Die verkannten Grundlagen der Ökonomie. Riane Eisler

Die verkannten Grundlagen der Ökonomie - Riane Eisler


Скачать книгу
alt="Das Bild ist eine schwarzweiße Zeichnung von Christina S. Zhu. Man blickt auf ein Felsplateau, durch das ein tiefer Graben verläuft. Das linke Felsplateau ist durchzogen von groben Rissen. Auf ihm stehe eine kleine weibliche Figur mit einer Leiter in der Hand. Sie blickt hinüber auf die rechte Seite, auf der eine kleine männliche Figur zu sehen ist.Über den Graben hinweg blicken sich zwei kleine Figuren an. Die Leiter ist gerade lang genug, damit sie den Graben überbrücken könnte."/>

      Kapitel 3: Der Doppelstandard in der Wirtschaft

      Manchmal sind wir blind für das Offensichtliche – besonders, wenn es um Überzeugungen und Werte geht, mit denen wir aufgewachsen sind. Die Überzeugung, dass eklatante Ungerechtigkeiten naturnotwendig und daher auch moralisch gerechtfertigt seien, geht weit über die Geschlechterungerechtigkeit hinaus und wurde zur Grundlage unterschiedlichster Formen der Unterdrückung. Die daraus resultierende Überzeugung, dass die Unterordnung einer Gruppe unter eine andere naturnotwendig, ja sogar moralisch gerechtfertigt sei, diente als Vorwand für die Unterwerfung von Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe, Religion oder ethnischen Zugehörigkeit. Außerdem wurden so auch Sklaverei, Leibeigenschaft und andere Formen wirtschaftlicher Ausbeutung (kurz: alle Formen sozialer oder wirtschaftlicher Ungerechtigkeit) und darüber hinaus Pogrome, Lynchmorde, Terrorismus und Kriege zwischen Angehörigen unterschiedlicher Religionen und Ethnien gerechtfertigt.

      3.1 Blind für das Offensichtliche

      Ingroup- und Outgroup-Klassifizierungen sind Dominanzsystemen inhärent. Sie können auf Hautfarbe, Geschlecht, Religion, Ethnie oder anderen Unterscheidungskriterien beruhen. Alle diese Klassifizierungen verstärken einander gegenseitig und verfestigen zudem auch noch zwei für Dominanzsysteme grundlegende Annahmen: Erstens, dass es nur zwei Möglichkeiten gibt, nämlich über- oder untergeordnet zu sein und zweitens, dass Unterschiede mit Überlegenheit und Unterlegenheit gleichzusetzen sind – angefangen bei dem grundlegendsten Unterschied in unserer Spezies, dem Unterschied zwischen Mann und Frau.

      Dieses Bild des überlegenen Mannes gegenüber der unterlegenen Frau verinnerlichen Kinder in dominanzgeprägten Familien von klein auf, da ihnen von Unterordnung gekennzeichnete Beziehungen als normal und moralisch richtig vorgelebt werden. Es dient als Vorlage für die Einordnung von Menschen als über- oder untergeordnet und ist daher von grundlegender Bedeutung für die Errichtung und Aufrechterhaltung eines Systems, das darauf ausgerichtet ist Ungerechtigkeit und Ungleichheit zu verfestigen.

      In den vergangenen Jahrhunderten haben Bewegungen für mehr soziale und wirtschaftliche Gerechtigkeit immer wieder versucht, diesen Doppelstandard für Machthabende und Machtlose abzuschaffen. Allerdings konzentrierten sie sich dabei vornehmlich auf die öffentlichen Bereiche der Politik und der Wirtschaft, die – bis vor kurzem – exklusive Männerdomänen waren.

      Tatsächlich war es so, dass die bedeutendsten »Väter« des modernen Egalitarismus den Gender-Doppelstandard nicht etwa infrage stellten, sondern im Gegenteil vehement befürworteten. Die Tatsache, dass Frauen aus dem Menschenrechtsideal explizit ausgeschlossen wurden, wird in der Geschichts- und Politikwissenschaft jedoch weitgehend ignoriert.

      John Locke, der wichtigste politische Vordenker in Demokratiefragen im 17. Jahrhundert, forderte, dass die autokratischen Monarchen durch in freien Wahlen gewählte Regierungen ersetzt werden sollten. Dabei begehrte Locke gegen die damals vorherrschende Vorstellung auf, nach der die absolute Monarchie ihre natürliche Berechtigung aus der patriarchalischen Familie ziehe. Gleichzeitig beharrte er jedoch weiterhin rigoros darauf, dass es eine »natürliche Grundlage« (a Foundation in Nature) dafür gäbe, dass Frauen rechtlich und traditionell ihren Ehemännern untergeordnet waren.1

      Auch der im 18. Jahrhundert lebende und für seinen Einsatz für Freiheit und Gleichheit berühmte Jean-Jacques Rousseau wandte in dieser Hinsicht zweierlei Maß an. Er erklärte, dass Mädchen von klein auf Einschränkungen unterworfen werden sollten, weil »Fügsamkeit« eine Eigenschaft sei, die Frauen ihr Leben lang benötigten, da sie seiner Ansicht nach immer »entweder einem Mann oder dem Urteil der Männer« unterlegen seien und sein sollten.2

      Die beiden Vordenker der modernen Demokratie- und Gleichberechtigungsbewegung erkannten diese Absurdität jedoch nicht: Wie kann jemand ernsthaft von einer freien und demokratischen Gesellschaft sprechen, solange die eine Hälfte der Menschheit der anderen untergeordnet ist?

      Auch die beiden führenden Wirtschaftsphilosophen des 19. Jahrhunderts waren in dieser männerzentrierten Gesellschaftssicht verfangen. Zwar war Karl Marx und Friedrich Engels die untergeordnete Rolle der Frau bewusst, denn sie beschrieben die Unterdrückung der Frau durch den Mann als »die erste gesellschaftliche Unterdrückung« – allerdings betrachteten sie die »Frauenfrage« (wie viele heutige Sozialisten auch) als zweitrangig.

      Obwohl Robert Owen, William Thompson, Anna Wheeler, August Bebel und einige weitere Sozialisten des 19. Jahrhunderts darauf hinwiesen, dass die ungleiche Verteilung des Wohlstands zwischen Frauen und Männern einen bedeutenden Faktor der wirtschaftlichen Ungleichheit darstelle3, erachteten Marx und Engels diese Problematik angesichts der Unterdrückung der Arbeiterklasse als nachrangig.

      Dabei wurde im Jahr 1848 nicht nur das Kommunistische Manifest von Marx und Engels veröffentlicht, sondern auch das Feministische Manifest der US-amerikanischen Philosophin und Aktivistin Elizabeth Cady Stanton – doch Marx und Engels ließen diese Dokumentation der wirtschaftlichen Unterdrückung von Frauen unberücksichtigt. Als eine andere US-amerikanische Feministin, Victoria Woodhall, 1860 gegen die Diskriminierung weiblicher Arbeiterinnen in der entstehenden Arbeiterbewegung protestierte, empfahl Marx, die Gewerkschaft solle die Fraktion ausschließen, welche die Frauenfrage über die Arbeiterfrage stelle.4

      Für Marx und Engels zählten nur die Klassenunterschiede. Anstatt also einen systematischen Ansatz zu wählen, der die Gesamtheit der Menschen betrachtet, lag ihr Fokus auf den Männern der Arbeiterklasse, über die sie in ihren revolutionären Traktaten leidenschaftlich schrieben. Das, was sie als »Frauenfrage« bezeichneten, sollte warten, bis das kapitalistische System zerstört war.

      Da Marx und Engels alles, was Frauen betraf, als zweitrangig betrachteten, schenkten sie auch der stereotypisch mit Frauen assoziierten Fürsorge und Care-Arbeit wenig Aufmerksamkeit und erkannten daher auch nicht, wie stark die Wirtschaft, die sie doch menschlicher machen wollten, durch die Abwertung von Fürsorge und Care-Arbeit entmenschlicht wurde. Obwohl sie sich für wirtschaftliche Gerechtigkeit einsetzten, waren sie blind dafür, dass der für Männer und Frauen verwendete Doppelstandard nicht nur auf Frauen negative Auswirkungen hatte, sondern auf das gesamte Gesellschafts- und Wirtschaftssystem.

      Allerdings ist ihre Blindheit gegenüber diesem Doppelstandard kein Einzelfall, sondern so verbreitet, dass sie die Weltsicht der meisten von uns trübte und trübt.

      3.2 Geschichten, mit denen wir leben und sterben

      Unser Leben wird von Geschichten bestimmt: Sie sagen uns, ob etwas natürlich oder unnatürlich, möglich oder unmöglich, wertvoll oder wertlos ist. Wir verinnerlichen diese Geschichten, lange bevor unsere kritischen Fähigkeiten und unsere Gehirne sich vollständig entwickelt haben. Deshalb neigen wir dazu, die darin enthaltenen Botschaften als unabänderliche Wahrheiten zu akzeptieren – und eine der Hauptbotschaften dieser überlieferten Geschichten ist die Abwertung von einer Hälfte der Menschheit und allem, was mit ihr assoziiert wird.

      Ich wuchs in Zeiten auf, in denen der Glaube an die Unterlegenheit der Frau gegenüber dem Mann in den USA noch fest verankert war. Noch in den 1950ern reagierten die Leute auf die Geburt eines Mädchens mit dem Spruch: »Hoffentlich wird es das nächste Mal ein Junge.«

      Die überlieferte Angewohnheit, Männerfragen über Frauenfragen zu stellen, ist so tief verwurzelt, dass selbst Menschen, die sich für ihre egalitären Prinzipien rühmen, bei allem, was Frauen anbelangt, oft noch denken, dass es sich dabei »nur um Frauenfragen« handele. Dabei käme selbstverständlich niemand


Скачать книгу