Ab in die Rakete. Beate Dolling
ein bisschen wehmütig dabei. Wo ist er hier nur gelandet? Er wäre auch mit Greta auf den Ponyhof gefahren, wenn noch was frei gewesen wäre, obwohl er es mit Pferden nicht so hat. Die findet er nur in Filmen toll. Am liebsten wäre er zu Opa Zwackel nach Osnabrück gefahren, aber der ist mit einem Kumpel auf einer Motorradtour auf der Route 66, einer fast 4.000 Kilometer langen Straße, quer durch Amerika. Und Oma Heike, unter deren Küchentisch er früher Raumschiff gespielt hat, ist für sechs Wochen in Bueños Aires und macht einen Tangokurs. Blieb also nur noch Mamas Freundin Julia übrig, die als Fachschwester im Seniorenheim Haus Erlengrund arbeitet. Und weil Julia in dieser Woche Spät- oder Nachtschicht hat, muss er nun die nächsten Nächte hier verbringen. Und warum das alles? Weil Mama mal wieder dringend weg musste. Sie ist Kapitänin auf einem Seenotrettungsschiff im Mittelmeer und rettet flüchtende Menschen aus überfüllten Schlauchbooten vor dem Ertrinken. Dabei hatten Mama und er sich so einen tollen Ferienplan gemacht, mit Ausflügen in den Tierpark und ins Technische Museum, wo eine echte Raumkapsel steht und man sich genau angucken kann, wie ein Astronaut da drin wohnt. Luis will später unbedingt Astronaut werden und dann braucht er seine Unterhosen und Socken vier Wochen lang nicht zu wechseln, denn im All hat man keinen Platz dafür und die schmutzige Wäsche wird einfach in Kapseln getan und Richtung Erde geschickt, wo sie dann in der Atmosphäre verglüht.
Der Ferienplan war wirklich super, aber Leben retten geht nun mal vor. Und deswegen heißt es für Luis nun, Haus Erlengrund statt Kino, Technisches Museum, Tierpark oder Zelten am See.
»Ich müsste auch mal aufs Klo«, sagt Luis.
»Kannste das alleine?«, fragt Julia. Er schaut sie schockiert an. »Hey. Das war ein Scherz!«
Kaum kommt er aus der Toilette, schlurft eine Frau auf ihn zu, halb schräg auf ihren Stock gestützt. Ihr Kopf wackelt wie bei einem Wackeldackel.
»Guten Tag, Franz!«, sagt sie und lächelt ihn fröhlich an. »Machen wir heute einen Ausflug?«
Luis schaut sich um, wen sie meinen könnte. Außer ihm ist niemand auf dem Flur. Das Gesicht der Frau ist voller Falten, aber ihre blauen Augen sind klar und strahlen ihn an. Aus den silbrig schimmernden Haaren, die sie streng nach hinten gekämmt hat, hat sich eine Strähne gelöst.
»Bist du mit dem Wagen da oder fahren wir mit der Bahn?«
Zum Glück kommt Julia aus dem Schwesternzimmer. Sie trägt jetzt auch so einen Kittel wie ihre Kollegin Mariola und Gummischuhe.
»Hallo, Frau Sperling. Das ist Luis, der Sohn meiner Freundin. Er bleibt ein paar Tage bei uns.«
»Ach sieh mal einer an. Das ist ja eine schöne Überraschung«, sagt Frau Sperling und wackelt weiter mit dem Kopf. »Es ist noch Platz im Auto.« Sie lacht. Ihre Augen verschwinden dabei hinter den Falten.
Julia wirft Luis einen Blick zu. Aha, die Frau ist also auch plemplem, wie der Bademeister, nur ohne Trillerpfeife.
Julia wendet sich wieder Frau Sperling zu. »Wollten Sie nicht in den Garten? Frau Münnemann und Herr Lasani sitzen in der Rosenecke und kniffeln. Sie haben schon gefragt, wo Sie bleiben.«
»Kommt Franz denn auch?« Frau Sperling schaut suchend an Julia vorbei.
»Nein, heute nicht.«
»Ach, wie schade, wir wollten doch ins Grüne.«
»Wir sind doch schon im Grünen«, sagt Julia.
»Ach, wir sind schon da?« Die alte Dame strahlt wieder über das ganze Gesicht. Julia nickt.
»Na wunderbar!«, ruft Frau Sperling aus und betrachtet Luis, als stecke er in einem ultramodernen SpaceX-Raumfahrtanzug. Die alte Dame scheint ja mächtig durch den Wind zu sein. Kein Wunder, bei dem Kopfwackeln, da werden die Gedanken ja völlig durcheinandergeschüttelt. Frau Sperling reicht Luis die Hand. »Auf Wiedersehen.«
»Auf Wiedersehen«, sagt Luis und zuckt leicht zusammen, überrascht von ihrem festen Händedruck.
»Wer ist denn Franz?«, fragt Luis, mit halb zerquetschter Hand, als er mit Julia zum Fahrstuhl geht. Sein Zimmer befindet sich im dritten Stock.
»Wissen wir auch nicht. Einige von unseren Bewohnern leben in ihrer eigenen Welt und da sollte man sie auch lassen, sonst verwirrt es sie nur.«
»Gibst du dem Bademeister dann seine Trillerpfeife wieder?«
»Ja, klar. Nach dem Abendessen darf Herr Dollmann noch mal in den Garten, pfeifen.«
»Cool«, sagt Luis.
»Du wirst schon sehen. Wir haben hier sehr interessante Leute wohnen. Natürlich gibt es auch ein paar Meckerpötte, aber die meisten sind ganz entzückend. Ich liebe meine Leutchen!«
Der Fahrstuhl ist da, die Türen öffnen sich. Bevor sie einsteigen, sieht Luis noch, wie gegenüber eine Zimmertür auffliegt und eine große Frau ihren Rollator singend auf den Flur schiebt. »Auf dem Mond, da blühen keine Rosen, auf dem Mond gibts keinen Mondenschein …«, trällert sie in den höchsten Tönen. »Darum fahr ich nicht hin, denn das hat keinen Sinn. Da gibts nur Wüste und Stein.«
»Frau Schönstedt, ehemalige Musiklehrerin«, raunt Julia ihm zu. Während Frau Schönstedt die letzte Strophe wiederholt, drückt Julia auf den Knopf mit der Drei, die Lifttüren schließen und der Fahrstuhl setzt sich ruckelnd in Bewegung.
KAPITEL 2,
in dem Luis ein Spaceship entdeckt
und eine Frau um Hilfe ruft
Luis wirft seinen Rucksack aufs Bett. Verrückt, nun ist er in einem Seniorenheim gelandet und muss die nächsten Tage mit Leuten verbringen, die seine Urgroßväter oder Urgroßmütter sein könnten. Was soll man mit solchen Tattergreisen schon anfangen? Immerhin ist das Haus cool, eine alte, verwinkelte Villa, mit Erkern und Türmchen und einem riesigen Garten mit prächtigen Bäumen, auf die man super klettern kann.
Hier oben, im Besucherzimmer, riecht es komisch – nicht nach Desinfektionsmittel und Essen, eher nach Staub und alten Socken. Er fischt sein Deo aus dem Rucksack, das er sich letzte Woche heimlich mit seinem Kumpel Luca gekauft hat. Ein Playboy-Deo, Duftnote: Play it wild. Er hat es in seinem Zimmer gut hinter dem Lego-ICE versteckt. Bei den alten Spielsachen findet Mama es sicher nicht.
Er zieht die Verschlusskappe ab und sprüht einen dicken Zickzack-Nebel durch den Raum. Jetzt riecht es schon besser. Und einmal zickzack über seine Brust. Wahnsinn, echter Männerduft.
Das Zimmer hat ein Bullauge, wie Mamas Kapitänskajüte auf den Rettungsschiffen. In der Mitte des Raums steht ein wuchtiges Doppelbett aus Holz mit dicken Federdecken. Julia hat vorhin gesagt, dass schon lange keiner mehr im Besucherzimmer übernachtet hat. Es ist eigentlich für die Angehörigen der alten Leute, die nicht in der Nähe wohnen, aber die übernachten lieber bei Freunden oder im Hotel.
Auf dem Tisch steht eine Schale mit Schokokeksen. Luis nimmt sich einen. »Das Glück des Augenblicks lässt sich nicht für später aufheben«, steht auf einem mit Blumen bestickten Deckchen, das an der Wand hängt. ›Schokoladenkekse lassen sich auch nicht für später aufheben‹, denkt er und nimmt sich noch einen. Luis lässt sich in den Sessel plumpsen. Dann entdeckt er eine Fernbedienung in einer Außentasche der Lehne. Er fischt sie heraus und drückt auf eine Pfeiltaste. Mit einem Ächzen und Surren setzt sich der Sessel in Bewegung. Es ruckelt und schuckelt; quietschend fährt ein Fußteil aus. Krass, ein echter Spaceship-Sessel!
Luis lehnt sich ins Polster und drückt auf einen anderen Pfeil. Das Fußteil wird wieder eingefahren, nun kippt die Sitzfläche nach vorn, wie eine Baggerschaufel beim Ausladen, die perfekte Aufstehhilfe. Aber Luis will noch gar nicht aufstehen, im Gegenteil. Er positioniert den Sessel wieder auf Normalhöhe und orgelt die Rückenlehne runter. Das dauert ewig und knarrt und knackt wie morsche Knochen. Dann verwandelt der Sessel sich in eine lange Liege. Wenn das Teil draußen stehen würde, könnte man mit einem Fernglas bequem die ISS beobachten, die mit einer Geschwindigkeit von 28.000 Stundenkilometern in 90 Minuten einmal die Erde umrundet. Sein Spaceship ist zwar nicht ganz so schnell, macht