Rost. Jakub Małecki

Rost - Jakub Małecki


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und nichts geschah, es gab nur Großmutter Tosia, Besuch von verschiedenen Onkeln, Tanten, Nachbarn, den Friedhof, die Kaninchen, die Wachteln, den Markt, die Einkäufe in der Stadt, sonst nichts, gar nichts. Manchmal hatte er das Warten satt. Dann konnte er den ganzen Tag weinen, heulen, und nichts half. Er wollte, dass Mama ihn rief, damit er den Holzlöffel ablecken konnte, mit dem sie den Teig für den Schokokuchen rührte. Er wollte, dass Papa ihm erlaubte, am Tisch im Wohnzimmer neben ihm zu sitzen und zuzuschauen, wie er sich mit dem beschäftigte, was die Leute »das ungewöhnlichste Hobby der Welt« nannten; Szymek selbst sah darin nur Zahlenkolonnen.

      Es kam auch vor, dass er keine Kraft mehr hatte und sich fühlte, als gäbe es ihn gar nicht mehr: Er saß vor dem Haus oder in seinem Zimmer, das eigentlich gar nicht sein Zimmer war, denn sein Zimmer war zusammen mit seinen Eltern und allem anderen verschwunden; er saß also in seinem-nicht-seinem Zimmer im Haus der Großmutter, starrte zum Fenster hinaus oder auf den Teppich oder einfach vor sich hin und verschwand; doch bald begriff er, dass er für längere Zeit so nicht verschwinden konnte.

      An jenem Tag ließ Großmutter ihn vor dem Fernseher sitzen und ging zu den Kaninchen zurück. Später rödelte sie im Haus herum, telefonierte, kochte etwas, als fürchtete sie, auch nur einen Moment lang nichts zu tun. Schließlich machte sie sich ans Wäschewaschen, das heißt, sie wollte es, und dann rief sie plötzlich nach Szymek, und als er nicht kam, kam sie selbst.

      »Szymek, warum hast du denn die Spielsachen in der Waschmaschine versteckt?«

      Er schnellte vom Sofa auf, lief ins Bad und öffnete die Waschmaschine. Bestimmt waren sie nicht mehr da, bestimmt waren sie weg, aber nein, sie waren da.

      Sie setzten sich auf die Treppe, Großmutter auf der Seite des Geländers, er an die Wand, und redeten lange. Er sagte ihr, er wolle das nicht mehr so, sie sollten zurückkommen, bitte, er werde auch brav sein. Er sagte auch, warum und vor wem er das Spielzeug versteckt hatte.

      Der Doktor lag in Kleidern da, in den Händen ein zerfleddertes Buch. Seine Beine hingen über das Bett hinaus, das fast die halbe Fläche des Anhängers einnahm – ein ganz normaler Anhänger: Er hatte sich schon lange daran gewöhnt.

      Am liebsten wäre er eingeschlafen, ohnmächtig geworden oder hätte sich zu Tode gesoffen. Seit der Beerdigung von Eliza und Telek hatte er kein einziges Mal getrunken, obwohl er es heute eigentlich hätte tun können, heute war sein Geburtstag. Fünfundsechzig, alles Gute, danke. Er dachte daran, zum Laden zu gehen, aber wozu. Hołowczyc würde sicher schon warten, aber Hołowczyc wartete ja immer, er hatte nichts mehr im Leben außer dem Warten vor dem Laden.

      Er würde noch etwas liegenbleiben, vielleicht noch ein wenig lesen, er kannte jeden Absatz auswendig, seit mehreren Jahren verschlang er rund um die Uhr immer dasselbe Buch, dieses verdammte, schöne, gefährliche, wunderbare, unscheinbare und herrliche Buch, mit dem alles begonnen hatte.

      Wieder einmal dachte er, wäre nicht dieses Buch, wäre da nicht sein idiotischer Wunschtraum gewesen, nach Berlin zu fahren, vielleicht würden Eliza und Telek noch leben. Er hätte am selben Tag fahren sollen, als sie … Nein, das war unmöglich, absurd, unsinnig, unmöglich, doch hatte er sich nicht schon längst an Unmögliches gewöhnt? Egal, was er sich selbst zu erklären versuchte – mitten in einer schlaflosen Nacht würde ihn doch wieder das Gefühl heimsuchen: Szymeks Eltern waren durch ihn verunglückt. Er legte das Buch auf den Boden und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Was wäre gewesen, dachte er, wenn er an jenem Tag nach Berlin gefahren wäre, wenn er sich den einzigen Wunsch erfüllt hätte, den er jemals hatte, wenn er dieses eine Mal etwas anderes getan hätte als das, was getan werden musste.

      Er dachte darüber nach, wer er damals hätte werden können, und darüber, wer er vor langer Zeit geworden war. Er war nicht immer der Doktor gewesen. Früher hieß er Michał, und niemand nannte ihn anders. Michał, und die Mutter benutzte sogar die Koseform Michaś, ein paar Mädels übrigens auch. Jetzt war er nur noch der Doktor, wegen jenes einen, verdammten Abends.

      An der Tür klopfte es.

      Er erhob sich, setzte die Brille auf und öffnete.

      Tosia.

      Wohl zum ersten Mal seit dem Unfall. Ungeduldig stand sie vor ihm, als hätte er sie schon durch etwas verärgert. Doch das hatte er nicht.

      »Kommst du rein?« Er trat zur Seite und machte ihr Platz. Und sprach sie gleich an, etwas leiser: »Wie geht’s dir denn? Kann ich dir irgendwie helfen?«

      Sie sagte nichts und sah ihn nur an, mit diesem typischen Blick, den er gut kannte.

      »Was machst du?«, fragte sie.

      »Was soll ich schon machen?«

      Wieder Stille und dieser Blick, dem er am liebsten ausgewichen wäre.

      »Du musst mit mir in die Stadt fahren.«

      »Jetzt?«

      »Ich muss eine Waschmaschine kaufen.«

      Ein paar hundert Meter vom Unfallort entfernt fuhren sie auf die Umgehungsstraße, so wie sie jetzt immer aus Chojny wegfahren würden: ein paar hundert Meter vom Unfallort. Hinter der Überführung bogen sie ab in die Stadt. Erst als sie an der Tankstelle vorbeikamen, begann sie zu reden.

      »Er hat Angst, dass der Allmächtige ihm die Spielsachen wegnimmt.«

      »Wie bitte?«

      »Szymek hat Angst. Weil er ihm die Eltern genommen hat, hat er Angst, dass er ihm auch die Spielsachen wegnimmt. Und er hat sie in der Waschmaschine versteckt. Was soll ich machen, ich werd ihn ja nicht zwingen, sie wegzuräumen. Soll er sie einfach da lassen.«

      Sie fuhren an der Einfahrt zum Wood-Mizer vorbei, am Rondell bogen sie rechts ab. Hinter dem Militärfriedhof schaute er sie an und sagte:

      »Verdammt, Tosia, wenn ich dir nur irgendwie …«

      Sie winkte ab, als wollte sie ihn loswerden, die Situation loswerden, vielleicht auch alles andere, und den Rest des Weges schwiegen sie.

      Die neue Waschmaschine stellten sie oben in den Flur, zwischen das Bad und das Zimmer, das sie für Szymek vorgesehen hatte. Sie trugen sie zu dritt: sie, Michał und Andrzej Budzikiewicz. Die Maschine war im Angebot gewesen, sah ähnlich aus wie die alte, nur ein bisschen rundlicher vorne. Andrzej bastelte lange am Abfluss herum, sagte, der Anschluss sei ein wenig provisorisch, aber für ein paar Wochen würde es reichen, danach müsse man einen Fachmann holen, damit es keine Überschwemmung gäbe. Sie dankte ihm, Michał gab sie einen Kuss auf die Wange, ohne ihm zu danken. Michał dankte man nicht, Michał war halt Michał.

      Sie machte sich ans Waschen. Aus dem Bad holte sie die Kleider, warf sie auf den Fußboden. Alles schwarz. Sie verdeckte das Gesicht mit den Händen und atmete tief durch. Das darfst du nicht, Tosia, lass das bloß; sie winkte ab, mit der Hand, an der zwei Finger fehlten, und steckte die Sachen in die neue Waschmaschine. Sie sah auf die Uhr. Halb neun. Im Zimmer nebenan lag Szymek schon im Bett, vielleicht schlief er, vielleicht noch nicht, sie schaute hinein: Er schlief noch nicht.

      Er trug eine blaue Schlafanzughose und ein Oberteil, auf dem irgendwelche Märchenhelden abgebildet waren, deren Namen sie würde lernen müssen, so wie sie vieles andere lernen musste, von dem sie keine Ahnung hatte. Er sah zum Fenster hinaus, eine Hand am Heizkörper. Sie wollte nicht mit ihm sprechen, sie wollte ihn nicht an sich drücken, am liebsten hätte sie wortlos die Tür geschlossen und die Wäsche angestellt. Sie stand an der Tür und betrachtete den zarten siebenjährigen Körper.

      Eigentlich hatte sie nur einen Menschen im Leben wirklich geliebt. Den Unsichtbaren, der seit langem dreiundvierzig war und nie älter sein würde. Eliza hatte sie geliebt, natürlich, aber eben, wie man eine Tochter liebt, Andrzej Budzikiewicz hatte sie etwa eine Viertelstunde lang geliebt, an jenem Tag, den sie beide


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