Buddhismus und kindliche Spiritualität. Alexander von Gontard

Buddhismus und kindliche Spiritualität - Alexander von Gontard


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landwirtschaftlich bebautes und schönes Land gewesen sein – ganz anders als moderne indische Städte mit Krach, verstopften Straßen, Luftverschmutzung, Plastikmüll an den Straßenrändern und vielen Menschen.5 Vermutlich war es ähnlich wie das ländliche Indien, das ich als Kind erlebt habe. Ich kann mich noch an Büffelkarren mit zwei riesigen Rädern aus Holz erinnern, umherirrende Kühe (obwohl Kühe zu den Zeiten des Buddha noch nicht als heilig angesehen wurden) (siehe Schumann 2004, S. 236), Lehmhütten, Bauern auf den Feldern, Dorfbrunnen, der Geruch von Feuern aus Kuhdung – und natürlich keine Elektrizität. Könnten die Dörfer so ähnlich gewesen sein vor so langer Zeit?

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      Abb. 1: Dorf in Sarnath, Nordindien. Hier gab der Buddha seine erste Lehrrede. Ländliches Dorfleben hat sich seit den Zeiten des Buddha in Indien kaum verändert.

      Wie Schumann (2004) aufzeigte, lehrte der Buddha überwiegend nicht in Dörfern, sondern in den Städten: »Reflektieren die ältesten literarischen Quellen der Inder, die Veden, ländliche Lebensweise, so tritt uns in den buddhistischen Schriften das Bild einer städtischen Kultur entgegen. Von Dörfern und Bauern ist zwar auch die Rede, aber vor allem die Städte bilden die Kulisse der Mission des Buddha, sie sind die Schwerpunkte eines blühenden merkantilen und politischen Lebens« (Schumann 2004, S. 14). Diese waren völlig anders als moderne indische Städte. Oft waren sie Festungen und wurden umringt von hohen Stadtmauern und Wassergraben. Sie lagen oft bei Flüssen und hatten Paläste, Basare und Wohnbereiche. Außerhalb der Städte trafen sich Wanderer in Parks und Gärten (Schumann 2016, S. 38ff.).

      Das sechste Jahrhundert vor Christus war eine Zeit des spirituellen Umbruchs und der Reaktion gegen etablierte religiöse Tradition, die zu dogmatisch und mechanistisch geworden waren. Die Zeit war reif für eine Veränderung, durchaus vergleichbar mit den sozialen Umbrüchen und spirituellen und politischen Infragestellungen der 1960er Jahre. Siddhartha Gautama war zu dieser Zeit nicht der einzige Begründer einer spirituellen Tradition. Wie Schumann erläutert, hatte der Buddha mehrere spirituelle Konkurrenten, von denen Mahavira der bekannteste war. Er war der Begründer des Jainismus, einer hoch asketischen religiösen Sekte, die noch heute viele Anhänger in Indien hat, aber weniger Anziehung auf den Westen ausübt.

      Zu dieser Zeit wurde Nordindien in Königreiche und Republiken aufgeteilt. Es ist interessant, dass Siddhartha Gautamas Vater nicht ein König war, sondern ein Herrscher der Republik der Sakyas, die heutzutage an der Grenze von Nordindien und Nepal liegt. Die Sakyas waren Krieger, Verwalter und Richter, die ihren Präsidenten wählten. Damals stand die Kriegerkaste gesellschaftlich höher als andere Kasten, wie zum Beispiel die Brahmanen, die Priester. Suddhodana, der Vater von Siddhartha Gautama, war somit ein gewählter Herrscher. Und Siddhartha Gautama war sein erster Sohn (Schumann 2004, S. 18).

      Nach den historischen Legenden war seine Mutter Maya bei seiner Geburt schon 40 Jahre alt. Auch heute ist die erste Geburt einer 40-jährigen Mutter mit höheren Risiken sowohl für die Mutter wie auch für das Kind vor, während und nach der Geburt verbunden. Maya wollte ihr Kind zu Hause bei ihren Eltern entbinden. Sie reiste mit einem Büffelkarren über staubige und heiße Straßen, aber erreichte ihr Elternhaus nicht rechtzeitig. Ihr Sohn Siddhartha Gautama wurde unterwegs in Lumbini (Süd Nepal) geboren. Maya stand dabei aufrecht und hielt sich an den Zweigen eines Salbaums fest, ohne medizinische Unterstützung. Der Salbaum ist ein immergrüner Hartholzbaum, der bis zu 30–35 m hoch wachsen kann. Er ist weit verbreitet im indischen Subkontinent und hat große grüne Blätter. Seit der Geburt des Buddha ist der Salbaum ein Symbol der Vergänglichkeit im Buddhismus.

      Maya war nach der Geburt erschöpft und fuhr in ihre Heimatstadt Kappilavathu. Während es dem Baby gut ging, entwickelte Maya Fieber und verstarb tragischerweise eine Woche später (Schumann 2004, S. 22). Selbst heutzutage ist die mütterliche Todesrate in Entwicklungsländern ohne ausreichende medizinische Versorgung sehr hoch. Nach den Statistiken der Weltbank hat sich die weltweite mütterliche Mortalität in den letzten 25 Jahren erfreulicherweise zurückgebildet. Dennoch gibt es selbst im Jahr 2014 weiterhin große Unterschiede zwischen einzelnen Ländern: Während die mütterliche Mortalitätsrate 6 zu 100.000 Lebendgeburten in Deutschland betrug (neun in Großbritannien und 14 in den USA), war sie in Indien mit 174 weiterhin sehr hoch (World Bank 2014). Man kann davon ausgehen, dass diese Rate zu den Zeiten des Buddha noch viel höher war, sodass viele Kinder schon kurz nach ihrer Geburt zu Halbwaisen wurden.

      Siddhartha Gautama hatte als neugeborener Halbwaise sehr viel Glück: Seine Tante und zukünftige Stiefmutter, die gerade seinen Halbbruder Nanda

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      Abb. 2: Relief mit Königin Maya während der Geburt ihres Sohnes, Siddhartha Gautama (Smithsonian National Museum of Asian Art, Washington, D. C.). Sie hält sich stehend an den Zweigen eines Salbaums fest. Die Geburt ihres Babys erfolgt von der rechten Seite ihres Körpers. Sein Kopf ist mit einem Heiligenschein umringt und er wird von einer Hebamme empfangen. Nach Legenden handelt es sich um den Gott Indra.

      entbunden hatte, schaute nach ihm, umsorgte und stillte ihn, sodass er zu allen Zeiten versorgt wurde und niemals ohne mütterliche Bezugsperson war.

      Die Arbeit von Fisher (2015) gibt einen guten Überblick über Studien zur Adoption und zu Pflegefamilien. Pflege- und Adoptivkinder haben insgesamt ein erhöhtes Risiko für negative Entwicklungen, einschließlich psychischen Störungen, Entwicklungs- und neurologischen Auffälligkeiten, vor allem, wenn sie vernachlässigt waren und multiple Bezugspersonen hatten. Wenn sie gut umsorgt waren, sind die Entwicklungsrisiken gegenüber anderen Kindern nicht erhöht. Im Gegenteil, manche Kinder entwickeln eine erhöhte Resistenz gegenüber Krisen, was ein protektiver Faktor für das gesamte Leben ist. Man kann deshalb davon ausgehen, dass Siddhartha Gautama von seiner Stiefmutter gut umsorgt wurde, sodass er nicht notwendigerweise durch den frühen Tod seiner leiblichen Mutter belastet war.

      Nach den Legenden wurde der neugeborene Siddhartha Gautama im Alter von drei Tagen durch einen weisen alten Mann namens Asita empfangen, der vorhersagte, dass er ein Buddha, eine erleuchtete Person, werden würde. Acht andere brahmanische Priester sagten ebenfalls voraus, dass dieses Kind erfolgreich sein würde – entweder im Bereich der Religion als ein Buddha (d. h. ein Erleuchteter) oder im weltlichen Bereich als Herrscher.

      Wahrscheinlich waren beide Voraussagen besorgniserregend für seinen Vater, der den Verlust seiner Frau betrauern musste und sich wahrscheinlich nichts mehr wünschte, als dass sein Sohn in seine Fußstapfen treten und wie er ein weiser Herrscher werden würde. Diese elterlichen Wünsche können als Projektion verstanden werden. Projektionen sind Erwartungen, die Eltern oft unbewusst in sich tragen und auf ihre Kinder projizieren. Sie können positiv oder negativ sein, realistisch oder unrealistisch. Projektionen sind nicht problematisch, wenn sie einen positiven Inhalt haben und realistisch sind. Jedoch können sie nachteilig sein, wenn negative Gefühle, ungelöste eigene Konflikte und Schwierigkeiten wie Trauma und Misshandlung von Eltern auf Kinder projiziert werden.

      Kinder sind somit immer Empfänger von Projektionen ihrer Eltern: »In allen Kontexten werden Kinder mit hoher Wahrscheinlichkeit eine ordentliche Dosis elterliche Projektionen empfangen und müssen diese Erwartungen ertragen« (Sasson 2013, S. 11). Wenn sich elterliche Erwartungen, das kindliche Temperament und die Kernpersönlichkeit deutlich unterscheiden, kann dies problematisch sein. Wie wir gesehen haben, wurde Siddhartha Gautama von klein auf optimal umsorgt und materiell in jeder erdenklichen Weise verwöhnt, was seinerseits auch für die Entwicklung im Jugendalter problematisch sein kann. Einer Studie zufolge strebten reiche amerikanische Jugendliche eher nach äußerlichem Erfolg und hoher Leistung. Um beliebt zu sein, legten reiche Mädchen großen Wert auf ihre äußere Erscheinung, während Jungen eine höhere Wahrscheinlichkeit für Substanzmissbrauch oder antisoziales Verhalten entwickelten, um Anerkennung durch Gleichaltrige zu erlangen (Miller 2012, S. 224–225).

      Zum Glück erlag Siddhartha Gautama nicht den Versuchungen seines Reichtums. Allerdings erfüllte er nicht die Erwartung seines Vaters, dessen Projektionen sich so sehr von seinem Temperament unterschieden.


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