Kurze Formen in der Sprache / Formes brèves de la langue. Anne-Laure Daux-Combaudon
dieser Satzgebilde auf infinite Verbformen, wodurch sie zu „absoluten“ und damit vergleichbaren nonfiniten Satzstrukturen gezählt werden müssen.
Die angestellten Überlegungen stellen nun das Merkmal der Finitheit als formal gültiges Satzkriterium in Frage und lassen eine Proposition auch dann als vollwertigen Satz einstufen, wenn die dadurch ausgedrückte Prädikation ohne Finitum, ja gar ohne Verb an der Satzoberfläche erscheint.
Dies gilt übrigens auch für die historischen Konstruktionen: Die prädikative Eigenständigkeit der afiniten Nebensätze ist genauso gesichert, wie wenn ein finites Verb vorhanden wäre. So nahe diese Folgerung liegt, so wenig wird sie in der Forschung reflektiert, da man sehr oft davon ausgeht, dass afinite Verbalperiphrasen wohl nur Abbreviaturen einst vollständiger Sätze sind und als solche keiner eingehenden Untersuchung bedürfen. Die Einsicht, dass sie als vollgültige Prädikate fungieren, eröffnet eine neue Sicht auf ihre Entstehungsgeschichte sowie Entwicklungslinien und Wendepunkte.
Der auffällig häufige Gebrauch afiniter Satzstrukturen in frühneuzeitlichen Texten, darunter vor allem Kanzleitexten, deutet darauf hin, dass es neben strukturellen Faktoren auch stilistische und pragmatische Gründe für die Verwendung afiniter Konstruktionen gibt. Zu den Letzteren zählen u.a. die Betonung des besonderen Status des Textes sowie die Tendenz zum ökonomischen Sprachgebrauch, was im Falle der Verwaltungstexte, die ja per se umfangreich sind, von großem praktischem Nutzen ist.
Am häufigsten werden die finiten Hilfsverben in den temporalen Verbalperiphrasen im Perfekt und Plusquamperfekt (Passiv und Aktiv) ausgelassen. Der Anteil anderer Konstruktionstypen ist relativ gering. Nach ihrer Blütezeit im 17. und 18. Jahrhundert ist ein spürbarer Rückgang der Formen zu verzeichnen. In der Gegenwartssprache beobachtet man allerdings, wie bereits erwähnt, eine erneute Tendenz zur Auslassung der Verba finita, auch wenn dies vor allem das Hauptsatzparadigma betrifft und durch völlig andere Gründe (z.B. emphatische oder stilistische Markierung) motiviert ist.
Literatur
Abraham, Werner, 2008. „Tempus- und Aspektkodierer als Textverketter: Vorder- und Hintergrundierung“. In: Macris-Ehrhard, Anne-Françoise / Krumrey, Evelin / Magnus, Gilbert (Hrsg.). Temporalsemantik und Textkohärenz. Zur Versprachlichung zeitlicher Kategorien im heutigen Deutsch. Tübingen: Stauffenburg, 161–176.
Admoni, Vladimir G., 1967. „Der Umfang und die Gestaltungsmittel des Satzes in der deutschen Literatursprache bis zum Ende des 18. Jahrhunderts“. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, 89, 144–199.
Admoni, Vladimir G, 1972. Der deutsche Sprachbau. Leningrad: Nauka.
Bär, Jochen A. / Roelcke, Thorsten / Steinhauer, Anja (Hrsg.), 2007. Sprachliche Kürze. Konzeptuelle, strukturelle und pragmatische Aspekte. Berlin / New York: de Gruyter.
Behr, Irmtraud, 1998. „Zur Leistung der Kasus in verblosen Sätzen“. In: Vuillaume, Marcel (Hrsg.). Die Kasus im Deutschen. Tübingen: Stauffenburg, 99–114.
— 2013. „Syntaktisch-grammatische Aspekte von verblosen Sätzen nach dem logisch-semantischen Modell von J.M. Zemb“. In: Günthner, Susanne / Konerding, Klaus-Peter / Liebert, Wolf-Andreas / Roelcke, Thorsten (Hrsg.). Die Ellipse. Neue Perspektiven auf ein altes Phänomen (= Linguistik – Impulse und Tendenzen, 52). Berlin / Boston: de Gruyter, 253–279.
Behr, Irmtraud / Quintin, Hervé, 1996. Verblose Sätze im Deutschen. Zur syntaktischen und semantischen Einbindung verbloser Konstruktionen in Textstrukturen. Tübingen: Stauffenburg.
Darski, Józef P., 2010. Deutsche Grammatik. Ein völlig neuer Ansatz. Frankfurt a.M.: Peter Lang.
Ebert, Robert Peter, 1993. „Syntax“. In: Ebert, Robert Peter / Reichmann, Oskar / Solms, Joachim / Wegera Klaus-Peter (Hrsg.). Frühneuhochdeutsche Grammatik. Tübingen: Niemeyer, 313–484.
Fernandez-Bravo, Nicole, 2016. „Nicht satzförmige Äußerungen im literarischen Erzählen der Nachkriegsmoderne“. In: Marillier, Jean-François / Vargas, Elodie (Hrsg.). Fragmentarische Äußerungen. Tübingen: Stauffenburg, 337–354.
Fleischman, Suzanne, 1990. Tense and Narrativity. From Medieval Performance to Modern Fiction. London: Routledge.
Heringer, Hans-Jürgen, 1996. Deutsche Syntax dependentiell. Tübingen: Stauffenburg.
Janigane-Prokai, Katalin, 2003. Afinite Nebensatzkonstruktionen und ihre Geschichte. Frankfurt a.M.: Peter Lang.
Jespersen, Otto, 1924. The Philosophy of Grammar. Chicago: University of Chicago Press.
Koch, Peter / Oesterreicher, Wulf, 2011. Gesprochene Sprache in der Romania. Berlin / New York: de Gruyter.
Konopka, Marek, 1996. Strittige Erscheinungen der deutschen Syntax im 18. Jahrhundert. Tübingen: Niemeyer.
Macha, Jürgen, 2003. „Unvollendetes zu ‚afiniten Konstruktionen‘“. In: Niederdeutsches Wort, 43, 25–36.
Mehlig, Hans Robert, 1995. „Wesen und Funktion des Präsens im Slavischen“. In: Jachnow, Helmut / Wingender, Monika (Hrsg.). Temporalität und Tempus. Studien zu allgemeinen und slavistischen Fragen. Wiesbaden: Harrasowitz Verlag, 176–198.
Moskal´skaja, Olga I., 1983. Grammatik der deutschen Gegenwartssprache. Moskau: Vysšaja Škola.
Reichenbach, Hans, 1947 / 21965. Elements of Symbolic Logic. New York: Macmillan.
Reichmann, Oskar, 2003. „Die Entstehung der neuhochdeutschen Schriftsprache: Wo bleiben die Regionen?“. In: Berthele, Raphael / Christen, Helen / Germann, Sibylle / Hove, Ingrid (Hrsg.). Die deutsche Schriftsprache und die Regionen. Entstehungsgeschichtliche Fragen in neuer Sicht. Berlin / New York: de Gruyter, 29–56.
Riecke, Jörg, 2012. „Beobachtungen zur Sprache der Kriegstagebücher Friedrich Kellners (1939–1945)“. Handout und Vortrag auf der Jahrestagung der Gesellschaft für Germanistische Sprachgeschichte (GGSG) in Siegen.
Rössler, Irmtraud, 1995. „‘Angeklagte bekandt…’ – Zum Problem der Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Beobachtungen an Verhörprotokollen der mecklenburgischen Kanzleien im 16./17. Jahrhundert“. In: Ewald, Petra / Sommerfeldt, Karl-Ernst (Hrsg.). Beiträge zur Schriftlinguistik. Festschrift zum 60. Geburtstag von Dieter Nerius. Frankfurt a.M.: Peter Lang, 269–275.
Schönherr, Monika, 2018. „Satzkonstruktionen ohne Verbum finitum: Diachrone, synchrone und panchrone Zugriffe auf ein vergessenes Phänomen der deutschen Syntax“. In: Kwartalnik Neofilologiczny, 4, 564–578.
Tesnière, Lucien, 1959 / 21976. Éléments de syntaxe structurale. Paris: Klinksieck.
Weinrich, Harald, 1977. Tempus: Besprochene und erzählte Welt. Stuttgart: Kohlhammer.
Zeman, Sonja, 2013. „Vergangenheit als Gegenwart? Zur Diachronie des ‘Historischen Präsens’.“ In: Vogel, Petra Maria (Hrsg.). Sprachwandel im Neuhochdeutschen. Jahrbuch für Germanistische Sprachgeschichte, 4. Berlin / Boston: de Gruyter, 236–256.
— 2017. „Confronting Perspectives. Modeling perspectival complexity in language and cognition“. In: Glossa. A journal of general linguistics, 2/1: 6, 1–22.
Zifonun, Gisela, 1987. Kommunikative Einheiten in der Grammatik. Tübingen: Narr.
— et al. (Hrsg.), 1997. Grammatik der deutschen Sprache. 3 Bde. Berlin: de Gruyter.
L’imaginaire linguistique de la brièveté
Odile Schneider-Mizony
Introduction
La brièveté langagière relève d’une conception intuitive et culturelle sur laquelle se fait un consensus des membres de la communauté linguistique (Balnat 2013 : 82). L’intelligibilité de la notion est donnée d’emblée,