Die verkannten Grundlagen der Ökonomie. Riane Eisler
und Care-Arbeit als integralen Bestandteil der Gesundheit von Individuen, Wirtschaft, Ökologie und Gesellschaft zu begreifen, hat direkte Auswirkungen auf unser Leben und die Zukunft unserer Kinder: Uns wurden aus der Vergangenheit dysfunktionale Wirtschaftsmodelle und Bewertungsmaßstäbe aufgebürdet, die wiederum zu dysfunktionalen Praktiken und einer dysfunktionalen Politik geführt haben. Und diese Praktiken und diese Politik sind die Hauptursachen für scheinbar unlösbare globale Probleme wie Armut, Überbevölkerung und Umweltzerstörung. In der postindustriellen Wirtschaft sind diese Praktiken und diese Politik Erfolgshindernisse, denn das wichtigste Kapital in der postindustriellen Wirtschaft bilden weder Geld, noch Märkte oder mit neuester Computertechnik ausgestattete Büros – sondern Menschen, sogenanntes »Humankapital«. Außerdem wird dadurch ein unausgewogenes und ungesundes Wertesystem aufrechterhalten.
Dabei ist die Alternative dazu offensichtlich, sobald man nur einen Moment innehält und seinen Blick auf die Wirtschaft einmal nicht darauf ausrichtet, was uns bislang darüber gelehrt wurde, sondern auf das, was uns in unserem Leben und in unserem Zuhause am wichtigsten erscheint. Dann wird nämlich klar: Solange Gerechtigkeit, Fürsorge und Care-Arbeit nicht als wertvoll betrachtet werden, ist es unrealistisch auf die Entwicklung von Gesellschaften zu hoffen, die auf Fürsorge, Frieden, einer gesunden Mitwelt und Gerechtigkeit beruhen und in denen Menschen ein sinnvolles, kreatives und erfülltes Leben führen können.
Das ist keine graue Theorie, sondern von immenser praktischer Bedeutung für unser Alltagsleben – angefangen beim Familienleben über die Erziehung und Bildung unserer Kinder bis hin zu unserem Arbeits- und Geschäftsleben und letztlich dem Überleben unserer Spezies.
Wir können keinen wirklichen Rückgang der weltweiten Armutsrate erwarten, solange wir nichts dagegen unternehmen, dass in der Wirtschaft, was Männer und Frauen anbelangt, mit zweierlei Maß gemessen wird. Solange Frauen und alles, was mit Frauen assoziiert wird, eine Abwertung erfahren, werden Frauen und Kinder das Heer der Armen in der Welt weiter anwachsen lassen.17
Das bedeutet nicht, dass die auf dem Geschlecht beruhende wirtschaftliche Ungleichheit gravierender ist als die Ungleichheit, die auf sozialer oder ethnischer Herkunft oder anderen Faktoren basiert. Aber eines der grundlegenden Muster für die Einteilung der Menschheit in Über- und Untergeordnete, die Kinder von klein auf verinnerlichen, ist die für unsere Spezies typische Vorstellung des »übergeordneten Mannes« und der ihm »untergeordneten Frau«. Solange Menschen dieses geistige Bild als Muster für ihre Beziehungen vor Augen haben, ist es unrealistisch, auf Änderungen im schablonenhaften Ingroup-versus-Outgroup-Denken zu hoffen, das zu so viel Leid und Ungerechtigkeit geführt hat und führt.
Zudem gibt es keine berechtigte Hoffnung für eine auf Fürsorge abzielende Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik, solange die lebensfördernde Care-Arbeit als »Familie und Gedöns«18abgewertet wird. Solange Care-Arbeit keine gesellschaftliche Wertschätzung erfährt, wird sie auch in der Wirtschaftspolitik und -praxis keine erfahren.
In diesem Zusammenhang muss klargestellt werden, dass die Bezeichnung von Fürsorge und Care-Arbeit als »Frauenarbeit« hier nur ein Widerhall herkömmlicher Überzeugungen aus Zeiten ist, in denen die Geschlechterrollen sehr viel stärker festgelegt waren. Das Ziel ist eine Gesellschaft, in der nicht nur Frauen Fürsorge leisten, sondern in der sie gleichberechtigte Erwerbsarbeitschancen haben und sich Männer und Frauen die Fürsorgeverantwortlichkeit teilen. Anders ausgedrückt: Ziel ist ein Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, das Frauen nicht länger aus Bereichen ausschließt, die traditionell Männern vorbehalten waren, und in dem Fürsorge und Care-Arbeit nicht länger als reine Frauensache betrachtet werden bzw. Männer, die diese Aufgaben übernehmen, als »verweiblicht« gelten.
Es soll an dieser Stelle noch einmal betont werden, dass die Sichtbarmachung und die Wertschätzung von Fürsorge und Care-Arbeit für sich allein genommen unsere globalen Probleme nicht lösen können. Wie wir sehen werden, ist der Transformationsprozess von einem Dominanz- zu einem Partnerschaftssystem sehr viel komplexer. Doch es ist von grundlegender Bedeutung, dass wir aufhören, Frauen und Männer und das, was wir mit ihnen assoziieren, mit zweierlei Maß zu messen, denn erst dann kann der Wandel von einem Dominanz- zu einem Partnerschaftssystem stattfinden.
Wenn hier über die Abwertung von Frauen und dem »Weiblichen« geschrieben wird, soll damit nicht den Männern die Schuld an den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Missständen in unserer Welt gegeben werden. Die Traditionen, von denen hier die Rede ist, haben nicht nur auf Frauen, sondern auch auf Männer verheerende Auswirkungen. Natürlich sind Frauen davon besonders hart betroffen, aber letztlich leiden wir alle darunter.
Die Globalisierung und der Übergang hin zu einem postindustriellen Zeitalter haben zu großen wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen geführt, die bei vielen Menschen Ängste auslösen. Doch diese Verwerfungen eröffnen auch nie dagewesene Anknüpfungspunkte für neue und bessere Lebens- und Denkweisen. Sie geben uns die Gelegenheit, unsere Vorstellungskraft und unseren Einfallsreichtum dazu zu nutzen, gesellschaftliche und wirtschaftliche Bedingungen zu schaffen, die unsere Weiterentwicklung fördern – sei es in Hinblick auf den Einzelnen, auf unsere Spezies oder auf die Erde insgesamt.
Die folgenden Kapitel zeigen, wie es uns besser gelingen kann, unsere menschlichen Bedürfnisse und Wünsche zu erfüllen und die Schönheit und den Reichtum unseres Planeten zu bewahren.
Kapitel 2: Wirtschaft im Weitwinkel
Mittlerweile gibt es Millionen von Menschen, die nicht länger bereit sind, Leid und Ungerechtigkeit als Willen Gottes oder als Ergebnis geheimnisvoller, scheinbar naturgegebener Wirtschaftsgesetze zu betrachten. Die gesundheits- und umweltschädigenden Auswirkungen einer außer Kontrolle geratenen Industrialisierung haben Menschen weltweit in Alarmbereitschaft versetzt. Sie sind besorgt darüber, dass die Regeln des globalen Handels zu sinkenden Löhnen führen und Arbeitsschutzbestimmungen aushebeln, die im Westen bislang als selbstverständlich galten. Diese Menschen sind sich dessen bewusst, dass in großen Teilen der Welt noch Hunger und Armut herrschen. Sie erkennen, dass selbst in den reichen USA die Kluft zwischen Arm und Reich immer größer wird, wenn dort zum Beispiel in deutlichem Missverhältnis Gelder für das Schulessen von Millionen von Armut betroffener Kinder gekürzt werden, während Unternehmen Millionen an Subventionen und die Superreichen Steuerrückerstattungen erhalten. Sie fordern die Abschaffung einer Buchhaltungspraxis, die es Führungskräften in Unternehmen erlaubt, sich selbst auf Kosten von Vorsorgeplänen für Angestellte oder Kapitalbeteiligungen von Anteilseignern zu bereichern. Kurz gesagt: Diese Menschen prangern rücksichtslose Wirtschaftspolitik und Geschäftspraktiken an und verlangen, dass diese durch auf Fürsorge basierende Politik und Praktiken ersetzt werden.
2.1 Die gesellschaftlichen Grundlagen der Wirtschaft
Wirtschaftssysteme entstehen nicht in einem Vakuum. Sie entwickeln sich in einem umfassenderen gesellschaftlichen, kulturellen und technologischen Kontext. Um eine Grundlage für ein neues Wirtschaftssystem schaffen zu können, müssen wir diesen umfassenderen Kontext verstehen und verändern. Erst dann können wir eine effektive Wirtschaftsordnung aufbauen, die das Wohlergehen und die Weiterentwicklung der Menschen unterstützt und fördert und die natürliche Lebensgrundlage unserer Kinder und zukünftiger Generationen schützt und erhält.
So seltsam es klingen mag: Wenn wir unser Wirtschaftssystem ändern wollen, dürfen wir uns nicht auf die Wirtschaft allein konzentrieren. Wir müssen tiefer und weiter gehen. Wir können ineffiziente, ungerechte und umweltschädigende Wirtschaftspraktiken überwinden – aber damit uns das gelingt, müssen wir die gesellschaftlichen Faktoren betrachten, die unsere Wirtschaft und unsere Wirtschaftstheorien formen und wiederum von diesen geformt werden. Anders ausgedrückt: Wir können Wirtschaftssysteme nicht verstehen, geschweige denn verändern, solange wir nicht den umfassenderen Kontext betrachten, also die psychologischen und gesellschaftlichen Beziehungsdynamiken in allen Lebensbereichen.
In Wirtschaftssystemen geht es um eine Form menschlicher Beziehungen. Es geht nicht um Verbindungen zwischen Gütern, sondern zwischen Menschen. Aus diesem Grund müssen Menschen sowie Tätigkeiten, die menschliches Leben