Buddhismus und kindliche Spiritualität. Alexander von Gontard
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Wir alle sind in diese Welt eingetreten ohne eigene persönliche Wahl oder Aktivität, wir leben unser Leben und werden es zu einem zukünftigen Zeitpunkt wieder verlassen durch unseren Tod. Die spirituelle Dimension dagegen ist immer vorhanden – vor, während und nach dem Leben. Sie ist spirituell oder »ungeboren«, wie der Buddha es bezeichnete.
Das kleine Mädchen in dem Traum deutet auf diese Dimension hin, da sie noch »ungeboren« ist. Zur gleichen Zeit ist sie sehr lebhaft und ein perfektes Symbol für das »göttliche Kind«, der Begriff, den Carl Gustav Jung wählte für eine der liebenswertesten und wichtigsten Archetypen der menschlichen Psyche, die einen Neuanfang, Ganzheit und zukünftige Entwicklungen ausdrückt: »Ein wesentlicher Aspekt des Kindmotives ist sein Zukunftscharakter. Das Kind ist potentielle Zukunft« (Jung 1995, 9/1, § 278).
Zuletzt, in einer sehr eingeschränkten Bedeutung ist dieses kleine Mädchen im Traum auch ein Symbol für dieses Buch: Ursprünglich ungeboren, ist es ins Leben eingetreten und der Prozess des Schreibens war sowohl anregend wie auch herausfordernd. Es war in vielen Hinsichten eine neue Erfahrung. Üblicherweise bin ich sehr vertraut mit den Einschränkungen des akademischen Schreibens. Im Gegensatz dazu ist dieses Buch viel freier und beruft sich auf ein breites Spektrum von Quellen, sowie persönlichen und professionellen Erfahrungen.
Als Kinder- und Jugendpsychiater, Psychotherapeut und Kinderarzt hatte ich über 35 Jahre das Privileg, Kindern und ihren Familien zuzuhören und sie in lebensbedrohlichen und existenziellen Krisen sowie körperlichen und psychischen Erkrankungen zu begleiten. Andererseits war es mir auch möglich, Momente des Glücks, der Begeisterung und Leichtigkeit mit ihnen zu teilen. Allein indem ich offen und gegenwärtig war, wurde ich beschenkt durch das Vertrauen und die Offenheit, die mir junge Menschen entgegenbrachten, um mit ihnen zusammen ihre spirituelle Dimension zu erkunden. In diesem Zusammenhang des gemeinsamen Erfahrens und Teilens war Spiritualität niemals esoterisch oder spekulativ, sondern immer sehr real, wirklich und gültig. Spiritualität ist wirklich empirisch (d. h. auf Erfahrung und Erkenntnis beruhend) und phänomenologisch (d. h. basierend auf deskriptiven Phänomenen). Wie der australische Jung’sche Analytiker David Tacey bemerkte: »Spiritualität fragt nicht nach Beweisen, da der Beweis in der Erfahrung an sich liegt« (Tacey 2004, S. 164). Dies ist genau der pragmatische Zugang des großen amerikanischen Psychologen William James (1842–1910), dessen klassisches grundlegendes Werk »The varieties of human experience« (2012, erstmals 1902 veröffentlicht) nach wie vor so modern, klar und bodenständig erscheint. Wie James es überzeugend darlegt, kann Spiritualität exploriert, beschrieben und mitgeteilt werden – wie alle anderen Phänomene der Psyche.
Eine zweite Inspiration für mich waren die Einsichten des Schweizer Psychiaters und Analytikers Carl Gustav Jung (1875–1961). Ich kann mich sehr gut daran erinnern, als ich das erste Mal seine Schriften las – nicht auf Deutsch, wie sie ursprünglich veröffentlicht wurden, sondern auf Englisch. Als Jugendlicher, lange bevor ich überhaupt daran dachte, als Arzt und Psychotherapeut zu arbeiten, fand ich sein Buch »Modern man in search of a soul« in einem kleinen Antiquariat in Windsor, England.2 Vor kurzem nahm ich dieses Buch in meine Hände und sah wieder, wie der Buchhändler mit Bleistift die Worte »neu« (obwohl das Buch mehrere Jahrzehnte alt war, nämlich aus dem Jahr 1934) und »1,25 Pfund« auf die Innenseite geschrieben hatte. Ich fand auch Zitate wieder, die für mich damals wichtig waren und die ich unterstrichen hatte. Bezüglich der Traumsymbolik schrieb Jung: »Es ist praktisch unendlich viel ratsamer, die Symbolik des Traumes nicht semiotisch, d. h. nicht als Zeichen oder Symptom von feststehendem Charakter, sondern als wirkliches Symbol, nämlich als Ausdruck eines im Bewusstsein noch nicht erkannten und begrifflich formulierten Inhaltes und zudem als relativ zur jeweiligen Bewusstseinslage zu betrachten« (Jung, 1995,16, § 339). Und weiter: »Die wissenschaftliche Feststellung ihrer Natur ist nur durch vergleichende mythologische, folkloristische, religions- und sprachgeschichtliche Untersuchungen möglich« (Jung, 1995, 16, § 351.).
Und schließlich: »Verstehen wir überhaupt je, was wir denken? Wir verstehen bloß jenes Denken, das nichts ist als eine Gleichung, aus der nie mehr herauskommt, als wir hineingesteckt haben. Das ist der Intellekt: Über ihn hinaus aber gibt es ein Denken in urtümlichen Bildern, Symbolen, die älter sind als der historische Mensch, ihm seit Urzeiten angeboren und alle Generationen überdauernd, ewig lebendig unter Gründe unserer Seele erfüllend. Volles Leben ist nur in Einstimmung mit ihnen möglich, Weisheit, Rückkehr zu ihnen. Es handelt sich in Wirklichkeit weder um Glauben noch um Wissen, sondern um die Übereinstimmung unseres Denkens mit den Urbildern unseres Unbewussten …« (Jung 1995, 8, § 794).
Ich war erstaunt und entzückt über das, was ich als Jugendlicher gelesen hatte. Spiritualität, oder wie Jung es ausdrückte, das »Numinose«, ist eine grundlegende archetypische Erfahrung der menschlichen Seele, die in Symbolen ausgedrückt werden kann. Jung ist seit dieser Zeit für mich eine wesentliche Inspiration, die Spiritualität nicht nur zu beschreiben, sondern auch in einem größeren Zusammenhang zu verstehen. Durch eine eigene Jung’sche Analyse und Ausbildung in Sandspiel-Therapie, die auf der analytischen Psychologie C. G. Jungs beruht, wurde Jung ein ständiger Begleiter in meiner professionellen Arbeit.
Eine dritte Quelle der Inspiration waren die Lehren des Buddha, wie in dem Untertitel dieses Buches ausgedrückt. Der amerikanische Psychoanalytiker Mark Epstein beschreibt den Buddhismus als »die psychologischste der Weltreligionen und die spirituellste der Psychologien der Welt« (Epstein 1998, S. 16). Als eine historische Person, die vor 2500 Jahren in Nordindien lebte, beschrieb Siddhartha Gautama (sein Name vor seiner Erleuchtung) eine praktische, gleichzeitig universelle Möglichkeit, das Leben zu verstehen, die allen Menschen in jedem Alter und zu allen Zeiten zur Verfügung steht. Der Buddha oder der Erleuchtete, wie er nach seinen tiefen Erkenntnissen genannt wurde, teilte seine Erfahrungen großzügig mit allen. In einer offenen, gleichzeitig radikalen Art lud er Kinder, Jugendliche, Frauen und Männer ein, mit ihm radikal und ohne Kompromisse ihr Leben zu erkunden. Als Empiriker empfahl er, nur das zu akzeptieren, was man selbst für sich als wahr erkannt hat.
Als er einmal gefragt wurde: »Woher weiß man, wenn jemand die Wahrheit sagt«, antwortete er:
»Akzeptiere nichts nur aufgrund von mündlicher Weitergabe; wegen Traditionen; weil es wiederholt genannt wurde; weil es in Büchern, einschließlich heiligen Schriften niedergeschrieben wurde; weil es logisch und angemessen erscheint; aufgrund von Rückschlüssen und Schlussfolgerungen; da es durchdacht wurde; aufgrund von Akzeptanz und Überzeugung durch Theorie; da der Redner kompetent erscheint; aus Respekt für den Lehrer. Wisse, welche Dinge abgesegnet würden durch die Weisen und welche, wenn weiterverfolgt, zu Verletzung und Leiden führen würden« (Buddha: Kalama Sutra, zitiert nach Titmuss 1998, S. xi).
Zusätzlich zu diesem radikalen Hinterfragen betonte der Buddha den Wert von subtilen Zugängen zu Erkenntnissen durch Erfahrung und Meditation. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie ich es als Kind liebte zu meditieren. Ich lag auf meinem Rücken, verhielt mich still, schaute mit Erstaunen die Wolken an, das konstante Drehen, Aufbauen und Verändern der weißen Wolken, wie sie sich auf dem Hintergrund des blauen tropischen Himmels von Indien zeigten. Aufgewachsen im Heimatland des Buddha, haben die Bilder, Laute und Gerüche Indiens meine Kindheit von Geburt an durchtränkt und sind weiterhin lebendig und frisch. Veränderung, Bewegung und Unbeständigkeit (wie die sich konstant verändernden Wolken) können am besten in Stille erfahren werden und werden von vielen Kindern geschätzt. Wiederum sind diese meditativen Erfahrungen nicht esoterisch, sondern im wahren Sinn empirisch. Sie sind frisch, spontan und reflektieren damit die spirituelle Essenz der Lehren des Buddha. Diese Erfahrungen können spontan in Worten, Symbolen und im Spiel durch Kinder und Jugendliche ausgedrückt werden. In vielerlei Hinsicht sind Kinder und Jugendliche viel offener diesen tiefen Erfahrungen gegenüber als viele Erwachsene – in anderen Worten, sie sind die »Kinder des Buddha«.
Das Ziel dieses Buches ist es, die Frische und Lebendigkeit der Einsichten des Buddha zu vermitteln, die viele Kinder spontan erfahren. Das Buch reflektiert keine spezielle Schule oder Tradition des Buddhismus (es ist nicht konfessionsgebunden). Auch versucht es nicht, die Standards akademischer »Buddhologie«