Ab in die Rakete. Beate Dolling

Ab in die Rakete - Beate  Dolling


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      »Hilfe! Hilfe! Polizei!«

      Luis springt auf, läuft zum Fenster und öffnet das Bullauge.

      »Hilfe! Polizei! Haltet den Dieb!«, hört er nun ganz deutlich eine Frauenstimme, sieht aber nur den Ex-Bademeister, der da hinten im Garten steht und eine Schnur auf den Rasen abspult.

      Luis stellt sich auf die Zehenspitzen. Jetzt entdeckt er die Frau, die gerufen hat. Sie steht vornübergebeugt auf dem Kiesweg vor dem Haus, beide Hände auf einen Rollator gestützt. Der Bademeister ist weiterhin mit seiner Leine beschäftigt.

      »Haltet den Dieb!«, ruft die Frau noch mal.

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      Herr Dollmann sieht nicht mal hoch. Ist der etwa taub? Aber auch die anderen zwei Omas, die auf der Bank vor dem Rosenbeet sitzen, reagieren nicht. Niemand kommt der alten Frau zu Hilfe. Das gibts doch nicht!

      Luis düst aus dem Zimmer, den Flur entlang, der Fahrstuhl ist nicht da, also rennt er die Treppe runter, an der Küche vorbei, in den Garten, guckt sich dabei mehrmals um, ob er irgendwo eine flüchtende Person entdeckt, den Dieb, den er auf frischer Tat ertappen könnte, aber da sind nur extrem alte Leute und der Einzige, der rennt, ist er selbst.

      Die Frau, die gerufen hat, steht noch immer da, sie zittert am ganzen Körper. Jetzt kommt Julia auf sie zu und beruhigt sie. Endlich!

      »Man hat mich bestohlen!«, jammert die alte Dame. Sie hat hellgraues Haar und trägt ein wadenlanges, grünes Kleid. Ihre dünnen Beine stecken in braunen, knöchelhohen Schnürschuhen. Ein Schuh ist dicker als der andere.

      »Es ist alles in Ordnung, Frau Weißbrot«, sagt Julia und streichelt ihr über den Arm.

      »Polizei, Polizei«, wimmert die Frau mit dünner Stimme.

      »Wollten Sie nicht in den Pavillon?«, fragt Julia. Frau Weißbrot steht mit hängenden Schultern da und sieht sehr hilflos aus.

      »Sind Sie von der Polizei?«, fragt sie Luis.

      »Nein, nein«, antwortet Julia für ihn. »Das ist der Luis. Der bleibt ein paar Tage bei uns.«

      Die Frau mustert ihn eingehend. Luis weiß nicht, was er sagen soll. Hat sie ihn wirklich für einen Polizisten gehalten? Komisch, dass Julia gar nicht nachfragt, was eigentlich passiert ist. Stattdessen hakt sie die alte Dame unter, schlurft mit ihr über den gepflasterten Weg, zeigt auf die Rosenhecke und betont, wie wunderbar die Rosen heute duften. Die Masche kennt Luis, das ist das reinste Ablenkungsmanöver. Eindeutig, Julia will die Frau von dem Diebstahl ablenken. Warum?

      Mariola kommt über den Rasen getrabt. Sie sieht aus wie eine Profifußballerin mit ihrem Pferdeschwanz und den muskulösen Waden. Mariola übernimmt Frau Weißbrot, redet fröhlich auf sie ein, schiebt sie am Goldfischteich vorbei Richtung Pavillon. Weiter hinten wickelt der Bademeister seelenruhig eine weitere Bahn blaue Wäscheleine von einem Holzstückchen ab und rückt die Schnur mit der Fußspitze im Gras zurecht. Gleich hat er sein Schwimmbecken beisammen.

      »Frau Weißbrot bildet sich nur ein, man habe ihr den Schmuck gestohlen«, erklärt ihm Julia. »Sie ist dement.«

      »Dement?«, fragt Luis.

      »Ja. So nennt man das, wenn alte Menschen Sachen durcheinanderbringen oder in ihren Erinnerungen leben.«

      »Wie der Bademeister?«

      Julia nickt.

      Krass! Nun kennt Luis schon drei Leute, die irgendwo in ihrem Leben stecken geblieben sind, wie in einem defekten Fahrstuhl: Frau Weißbrot, die denkt, sie würde beklaut, Herr Dollmann, der meint, er sei im Schwimmbad, und Frau Sperling, die einen Franz hat, den keiner kennt.

      »Wie gesagt«, seufzt Julia. »So lange es ihnen gut geht, lassen wir sie in ihrer Welt.«

      »Aber wenn man meint, dass man bestohlen wird, geht es einem doch nicht gut.«

      »Frau Weißbrot meint das ja nicht immer, sie hat nur Schübe. Sie ruft andauernd nach irgendwas, manchmal sogar nach der Feuerwehr. Und dann hört man tagelang gar nichts von ihr.«

      »Und wenn sie wirklich bestohlen worden ist?«

      »Ach was«, sagt Julia. »Doch nicht im Haus Erlengrund. Das ist ein sehr angesehenes Seniorenheim.«

      Im Teich schnappt ein Goldfisch nach Luft. In der Ferne sind Stimmen zu hören und das Klackern von Würfeln.

      »Geh doch in den Pavillon, da gibt es einen Spieleschrank«, schlägt Julia ihm vor. »Gleich wenn du reinkommst, rechts. Vielleicht entdeckst du was Interessantes. Die Bewohner freuen sich total, wenn jemand mit ihnen spielt.«

      »Wieso?«, fragt Luis. »Können die sich nicht selbst beschäftigen?«

      Julia streicht ihm lächelnd über den Kopf. So was kann er überhaupt nicht leiden. Er zieht den Kopf weg. Dann schnuppert sie in seine Richtung. »Sag mal, bist du das, der hier so gut riecht?«

      Luis spürt, wie er rot wird.

      »Haargel?«

      »Nee. Deo.«

      »Cool«, sagt Julia, aber er sieht, dass sie die Nase rümpft. Zum Glück fragt sie nicht, welche Marke. Sie schaut auf ihre Armbanduhr. »Ich muss jetzt wieder rein. In einer halben Stunde teilen wir das Essen aus. Die Bettlägerigen auf der zweiten Station bekommen es aufs Zimmer, die anderen treffen sich unten im Speisesaal.« Dann rauscht Julia ab.

      KAPITEL 3,

      in dem Luis zum Retter wird

      und einen James-Bond-Opa trifft

      In den Hortensienbüschen brummen Hummeln. Durch den großen Garten schleichen die Senioren. Manche haben Besuch von ihren Kindern, die auch schon Senioren sind. ›Echt, alle alt hier‹, denkt Luis. Okay, dann geht er mal die Lage checken. Das macht Mama auch immer als Erstes, wenn sie irgendwo neu ankommt: checken, was los ist und dann eingreifen und retten. Er würde ja auch gern mal jemanden retten, aber hier ist niemand in Seenot, hier kriegen sie ja sogar das Essen ans Bett. Aber was ist mit der Hilfe rufenden Frau?

      Luis geht an einer Laube vorbei, sagt »Hallo« zu zwei Opas, die dort am Tisch sitzen und rauchen, und geht einmal durch den riesigen Garten, der schon ein halber Park ist, mit vielen Wegen, Bänken und Büschen. Eine Außenwand von Haus Erlengrund ist mit Efeu überwachsen und hat sogar eine Feuertreppe, die sich im Zickzack bis unters Dach erstreckt.

      Durch die Küchenfenster sieht er eine Frau mit einem riesigen Schneebesen in einem großen Topf herumrühren. Es riecht nach Pudding. Weiter hinten steht ein Mann und bestreicht Brote mit Margarine. Okay, nichts Verdächtiges, dann checkt Luis mal, was in diesem Pavillon los ist. Der Pavillon ist ein Anbau mit Glaswänden und Gardinen. Drinnen sitzen verteilt mehrere Leute herum, die lesen, reden oder tagträumen. Am vorderen Teil eines langen Tisches spielen drei Damen Mensch-ärgere-dich-nicht. Eine Frau mit schulterlangen, schwarzen Haaren und blumigem Haarreif, hockt halb auf ihrem Rollator zwischen den Spielenden, guckt ihnen über die Schulter und gibt Anweisungen.

      »Nee, nee, Frau Buttermann, Sie können Frau Münnemann nicht schmeißen. Sie müssen erst ihr Startfeld frei machen.«

      Eine kleine Frau mit schneeweißen Locken fragt: »Hab ich Rrrrot?« Sie rollt das »R« sehr stark.

      Gerade als Luis den Spieleschrank öffnen will, kommt Mariola, die Fußballerin, und fragt, ob er sich schon bekannt gemacht habe. Luis zuckt die Schultern. Was glaubt sie, dass er reinkommt und gleich seinen Namen durch die Gegend posaunt? Aber genau das macht jetzt Mariola. Die alten Leute, die noch ihren Kopf drehen können, sehen ihn an und gucken ganz entzückt.

      »Ach, wie hübsch!«, sagt eine elegante Dame mit dick aufgemalten Augenbrauen, die neben einem Zeitung lesenden Mann im Rollstuhl am anderen Ende vom Spieltisch sitzt und Kreuzworträtsel löst. Der Zeitungsleser schaut nur kurz über den Zeitungsrand und liest dann weiter. Er hat einen


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