Seewölfe - Piraten der Weltmeere 676. Jan J. Moreno
lassen, das war alles.
Auf beiden Jollen führten sie kein überschüssiges Segeltuch mit, in das sie den Toten hätten einnähen können. Aber das waren Äußerlichkeiten, mit denen sich der Lord ohnehin nicht abzugeben gedachte.
„Ist er wirklich tot?“ fragte er, um sich zu vergewissern. Nicht, daß er Gewissensbisse verspürt hätte, vielmehr brauchte er jede Hand, die zuzupacken verstand.
„Jamison atmet nicht mehr“, erwiderte Beeler.
„Dann über Bord mit ihm!“
Hyram Scaleby verzichtete darauf, sich zu erheben, während der Leichnam in der unergründlichen Tiefe des Ozeans verschwand. Seine Ansprache war dementsprechend kurz.
„Er ist einer von vielen, und er starb, wie er gelebt hat. Herr, gib ihm die ewige Ruhe. Amen.“
Als Sir Thomas Carnavon, der Kommandant des Kriegsschiffs, wieder an Deck erschien, waren die Jollen schon seit Stunden in der endlosen Weite der Wasserküste verschwunden.
Carnavon wirkte verändert. Er achtete weder auf die Decksleute, die sich bedeutungsvolle Blicke zuwarfen, noch auf die Offiziere, die unruhig ihre Runden auf dem Achterdeck drehten. Die „Respectable“ saß fest. Sie hatten nichts unversucht gelassen, um wieder Wasser unter den Kiel zu bekommen. Vergeblich, wie jeder inzwischen eingesehen hatte.
Carnavon blickte zu der nahen Insel hinüber. Ein breiter, verlockender Sandstrand glitzerte im Schein der hochstehenden Sonne. Dahinter ragten Palmen und ein üppiges Dickicht aus Bambus und niederer Vegetation auf. Menschen schienen dort nicht zu leben. Sie hätten sich in all den Tagen seit die „Respectable“ auf dem Riff hing, längst gezeigt.
Ruckartig wandte sich der Kommandant um. „Sir Godfrey, rufen Sie die Geschützmannschaften an Deck!“
Der Zweite Offizier riß die Augen auf. Eine unbedacht heftige Bewegung ließ seine inzwischen arg malträtierte Perücke verrutschen.
„Sir“, erwiderte er verwundert, „was haben Sie vor?“
„Wir nehmen die Insel in Besitz.“
„Das ist nicht erforderlich. Sobald Lord Hyram mit einem brauchbaren Schiff zurückkehrt …“
„Womöglich gar mit der Schebecke?“ Der Kommandant winkte schroff ab. „Ich wünsche nicht, daß meine Befehle diskutiert oder in Zweifel gezogen werden“, sagte er gereizt. „Verhalten Sie sich künftig dementsprechend.“
„Oder?“ fragte Ballantine. Seine näselnde Stimme ließ erkennen, daß er eingeschnappt war. Zugleich schwang eine unmißverständliche Warnung darin mit. Keiner der Offiziere war bereit, sich vom Kommandanten abkanzeln zu lassen. Sie beanspruchten an Bord der „Respectable“ inzwischen das gleiche Recht wie der Schiffsführer. Und sie dachten sich nicht mal sonderlich viel dabei.
Carnavon wandte dem Zweiten Offizier den Rücken zu. Mit schweren Schritten ging er nach vorn an die Querbalustrade.
„Bootsmann!“ rief er über die Kuhl. „Lassen Sie die Geschütze klarieren!“
„Was hat das zu bedeuten, Sir Thomas?“ Schon war Ballantine wieder neben ihm.
Der Kommandant bedachte den Zweiten mit einem geringschätzigen Blick. „Wir erobern das Eiland für Ihre Majestät, Königin Elisabeth von England. Und außerdem …“ Er sprach nicht weiter.
„Außerdem?“ fragte Ballantine.
„… besteht die Chance, daß eine oder mehrere Breitseiten genau das bewirken, was uns bislang nicht möglich war, nämlich das Schiff von den Korallen zu lösen.“
„Ich werde John Macleod und Sir James informieren.“ In der Art, wie der Zweite Offizier das sagte, klang es beinahe wie ein Eingeständnis seiner Hilflosigkeit.
„Tun Sie das“, riet Sir Thomas. Er wandte sich wieder dem Geschehen auf der Kuhl zu, wo bereits die ersten Ladungen gesetzt wurden. „Nur die Steuerbordseite. Nehmt Vollkugeln!“ befahl er.
Hinter ihm hatte es Sir Godfrey Ballantine, Earl of Berwick-upon-Tweed, plötzlich eilig, unter Deck zu verschwinden.
Nacheinander wurden die Stücke ausgerannt. Auch auf den unteren Batteriedecks rumpelten die Lafetten.
Carnavon ordnete an, die Insel anzuvisieren.
„Entzündet die Lunten! Breitseite auf meinen Befehl!“
Er ließ sich bewußt viel Zeit, bis er endlich hinter sich Schritte hörte. Die beiden Offiziere in Begleitung von Sir James Taurean, dem Overlord, traten schnell näher.
„Sir!“ rief Sir James. „Sie können nicht im Ernst verlangen, daß wir uns auf ein derartiges Wagnis …“
„Feuer!“
Dröhnend entlud sich die Steuerbordbreitseite in einem Gewitter von Pulverexplosionen. Das Rumpeln der vom Rückstoß in die Brooktaue geworfenen Lafetten folgte. Vorübergehend verstand niemand mehr sein eigenes Wort.
Die „Respectable“ wurde bis in den Kiel hinunter erschüttert. Nur die bei normaler Schwimmwasserlage einsetzende Krängung nach Feuerlee blieb aus. Immerhin saß das Vorschiff auf dem Riff fest. Der mächtige Korallenblock, der zwischen Fockmast und Vorsteven die Seitenbeplankung durchbrochen hatte, schien sich zu bewegen. Weitere Planken splitterten. Vom Vorschiff her war plötzlich ein lauter werdendes Gurgeln und Plätschern zu vernehmen.
„Wir sinken“, keuchte James Taurean entsetzt. Er sah sich im Geiste schon verzweifelt um sein Leben schwimmen, während rings um ihn die Mannschaft von blutgierigen Haien attackiert wurde.
„Das Leck hat sich vergrößert“, sagte Carnavon. „Das ist alles.“
Der Overlord schnappte nach Luft, als könne er nicht begreifen, daß jemand angesichts dieser Katastrophe noch die Ruhe bewahrte.
„Stärkere Ladung setzen!“ befahl der Kommandant.
„Mein Gott!“ Taurean verlegte sich aufs Jammern. „Wollen Sie uns alle umbringen?“
„Sie haben die Wahl, sich an Land zurückzuziehen“, sagte Carnavon. „Das gilt natürlich ebenso für die Offiziere.“
„Nein.“ Ballantine wehrte entschieden ab.
„Ausgeschlossen“, entrüstete sich Macleod.
Nur Sir James, dessen feiste Hängebacken zitterten wie Plumpudding bei Sturm, kleidete seine Bedenken in deutliche Worte: „Ich bin nicht bereit, die Sicherheit meiner Kammer mit einer unbekannten Wildnis zu vertauschen. An Land lauern vielleicht blutrünstige Raubtiere.“
„Nehmen Sie Soldaten mit, Sir James.“ Der Kommandant fand, daß ihm Hyram Scalebys Abwesenheit vieles erleichterte. Ohne den Ersten Offizier brachten die Lords keinen rechten Widerstand zustande. Zumindest nicht so schnell, daß sie ihn jetzt noch aufhalten konnten.
Abermals gab er Feuerbefehl.
Das Schiff schien in einer Orgie aus Feuer, Lärm und ätzendem Pulverdampf auseinanderzufliegen. Mit unwahrscheinlicher Wucht wurden die Lafetten zurückgeworfen.
Ein nicht enden wollendes Bersten, Splittern und Krachen folgte dichtauf. Diesmal legte sich die „Respectable“ nach Backbord über. Aber sie schwang nicht zurück, sondern verharrte in dieser Stellung. Das Leck im Vorschiff war abermals größer geworden.
Die Achtzehnpfünder-Vollkugeln schlugen am Strand ein. Die meisten ließen mannshohe Fontänen feinen Sandes aufsteigen, einige klatschten ins seichte Uferwasser, und ein paar zerfetzten das Unterholz. Kreischend und schimpfend stieg ein Vogelschwarm auf und verschwand inseleinwärts.
„Genug!“ brüllte Ballantine. „Ihr bringt uns um.“ Außer sich vor Zorn, riß er den Degen halb aus der Scheide. Herausfordernd funkelte er den Kommandanten an.
„Vielleicht schwimmt die ‚Respectable‘ bald wieder“, sagte Carnavon besänftigend.
„Einen Dreck