Kurze Formen in der Sprache / Formes brèves de la langue. Anne-Laure Daux-Combaudon

Kurze Formen in der Sprache / Formes brèves de la langue - Anne-Laure Daux-Combaudon


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haben ausgelassen wird. Die größte Vorkommenshäufigkeit dieser Periphrasen fällt ungefähr auf die Mitte des 17. Jahrhunderts:

       (14) Weil ihne die Griechen dem verstorbnen Patriarchen gefunden/und erstlich auffgezeigt. (Protokollum des Colloquij zu Newburg an der Donaw, 1615)

       (15) Zum ersten da er vermerckt/daß ich ime etliche Stellen herauß geklaubt / die ihm wurden den Hals abbrechen […] (Protokollum des Colloquij zu Newburg an der Donaw, 1615)

       (16) Bald Anfang beschuldiget er/daß man in den formalibus handgreiflich verstossen […]/daß wir ihn unserer Pflicht gemäß nicht besprochen […] (Doppelte Verthäidigung des Eben-Bildes der Pietisterey, 1692)

       (17) [..] da wir nunmehr selbst nicht läugnen könten/daß wir wider die Pflicht der christlichen Liebe / und des H. Lehrampts ganz unvorsichtig / und zu grossem Ergerniß der Gemeinde gehandelt. (Doppelte Verthäidigung des Eben-Bildes der Pietisterey, 1692)

      Die Perfekt- und Plusquamperfekt-Periphrasen, in denen das Auxiliar sein erspart ist, weisen vergleichbar den haben-Konstruktionen ein ähnliches Distributionsmuster vor. Gegen Mitte (1625–1650) des 17. Jahrhunderts wird das Hilfsverb sein in nahezu 75 % der Fälle ausgelassen:

       (18) Ob sie auch vf dem tantz geweßen, sagt ia ein mahl oder drei […] (Verhörprotokoll Friedberg 1620)

      Viele dieser Konstruktionen begegnen auch in literarischen Texten, was u.a. im Sinne der rhetorischen Maxime variatio delectat geschieht und zur Vermeidung der für narrative Texte sonst so charakteristischen syntaktischen „Stereotypie“ verhilft:

       (19) Zwey Jahr ungefähr, nemlich biß der Einsidel gestorben, und etwas länger als ein halbes Jahr nach dessen Todt, bin ich in diesem Wald verblieben (Grimmelshausen, Simplicissimus I 11, S. 4–5)

       (20) Wie es nun ihme Joseph ergangen/ biß alles dem Göttlichen Willen nach zu Faden geschlagen worden/ solches wird in diesem Buch einfältig erzählt (Grimmelshausen, Exempel der unveränderlichen Vorsehung Gottes)

      Zu den Auslassungen des finiten Auxiliars kommt es oft (allerdings nicht mehr so regelmäßig) auch in der Modalkonstruktion sein + zu + Infinitiv. Bemerkenswert ist dabei, dass das Modalitätsverb haben in der parallelen Konstruktion haben + zu + Infinitiv eine viel stärkere Resistenz gegenüber der Auslassung aufweist als dies bei sein der Fall ist. So begegnen Strukturen von Typ:

       (21) Und weil nicht weiteres aus ihm zu bringen, bliebe es bey der betrawung (Verhörprotokoll Dillenburg, 1631)

      viel öfter als die haben-Variante:

       (22) Vnd ob sie was müntlich fürzutragen / sollen sie sich in alleweg der kürtz befleissen […] (Houe Gerichts Ordnung, 1572)

      Besonders gewagte Auslassungen finiter Verben begegnen an den Stellen im Text, an denen die syntaktisch-semantischen Beziehungen zwischen den Satzgliedern oder Satzteilen dermaßen kompliziert sind, dass man die fehlenden Verbformen zur Entlastung derartiger schwerfälliger Satzgefüge intuitiv einsetzten würde. Wie dem auch sei: Die afiniten Partizipialkonstruktionen sind sich selbst genug und scheinen einer Ergänzung durch ein finites Auxiliar nicht zu bedürfen. Ihre prädikative Eigenständigkeit ist dabei wohl kaum tangiert. Im Gegenteil: Sie gewährleisten – ähnlich den voll ausgestalteten „Normalsätzen“ – die Kodierung von Satzpropositionen und wirken genauso wie diese textkonstitutiv. Zieht man jeweils den weiteren Kotext heran, in dem die behandelten Strukturen vorkommen, so fällt auf, dass es bei all den Textstellen kein Auxiliar in der Nähe gibt, das ersatzweise nachwirken könnte. Dies verstärkt zusätzlich die Annahme, dass die behandelten Konstruktionen keine (overten) elliptischen Strukturen darstellen, sondern von vornherein auxiliarlos konzipiert sind. Ein (overtes) elliptisches Verfahren anzunehmen, macht demgegenüber nur dort Sinn, wo in demselben Satz oder Kontext ein mit dem Auxiliar versehenes Partizip nachfolgt oder vorausgeht, dort also, wo das Auxiliar eines benachbarten Verbalgefüges stellvertretend für alle anderen ausgelassenen Hilfsverben steht.

      In textgrammatischer Sicht lässt sich eine Reihe von Faktoren nennen, die das Vorkommen afiniter Strukturen besonders stark beeinflussen. Hierher gehört u.a. die Sprachökonomie, die im Allgemeinen nicht nur zur Auslassung überflüssiger Teile des Satzes führt, sondern die Ersparung der scheinbar unentbehrlichen Satzentitäten, darunter der finiten Verbformen, ermöglicht. Dieses Streben nach „sprachliche[r] Kürze“ (Bär / Roelcke / Steinhauer 2007) macht sich besonders in satzförmigen parenthetischen Einschüben oder in sog. Schachtelsätzen deutlich, d.h. in Sätzen, die strukturell ineinander verwoben sind, vgl. hierzu ein Beispiel aus dem Text von M. Opitz, wo ein afiniter Temporalsatz (als ich mich noch auff hohen Schulen…) in einen Relativsatz eingeschoben wird:

       (23) Als ich neulich bey meiner gutten Freunde einem im Durchreisen einsprach/ fand ich unter andern seinen Sachen auch diß Gedichte von Glückseligkeit deß Feldlebens/welches ich vor etlichen Jahren/als ich mich noch auff hohen Schulen befunden/sol geschrieben haben. (Martin Opitz: Martini Opitii Lob deß Feldtlebens, 1623, S. 7)

      Die Tilgung von Auxiliarverben erfolgt auch zwecks der Vermeidung von repetitiven Verbformen (vgl. Ebert 1993: 442), die ansonsten an der Grenze vom Nebensatz und Hauptsatz zusammenstoßen würden. Ferner kommt die Auslassung der finiten Auxiliare in stark formelhaften Wendungen vor, welche durch einen häufigen Gebrauch zu einer Art Kollokationen geworden sind (wie oben verordnet, wie oben gemeldet, wie oben im ersten theil dieser ordnung gemeldet [Concept der verbesserten Cammergerichtsordnung, 1753]).

      Die Ersparung finiter Verbformen kann schließlich als eine der Bestrebungen angesehen werden, die schriftliche Rede von der mündlichen abzuheben, und somit der geschriebenen Sprachvarietät mehr Autonomie, ja mehr Prestige und Professionalität zu verleihen – kurzum: die Schriftsprache zum neuen, verbindlichen und stabilen Medium der (institutionellen) Kommunikation aufzuwerten. Mit Oskar Reichmann ist dieser Prozess als eine fundamentale Umorientierung der Funktional-, Sozial- und Medialvarianten etc. der Sprache zu verstehen, wobei hier besonders der mediale Übergang von der gesprochenen (Oralität) bis zur geschriebenen Sprachvarietät (Literalität) von Interesse ist. Die Schriftsprache wird von Reichman (2003, 30) als das „von Wissenschaftlern, Schriftstellern, überhaupt Gebildeten in den soziologisch gehobenen bzw. als gehoben betrachteten Kultursystemen als omnivalentes Darstellungs- und Handlungsinstrument zu allen denkbaren Zwecken“ aufgefasst. Diese Umorientierung vollzog sich auch auf der Sprachebene, indem viele sprachinterne Neuerungen bzw. Tendenzen aufkamen, etwa die syntaktische Manier das Verbum Finitum aus Nebensatzkonstruktionen zu eliminieren, und zwar besonders in als hochwertig angesehenen frühneuzeitlichen Kanzleitexten.

      7 Rückblick

      Das Phänomen der Verblosigkeit und damit verbundene Erscheinungen der In- bzw. Afinitheit sind – u.a. als strukturinternes Kompressionsmittel – nahezu in jeder natürlichen Sprache vorhanden, auch wenn ihre Verbreitung und Anwendung gewissen Restriktionen unterliegt, die sich von Sprache zu Sprache z.T. stark unterscheiden. Auch diachron gesehen gibt es gewisse Tendenzen, die die Entwicklungsrichtung anzeigen: In der Germania und z.T. in der Slavia ist dies generell eine Entwicklung zur stärkeren Ausprägung finiter Ausdrücke, auch wenn bei bestimmten Textsorten nach wie vor Afinitheit, wenn nicht dominant, so zumindest relativ stark vertreten ist.

      Verblose bzw. in- oder afinite Sätze, welche zu „Vollsätzen“ mit dem Verbum finitum ergänzt werden können, sind gemeinhin als Ellipsen einzustufen, auch wenn nicht jede Ergänzungsprozedur eine dem Satz ohne Finitum volläquivalente Proposition ergibt. Ellipsen sind ihrerseits nicht homogen. Bei einer overten Ellipse ist das einzusetzende Verb in aller Regel unspezifiziert und lässt daher eine – wenngleich beschränkte – Wahl bzw. Varianz zu. Eine coverte Ellipse schließt dagegen in aller Regel Varianz aus. In den meisten Fällen handelt es sich dabei um das nachzutragende Verbum substantivum in Kopulafunktion. Typologisch lassen sich beide Arten der Ellipse lediglich auf die Satzoberfläche beziehen, universalgrammatisch liegen beiden ähnliche Tiefenstrukturen zugrunde.

      Nichtelliptische


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