Der FC Bayern und seine Juden. Dietrich Schulze-Marmeling
des Sports wie der Industriegesellschaft, und somit gab es eine Parallelität zwischen dem wirklichen Leben und der Welt des Sports.«
Die Idee des englischen Sports und seines offenen Wettbewerbs stand gewissermaßen diametral zum Konzept der alten Ständegesellschaft, in der die europäischen Juden ausgeschlossene unterprivilegierte waren. Der Sport unterspülte feudale Schranken in der Gesellschaft.
Das Interesse jüdischer Bürger am Sport war zudem eine Reaktion auf den latenten Antisemitismus. Im Sport sah man die Möglichkeit, gesellschaftliche Integration und Akzeptanz zu erreichen, denn die von historischem Ballast freie Sportbewegung war anfänglich liberaler und weltoffener als die mit traditionell konservativen Werten überladene Turnbewegung.
Die Tradition des »deutschen Turnens« war feudal besetzt, übermäßig patriotisch und nationalistisch geprägt. Turnen erfuhr seinen Aufstieg als nationale Körperbildung im Kampf gegen die französische Fremdherrschaft. Ein Aspekt der französischen Expansion war allerdings, dass sie einen Prozess initiierte, der den deutschen Juden gesetzliche Gleichstellung bringen sollte. In dieser Hinsicht zeigten sich Teile der Turnerschaft von Anfang an reaktionär. Friedrich Ludwig Jahn war nicht nur ein Wegbereiter des Turnens, sondern auch eines deutschchristlichen Nationalstaats, der stark antisemitische Züge trug, die Juden zu »unserem Unglück« erklärte und ihnen keinen Platz am nationalen Tisch zugestehen wollte.
Bei den Turnern also eher unwillkommen, orientierten junge Juden auf die neuartigen »sports«, deren englische Herkunft ihnen weniger suspekt denn willkommen war. Detlev Claussen: »Durch die Verbreitung des Fußballsports wurden aus England importierte Werte wie Fair Play und Toleranz vermittelt. Dies machte ihn attraktiv für jüdische Fußballbegeisterte, die aufgrund ihrer Konfession häufig aus den deutsch-nationalen Turnvereinen ausgeschlossen waren.«
Zudem fehlte dem Turnen jegliches moderne Image. Im turnerischen Milieu konnte ein – gerade bei jungen Leuten verbreitetes – Bedürfnis nach individuellen Entfaltungsmöglichkeiten und Eigeninitiative nicht befriedigt werden. Wie Peter März in seinem schönen Essay »›Fußball ist unser Leben‹ – ein Jahrhundert deutscher Spitzenfußball« (2003) schreibt, wurde beim deutschen Turnen die körperliche Regeneration »vielfach aus dressierter Bewegung« gewonnen, bei den »english sports« – namentlich Fußball – sei sie hingegen »spielerisch« erfolgt.
Fußball war – anders als das Turnen – nicht nur eine physisch anstrengende, sondern auch kreative und lustvolle Betätigung. »Der Große Brockhaus« von 1936 erklärte den Unterschied zwischen dem »deutschen« Turnen und dem »englischen Sport« wie folgt: Turnen habe ursprünglich »der Wehrhaftmachung des deutschen Volkes« gedient. unter turnen würde »mehr eine an die Gemeinschaft gebundene Entwicklung und Auswirkung der Kräfte des einzelnen verstanden, während der Sport im allgemeinen mehr die freie, persönliche Betätigung des einzelnen gestattet«.
Ganz nahe dran war offenbar der Autor eines Artikels über den fußballbegeisterten Schüler aus dem Jahre 1894: »Beim Fußballspiel stürmt und jauchzt er eine halbe, eine ganze Stunde leuchtenden Auges umher, ohne sich erschöpft zu fühlen, während er schon in der ersten Viertelstunde an Reck und Barren oft gähnt.«
Als »intellektuell-kreativer Sport« (März), der der Verwirklichung des Individuums Raum und Ausdrucksfreiheit ließ, verfügte der Fußball über eine starke Anziehungskraft auf junge, aufgeschlossene Bürger. Dies verstärkte sich noch, als er im Deutschland der 1920er Jahre eine stete Fortentwicklung erfuhr und neben den körperlichen Fähigkeiten auch organisatorisches Talent und finanzielles Engagement verlangte. Man musste begreifen, dass das Spiel auch Taktik und Arbeitsteilung beinhaltete, dass ein erfolgreicher Fußball eine kluge Vereinsführung und ein kluges Management voraussetzten etc. Peter März: »Fußball dürfte für sportlich und gesellschaftlich interessierte Juden in den 20er Jahren ein geradezu ideales Betätigungsfeld dargestellt haben.«
Und noch etwas sprach für die modernen Fußballvereinigungen. Wie wir gesehen haben, war Fußball anfangs auch ein Akademiker-Sport. Der Antisemitismus war aber nicht nur bei »dummen Jungs« zu Hause, sondern kursierte auch und gerade in akademischen Kreisen. Zumal im Milieu der studentischen Verbindungen, zu denen Juden häufiger der Zutritt verwehrt wurde. Eine Reihe der neuartigen Fußballvereinigungen eiferten deren Status nach. Dies äußerte sich u.a. in der Wahl des Vereinsnamen und der strapazierten Riten. Die Sport-und Fußballvereine waren gewissermaßen Studentenverbindungen ohne Antisemitismus.
Der FC Bayern und seine Juden
Der FC Bayern der Jahre 1900 bis 1933 war ein – zumindest für die damaligen Verhältnisse – weltoffener und liberaler Klub, in dem auch Juden eine Heimat fanden. Religiöse und nationale Zugehörigkeit spielten in seinen Reihen keine Rolle.
Zu den Gründern der Fußballabteilung des Männer-Turn-Vereins von 1879, der Keimzelle des späteren FC Bayern, gehörte der bereits vorgestellte Walther Bensemann. Auch der süddeutsche Fußballpionier und DFB-Mitbegründer Gus Manning gab entscheidende Anstöße zur Gründung des FC Bayern und fungierte in den ersten Jahren des Klubs mit seinem Freiburger FC als Pate. 1913 wurde Manning erster Präsident des nationalen Fußballverbands der USA und nach dem Zweiten Weltkrieg erstes US-amerikanisches Mitglied des FIFA-Exekutivkomitees .
Mindestens zwei der 17 Unterzeichner der Gründungsurkunde des FC Bayern waren Juden: Joseph Pollack, auch erster Schriftführer und erster Torjäger in der Geschichte des Klubs, und Benno Elkan, der später zu einem berühmten Bildhauer avancierte. Nur drei Jahre nach seiner Gründung leistete sich der FC Bayern mit dem niederländischen Sportpionier Willem Hesselink einen ausländischen Präsidenten. 1911 wurde dann der Jude Kurt Landauer erstmals Präsident des FC Bayern. Unter dem langjährigen Präsidenten Landauer errang der FC Bayern 1932 seinen ersten deutschen Meistertitel. Trainer der Meisterelf war der österreichisch-ungarische Jude Richard Dombi, drei seiner Vorgänger – Izidor »Dori« Kürschner, Leo Weisz und Kálmán Konrád – waren Glaubensbrüder. Die Nachwuchsarbeit des FC Bayern wurde in den Jahren der Weimarer Republik maßgeblich vom Münchner Juden Otto Albert Beer geprägt. Und unter dem Dach des Klubs kickten auch die Betriebsmannschaften der jüdischen Kaufhäuser Hermann Tietz und Uhlfelder.
Bensemann, Manning, Pollack, Elkan, Landauer, Beer, Dombi, Kürschner, Weisz und Konrád waren nicht die einzigen Juden, die mit dem FC Bayern in irgendeiner Weise assoziiert waren. Fünf Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg führt eine Festschrift des Klubs namentlich sieben Bayern-Mitglieder auf, die Opfer des NS-Regimes wurden. Ein achtes Mitglied wurde vergessen. Mindestens sechs der acht Opfer – darunter der bereits erwähnte Otto Albert Beer sowie die Landauer-Brüder Leo und Franz – waren Juden.
Weiterhin heißt es, dass »eine nicht unerhebliche Anzahl alter und bewährter Mitglieder aus ihrem einstigen Vaterland und aus München vertrieben (wurde). Sie mussten draußen sich neue Existenzen gründen und sind uns dadurch vielfach verloren gegangen.« (Hervorhebungen durch den Autor)
Ein »Judenklub« waren die Bayern aber nicht. Juden bildeten stets nur eine kleine Minderheit im Klub. Andere Adressen wie beispielsweise Ungarns Nummer eins MTK Budapest, der für die spielkulturelle Entwicklung des FC Bayern eine wichtige Rolle spielte, wiesen erheblich mehr Juden in ihren Reihen auf. In Deutschland gilt dies vermutlich für Eintracht Frankfurt und vor allem für Tennis Borussia Berlin. Der Berliner Klub, erste Trainerstation der späteren Reichsbzw. Bundestrainer Otto Nerz und Sepp Herberger, verlor durch die nationalsozialistische Machtübernahme etwa ein Drittel seiner Mitglieder. Und schon gar nicht darf man den FC Bayern mit exklusivjüdischen Zusammenschlüssen wie den Hakoah- und Makkabi-Vereinen verwechseln.
Die Bedeutung des FC Bayern bestand darin, dass er Juden in seinen Reihen nicht nur willkommen hieß, sondern ihnen auch keine geringeren Aufstiegs- und Pronlierungsmöglichkeiten bot als ihren christlichen Klubkameraden. Das zählte nicht wenig, denn München war eine Stadt, die, gemeinsam mit dem Land Bayern, nach dem Ersten Weltkrieg eine Vorreiterrolle bezüglich antisemitischer Maßnahmen praktizierte. In Münchens Verwaltung wie Öffentlichkeit grassierte schon sehr früh eine antisemitische Stimmung, bereits 1920 wurden Hunderte von Juden vertrieben. Im selben Jahr konstituierte sich dort die NSDAP, die Stadt war im November 1923 Schauplatz eines nationalsozialistischen Putschversuches, begleitet von der Terrorisierung