Kurze Formen in der Sprache / Formes brèves de la langue. Anne-Laure Daux-Combaudon

Kurze Formen in der Sprache / Formes brèves de la langue - Anne-Laure Daux-Combaudon


Скачать книгу
besonders stark eingesetzt wurde und spezifische Funktionen erfüllte, welche später aufgegeben oder stark eingeschränkt, mitunter auch völlig umgedeutet und gerade an explizite Finitheit gebunden wurden.

      4 Afinitheit im kurzen historischen Aufriss

      Das Auslassen der finiten Verbformen als syntaktisch-stilistisches Verfahren ist im hochdeutschen Diskurs seit der spätmittelhochdeutschen Zeit (14. Jh.) vereinzelt belegt (vgl. Ebert 1993: 442). Die Frühbelege afiniter Verbalperiphrasen, die eher als Zufallsfunde denn als Ergebnisse einer systematischen Materialerhebung zu werten sind, finden sich beispielsweise im Egerer „Buch der Gebrechen“ aus dem Jahre 1379. Nichtsdestotrotz verleiten derartige Einzelfunde zu dem Schluss, dass die syntaktischen Kurzformen – entgegen der kursierenden Hypothese – bereits den mittelalterlichen Schreibern geläufig waren (vgl. Macha 2003: 25).

      Eine systematische Verwendung der finitlosen Satzstrukturierung fällt aber erst in das 16. und 17. Jahrhundert, also in die Spätphase des Frühneuhochdeutschen, in der ein Wechsel von älteren, dialektal differenzierten Schreibvarianten zu modernen und einheitlichen Schreibformen stattfindet und wo die einst unumstößliche Autorität der mündlichen Überlieferung zunehmend durch die Ausbildung schriftlicher institutioneller Kommunikation verdrängt wird. Diese neue Qualität der Schriftlichkeit betrifft vor allem den kanzleisprachlichen Schreibusus, sodass man auch davon ausgehen kann, dass der Hang zur afiniten Konstruktionsweise eine der typischen Erscheinungen der frühneuhochdeutschen Kanzleisyntax ist (vgl. Ebert 1993: 442). Im Schriftverkehr des 17. Jahrhunderts ist die Auslassung der finiten Verbformen fast zur Regel geworden, was wiederum dazu geführt hat, dass in vielen Texten die ausgiebig eingesetzten Kurzformen das dominierende Satzmuster bilden (vgl. a.a.O.).

      Diese Auslassungstendenzen, die in frühneuzeitlichen Texten massenhaft vorkamen, gingen im Laufe des 18. Jahrhunderts spürbar zurück. In sprachreflexiven Texten zeitgenössischer Autoren (z.B. bei Gottsched) wurden sie als normwidrig stigmatisiert, da sie gegen die Kriterien von Wohllaut und Deutlichkeit verstießen (vgl. Konopka 1996: 140f.). Dies verursachte wiederum eine Reihe von strukturellen Änderungen im Bereich der Text- und Satzgestaltung, welche sich zuletzt darin äußerten, dass der afinite Satzbaustil zugunsten der vollständigen Verbalstrukturen verworfen wurde.

      Die Möglichkeit afiniter Satzgestaltung ist jedoch nie zugrunde gegangen. Wie die durchgeführten Korpusrecherchen belegen, expandiert die afinite Konstruktionsweise in der deutschen Gegenwartssprache in neue Domänen der Schriftlichkeit. Das Belegmaterial ist deswegen so heterogen und umfangreich wie noch nie zuvor. Augenfällig ist auch das differenzierte Funktionsprofil der historischen und gegenwartssprachlichen Satzstrukturen: War die Afinitheit im historischen Diskurs auf besondere Nebensatztypen beschränkt, liegt sie heute vornehmlich im Hauptsatzparadigma vor und übernimmt verschiedene textsortenspezifische und kommunikative Aufgaben, von Komprimierung über emphatische Markierungen bis hin zu stilistischer Variierung (vgl. Schönherr 2018: 566).

      5 Afinitheit als textsortenspezifisches Phänomen

      Betrachtet man afinite Konstruktionstypen in einem geschichtlichen Querschnitt, so fällt auf, dass Afinitheit vornehmlich an Texte gebunden war, die einen hohen sozialen Status besitzen. Hierher gehören vor allem die oben bereits erwähnten Kanzleitexte als im hohen Grad (durch vorgegebene Strukturmuster) standardisierte, zum Teil stark formelhafte Texte, die zur Regelung von sämtlichen Rechts- und Geschäftsvorgängen dienten. Die Einbettung der einzelnen Texte in den kanzleisprachlichen Diskurs bewirkt, dass sie nicht nur in formaler, sondern auch in inhaltlicher Sicht gewisse Affinitäten aufweisen. So sind sie u.a. durch Komplexität der darin beschriebenen Sachverhalte gekennzeichnet, woraus sich dann als Begleiterscheinung die natürliche Notwendigkeit einer sprachökonomischen Auslassung entbehrlicher Satzteile, darunter gerade der finiten (Hilfs-)Verben ergeben hat.

      Umgekehrt kommen in Texten, die der gesprochenen Sprache besonders nahestehen oder einen sehr einfachen thematischen Gehalt aufweisen, nur selten afinite Konstruktionen vor (vgl. Admoni 1967: 190). Somit kann festgehalten werden, dass der afinite Satzbaustil ein spezifisches Merkmal der Kanzleitexte, ja ein „Kanzleiusus“ (Rösler 1995) ist.

      Was nun die gegenwartssprachlichen Domänen der Verwendung afiniter Konstruktionen anbelangt, so liegt ein weitgehender Gebrauchswechsel vor: Afinite Konstruktionen werden heute tendenziell in Texten mit abgeschwächter kommunikativer Ausrichtung (z.B. in Tagebüchern, vgl. dazu u.a. Fernandez-Bravo 2016) verwendet, in denen nicht so stark auf die Finitheit geachtet wird wie z.B. in narrativen Texten. Textsortenspezifisch ist dies leicht erklärlich, sind ja Tagebücher generell eine nichtkommunikativ (da ausschließlich autoreferentiell) konzipierte Textsorte, sodass ihr Verfasser sich auf Sprachformen begrenzen darf, welche für ihn ausreichend verständlich sind und keine empfängerseitig begründete Akribie grammatischer Norm verlangen. Andererseits werden sie als Mittel verwendet, das zur stärkeren kommunikativen Geltung eines Textes beitragen kann. Schließlich kommen sie im mündlichen Register vor, meist in elliptischen und / oder emphatischen Kontexten, wo sie unterschiedliche pragmatische Funktionen übernehmen (vgl. Schönherr 2018: 568).

      6 Typologie und Textgrammatik afiniter Sätze in historischen Texten

      Wie dem speziell für die vorliegende Arbeit erstellten Textkorpus1 zu entnehmen ist, betrifft die Auslassungsprozedur vor allem das Verbum finitum in Konstruktionen mit dem Partizip Perfekt, also die temporalen Hilfsverben sein und haben im Perfekt Aktiv und im Plusquamperfekt Aktiv sowie in verschiedenen Tempora des Passivs. Das Nicht-Setzen der finiten Auxiliarverben tritt dabei in eingeleiteten Nebensätzen, allen voran den Konjunktional- und Relativsätzen auf (vgl. Schönherr 2018: 568f.). Selbstverständlich ist das Vorkommen afiniter Konstruktionen weder zeitlich noch räumlich gleichmäßig verteilt. Im Folgenden werden die Konstruktionstypen in absteigender Reihenfolge nach deren Vorkommenshäufigkeit aufgeführt, wobei die Auflistung der Konstruktionstypen und die Aussagen über ihre Frequenz eng an die statistischen Korpusanalysen von Janigane-Prokai (2013) angelehnt sind. Die in der Arbeit formulierten Thesen sind also unter Zuhilfenahme geeigneter Textdaten empirisch untermauert und dürfen deswegen – zumindest in Bezug auf das untersuchte Textkorpus – den Anspruch auf Gültigkeit erheben. Durch die Konfrontation der exzerpierten Belege mit korpusbasierten Untersuchungen von u.a. Janigane-Prokai (2013) sollte zusätzlich die methodische Stringenz der vorliegenden Untersuchung erhöht werden. Insgesamt ging das Bemühen dahin, eine mit den anderen, bisher durchgeführten Korpusstudien zusammenhängende Analyse verbloser Strukturen vorzulegen. Die Korpusbelege wurden entsprechend formalen Kriterien sortiert und in vier Gruppen geordnet.

      Zu den höchstfrequenten (gegen Mitte des 17. Jahrhunderts fast ausnahmslos eingesetzten) Nebensatz-Konstruktionen ohne Verbum finitum gehört der Weglassungstyp sein + Partizip II + worden. Es ist also ein passivisches Muster in den Vergangenheitstempora Perfekt oder Plusquamperfekt. Hier nur ein schmaler Ausschnitt aus dem reichlich vorhandenen Belegmaterial (Kleine Chronik der Reichsstadt Nürnberg, 1790):

       (7) Am 8. Dezember dieses Jahrs [1698] wurde der Einlaß beim Hallerthuerlein eröffnet, nach dem vorher die dortige Brücke neu erbaut worden.

       (8) 1699 wurde die erste Armenschule, welche durch eine Lotterie fundiert worden, im Zuchthause eröffnet […].

       (9) 1300 wurde die Moritzkapelle am Mark von Eberhard Mendel gebaut, welche 1313 abgebrochen und gegen St. Sebald ueber versetzt worden.

       (10) 1349 am St. Niclas Abend wurden viele Juden zu Nürnberg verbrennt, welchen man eine Vergiftung der Brunnen Schuld gab, durch welche ein großes Sterben verursacht worden.

       (11) Er errichtete auch den ersten Ritterorden, der in Deutschland von einem deutschen Fürsten gestiftet worden, den Orden der Fürspänger zu Ehren der Jungfrau Maria.

       (12) In das Ende dieser Periode gehört auch die Errichtung der Kettenstöcke in den Gassen, welche, wie Conrad Celtes erzählt, ein zufälliger Weise entstandenes Gedräng bey einer Heilthumsweisung, wodurch viele Menschen beschädigt worden, veranlaßt hat.

       (13) 1528 wurde das Ungeldhaus gekauft, welches im folgenden Jahrhundert zum Rathhaus gezogen worden.

      Ein


Скачать книгу