Der FC Bayern und seine Juden. Dietrich Schulze-Marmeling
das Spiel auf dem Kontinent bis in das 20. Jahrhundert hinein seinen Eliten- und Mittelschichtcharakter.
Für die Historikerin Christiane Eisenberg verkörpert das frühe Fußballspiel »das spezifisch moderne Lebensgefühl der Jahrhundertwende, insbesondere der Aufsteiger und Selfmademen, die offen für alles Neue waren und sich um Konventionen wenig scherten. Für viele war der Gebrauch der englischen Sprache und die Imitation eines ›english way of life‹ auch der Versuch, sich von bestimmten überkommenen Mustern der eigenen Kultur wie z.B. der Turnbewegung mit ihrer Neigung zum Kollektivismus zu distanzieren.« Juden und Protestanten waren laut Eisenberg unter den ersten deutschen Balltretern auffällig stark vertreten.
Wie dieses Buch noch zeigen wird, wurde diese bürgerlich-modernistische Phase besonders eindrucksvoll vom FC Bayern repräsentiert.
Fußball war zunächst ein vorwiegend städtisches Spiel – anders als später Handball, das sich als Sportspiel der Turnbewegung und als deren Antwort auf den Fußball auf dem Land ausbreitete, da der Spielplatz in den urbanen Zentren bereits von den Kickern besetzt war. In Städten wie Berlin, Frankfurt oder München lebten besonders viele Juden. Und viele von ihnen zählten sich dort zum »modernen Bürgertum«, das liberal ausgerichtet war und sogenannten englischen »Modetorheiten« – wie »english sports« – frönte. Wobei »english« oder »british« mit »modern« zu übersetzen war. Detlev Claussen: »Die idealen Bürger, die das Bürgertum auch mit seinen Idealen ernst genommen haben, waren Juden. Und das hat man den Juden wiederum übel genommen. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – das war ja für das Ghetto eine konkrete Utopie! (…) Sehr viele europäische Juden waren im 19. Jahrhundert anglophil. Diese anglophile Geschichte gehört eng zur Geschichte des Judentums und der Emanzipation des Judentums in Europa. Dazu eben die ›english sports‹. (…) Die Juden, die ihre Kinder ausbilden wollten, haben sie nach England geschickt. Auf englische Internate oder englisch geführte Internate, die es z.T. auch in der Schweiz gab. Weil da wiederum so viele Kinder der Bourgeoisie aus ganz verschiedenen Ländern auf die Schulen kamen, haben sie schnell den Sport entdeckt.« Exemplarisch für die anglophile Einstellung deutsch-jüdischer Fußballpioniere sind John Bloch sowie die an der Vorgeschichte des FC Bayern beteiligten Walther Bensemann und Gustav Randolph »Gus« Manning.
Jüdische Pioniere:
John Bloch und Walther Bensemann
In den 1880er Jahren stand der in Birmingham geborene Bloch in Berlin dem English Football Club und dem Berliner Cricket Club 1883 vor, Klubs, in denen Berlins Engländer ihren Sport praktizierten. 1891 war Bloch die treibende Kraft hinter der Gründung des Deutschen Fußball- und Cricket Bundes (DfuCB), dem wohl wichtigsten Vorläufer des DFB. Bloch wurde auch Vorsitzender dieses dezidiert »anglophilen« Verbands.
Seit 1891 war John Bloch zugleich Herausgeber und Chefredakteur der ambitionierten Wochenzeitschrift »Spiel und Sport. Organ zur Förderung der Interessen aller athletischen Sports«. Der Journalist Malte Oberschelp weiß außerdem zu berichten, dass Bloch auch zu den Pionieren der Leichtathletik gehörte. 1893 konstituierte Blochs Berliner Cricket Club 1883 mit dem Hamburger SC Germania und drei weiteren Vereinen den Deutschen Athletischen Amateur Verband. Vorsitzender wurde der Jude Arthur Levy vom Hamburger SC, Bloch gehörte dem Vorstand als Beisitzer an.
Vor der Gründung des DfuCB war Bloch führendes Mitglied im 1890 gegründeten und 1892 wieder aufgelösten Bund Deutscher Fußballspieler (BDF) gewesen, wo es im Januar 1891 zu einem heftigen Disput zwischen einer »Pro-England-Fraktion« und einer konservativ-nationalistischen Gruppe um den Künstler Georg Leux gekommen war. Leux propagierte eine »Verdeutschung« des Spiels und schreckte auch nicht davor zurück, eine Meisterschaft nach »deutschen Regeln« einzuführen. An die Stelle von Toren sollten Punkte treten. Ein Einwurf war mit drei Punkten zu honorieren, ein Eckstoß mit fünf, für ein Tor sollte es 20 Punkte geben. Leux erhoffte sich von seiner Idee eine größere gesellschaftliche Akzeptanz des »englischen« Spiels.
Im November 1893 verlor der von Georg Leux gegründete BFC Frankfurt, Berlins ältester Fußballverein, ein DfuCB-Meisterschaftsspiel gegen Blochs English FC mit 1:5. Die Unterlegenen suchten die Schuld beim Schiedsrichter. Ein Protest des BFC wurde vom DfuCB-Vorstand um Bloch zurückgewiesen, woraufhin sich der BFC aus der Meisterschaft zurückzog. Als der Verband nun ein Ausschlussverfahren gegen den BFC einleitete, schürte dieser eine antisemitische Stimmung gegen den English FC und Bloch. Darauf deutet ein Schreiben hin, in dem sich sieben Klubs mit dem Verband solidarisierten: »Da (dem BFC, d. A.) Frankfurt die durchaus correcte Handlungsweise des Vorstands nicht die geringste oder vielmehr eine nicht genügende Handhabe bot, so mussten Nationalität und Religion einiger Bundesmitglieder den Grund zur Verhetzung bieten.« John Bloch zog aus der antienglischen und antisemitischen Hetze seine Konsequenzen und verzichtete auf eine erneute Kandidatur zum Vorsitzenden. Der English FC erklärte seinen Austritt aus dem DfuCB.
»In der Figur John Bloch«, so resümiert Malte Oberschelp, spiegele sich somit »nicht nur die enorme Bedeutung der deutschen und englischen Juden in der Frühzeit des deutschen Sports, sondern auch das antienglische und antisemitische Ressentiment, das ihnen entgegengebracht wurde«.
Ähnliches lässt sich über Walther Bensemann sagen. Bensemann, der beim Vorläufer des FC Bayern, der 1897 gegründeten Fußballabteilung des Münchner Männer-Turn-Vereins von 1879 (MTV 1879) mit von der Partie war, stammte aus einer wohlhabenden jüdischen Familie in Berlin, Vater Berthold war Bankier. Wie Bensemann-Biograph Bernd-M. Beyer schreibt, wuchs der Sohn »in einer weltoffenen, intellektuell wie kulturell anregenden Atmosphäre auf; seine Mutter soll Musikabende im heimischen Salon organisiert haben, und die verwandtschaftlichen Kontakte der Familie reichten bis nach Schottland«.
Walther Bensemann wird im Alter von zehn Jahren auf eine englische Schule in Montreux geschickt, wo ihn die englischen Mitschüler mit dem Spiel infizieren. Am Genfer See entwickelt Bensemann »eine Begeisterung für alles, was er für typisch englisch hielt: das Ideal des Fair Play, die vorurteilsfreie Offenheit eines Weltbürgers, die Selbstdisziplin und die Philanthropie des Gentleman, die Erziehung zum ›sportsman‹.« (Beyer)
1887 gründet Bensemann gemeinsam mit englischen Schülern seinen ersten Verein, den Montreux Football Club, als dessen »Sekretär« sich der 14-Jährige stolz bezeichnet. Zurück in Deutschland, gibt sich der angehende Student anglophil. In Karlsruhe, wo er nun besonders intensiv für den Fußball wirkt, firmiert er ob seines sportlichen Outfits als »der Engländer in Narrentracht«. 1899 organisiert Bensemann – im heftigen Widerstreit mit den meisten der damaligen Regionalverbände – die »Urländerspiele« gegen ein englisches Auswahlteam, nachdem er die Football Association zur ersten kontinentalen Tournee ihrer Geschichte überredet hatte. Zwei Jahre später geht er nach Großbritannien, wo er fortan als Präfekt und Lehrer für neue Sprachen an zahlreichen Schulen arbeitet, so u.a. ab 1910 an der Birkenhead School in Liverpool. Möglicherweise hätte er sich dauerhaft in England niedergelassen, wäre nicht der Erste Weltkrieg dazwischengekommen. Nach dem Krieg gründet er in Konstanz jene heute noch existierende Fußballzeitung, der er zum Entsetzen seiner Mitstreiter einen bewusst englisch klingenden Namen verpasst: den »Kicker«.
Auch Gustav Randolph »Gus« Manning, ein weiterer deutscher Fußballpionier, der an der Gründung des FC Bayern mitgestrickt hat, war für sein anglophiles Gebaren bekannt.
Leistungsgesellschaft und Antisemitismus
Bei vielen europäischen Juden traf man seinerzeit auf einen ausgeprägten Sinn für Neues und Modernes sowie eine größere Bereitschaft zur Anerkennung des Leistungsprinzips und des Wettbewerbs – Dinge, die auch im Sport eine zentrale Rolle spielten. Detlev Claussen: »Das Leistungsprinzip gehört zum Fußball genauso hinzu wie der Spaß am Spiel.«
Jüdische (und protestantische) Milieus waren häufig aufgeschlossener gegenüber den Anforderungen und Herausforderungen der modernen kapitalistischen Leistungsgesellschaft. Und anders als das »deutsche Turnen« war Fußball das Spiel dieser Gesellschaft. Der Historiker Peter Tauber: »Der Sport in Deutschland verstärkte Werte und Normen der modernen Industriegesellschaft. Das Wettkampfprinzip, die Konkurrenz und der Leistungsgedanke waren ebenso für den Sport als auch für die Wirtschaft, Politik und die Wissenschaft kennzeichnend. (…) Das zeitgleiche Auftreten des modernen Industriezeitalters