbiotische Wachstum von sowohl biografischen, wie auch Pilgertraditionen wider. Einerseits wurden die Orte als Plätze etabliert, an denen sich bestimmte Geschichten ereignet hatten; andererseits wurden Geschichten erzählt, um die Existenz bestimmter Pilgerorte zu erklären. Dies war ein Prozess, der sich leicht selbst verstärken konnte, denn sobald ein Ort als heilig anerkannt wurde, konnte jede ungewöhnliche topographische Eigenschaft der Gegend als Ausgangspunkt für eine neue Geschichte genügen« (Strong 2009, S. 9).

      Nach dieser mythologischen Tradition war der Buddha nicht eine einzigartige historische Person. Im Gegenteil gab es eine riesige, weitergehende Abstammungslinie von einer Unzahl an Buddhas – d. h. Siddhartha Gautama hatte sowohl Vorgänger wie auch Nachfolger. Dies bedeutet, dass eine Sequenz von Hunderten, selbst Tausenden von Buddhas existiert. Strong hat eine Liste der 25 wichtigsten vorherigen Buddhas (aus nicht weniger als 512 024 Buddhas) zusammengestellt, beginnend vor unermesslichen, vorherigen 100 000 Äonen bis zum gegenwärtigen Äon (Strong 2009, S. 26–29).

      Nach verschiedenen Legenden und Traditionen wird behauptet, dass der Buddha sich sorgfältig auf seine Wiedergeburt vorbereitet hätte.


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