An heiligen Wassern. Jakob Christoph Heer
es würde die Zeit kommen, wo sie nicht mehr genug süße Zirbelnüsse, ihren liebsten Leckerbissen, fänden. Sie berieten lange hin und her, wie sie die Leute von St. Peter bewegen könnten, ihnen ein großes Stück Wald zu schenken. Eines Nachts erschien Gabrisa am Lager ihres ehemaligen Geliebten, lächelte und sagte: 'Ich will dich und alle in St. Peter reich machen mit güldenem Wasser, das ihr gerne trinket, so ihr uns Wildleuten den Wald an der Thalhalde zwischen dem Dorf und der Kapelle schenkt, wo die Zirbeln wachsen. Saget denen zu Hospel, daß wir Wasser auf ihre verdorrten Reben, Felder und Wiesen führen wollen, wenn sie euch gutwillig ein Dritteil ihrer Weinberge geben.
'Uns Wilden den Wald, euch Zahmen den Wyn,
Das söll treulich und ewig gehalten syn!'
Gabrisa verschwand. Schon lange hätten die von St. Peter gern Weinberge gehabt, aber die Reben wachsen nicht, wo die Gletscher sind. Darum ging ihnen, was Gabrisa sagte, zu Herzen, sie redeten mit den Hospelern und den fünf Dörfern; mürbe von der langen Not, traten diese dem Handel bei, denn ihre Reben waren wertlos geworden. Wie Gabrisa gesagt, kam der Vertrag zu stande und wurde beim Bildhaus von Tremis von den Abgesandten der Wildleute und der Dörfer beschworen.
Nur wunderte man sich, wie die Wildleute das Wasser in die hohen Weinberge tragen oder führen werden, doch wußte man, daß sie in vielen Künsten erfahren waren.«
Erst jetzt merkte Vroni, daß sie auch vom Bruder im Stiche gelassen worden war. Was verschlug's? Er hatte ja die Geschichte schon oft von der Mutter gehört, die sie so schön wie niemand anders zu erzählen verstand. Als sie nun die treulosen Zuhörer suchen ging, bot sich ihr ein überraschender Anblick.
Zur Seite der Ruine, wo die Mauleselin Galta stand, lag Binia auf dem Haufen Grünfutter, den sie oder Josi dem Tier vorgeworfen hatte. Das wilde Kind lachte mit seinen schwarzen Augen und seinen weißen Zähnen den Burschen an und er hielt vor ihr stehend einen Strohhalm voll roter glänzender Erdbeeren, die ersten des Jahres.
»Mund auf und Augen zu!« sagte er zu der Daliegenden, die lustig zu ihm emporschielte.
»Aber nichts Wüstes hineinthun!« bat sie.
»Was denkst auch, Bineli,« lachte Josi.
Da schloß Binia die Augen zu, öffnete den Mund und Josi zog die roten Erdbeeren lächelnd vom Halm und steckte dem Kinde eine um die andere zwischen die roten Lippen. Plötzlich aber besann er sich anders, statt einer Beere drückte er ihr einen Kuß auf den frischen Mund.
Binia wollte zappeln, Vroni wollte rufen, das sei das Spiel zu weit getrieben, aber beide lähmte die Ueberraschung.
»Deus benedicat vos!« klang tief und feierlich eine Männerstimme aus dem Innern der Ruine, ein schwarzbärtiges hageres Gesicht schaute durch ein kleines Gitterfenster der Mauer auf die Kinder.
»Der letzköpfige Pfaff!« schrieen sie wie aus einem Munde, ein großer Schrecken war ihnen in die Glieder gefahren. Binia schirrte das Maultier los, Josi und Vroni eilten nach der Kapelle zu ihren Kraxen, stülpten die an einem Baum hängenden Hüte auf den Kopf und alle drei wollten ihrer Wege gehen.
Als sie sich aber auf der Brücke eben wieder begegneten und hastig aneinander vorübereilen wollten, trat der Mann von vorhin schlarpend aus der Ruine und mitten unter sie. Er war barhaupt, an den Füßen trug er Holzsohlen, um die dunkle rauhe Kutte schlang sich ein weißer Strick, von dem ein Rosenkranz niederhing. Ganz verwildert sah der bärtige Einsiedler aus, in dessen bleichem Gesicht zwei unstete Augen loderten.
»Pax vobiscum!« grüßte er sie. »Du bist Binia, die Tochter des Presi! Du bist Josua, der Sohn des Wildheuers! Kniet nieder ihr zwei!«
Er machte dazu mit seinen mageren Händen eine so feierliche Bewegung, daß die bekränzte Binia unwillkürlich gehorchte und auf die Brücke niederkniete.
Verwirrt folgte der Bursche.
Da legte er ihnen die Hände auf die glühenden Häupter und sagte tief und getragen: »So wahr ich Kaplan Johannes heiße, liebet euch untereinander, Josi und Binia.«
Er murmelte über ihnen einen langen lateinischen Spruch wie ein Gebet.
Vroni, welche die stille Zuschauerin war, kam das, was Kaplan Johannes that, unheimlich und schrecklich vor. Ihre Augen irrten hilfesuchend thalauf, thalab, doch wagte die Zitternde keinen Einspruch, dafür kam ihr das Gewand des Mannes zu heilig vor. Zuletzt sagte sie gepreßt: »Wir müssen ja gehen!«
»So geht!« grollte die Baßstimme des Kaplans, er schleuderte Vroni einen zornigen Blick zu, machte das Zeichen des Segens über den zweien und lief über die Brücke. Bald bimmelte das Glöckchen der Kapelle Vesper durchs Thal, aber die Kinder knieten bei den Klängen nicht, wie sie's gewohnt waren, nieder. Ohne sich zu grüßen, liefen sie hastig und mit roten Köpfen auseinander, Binia mit dem Tier über die Brücke thalaus, Josi und Vroni, mit ihren Holzschuhen klappernd, die Kraxe auf dem Rücken, den Stutz empor, der mit seinem Zickzack gleich hinter dem Schmelzwerk beginnt und nach St. Peter führt.
Da ragen, vom Weg nur durch die schreckliche, trichterartige Schlucht der Glotter getrennt, die Weißen Bretter, drei senkrechte und glatte Felswände, die aus der Tiefe der Schlucht wie weiße unbeschriebene Tafeln bis zum Gletscher und ewigen Schnee des Glottergrates ansteigen. Zwischen den drei Wänden ziehen sich zwei tiefe wilde Graben, in denen sich ausgewitterte Felsen, Klippen und Türme erheben, ebenfalls bis in die Höhe ewigen Winters, sie heißen die Wildleutfurren. In halber Höhe aber geht wie eine dunkle Linie die Leitung der heligen Wasser quer über die Felsen. Ein Rad, das oben klopft, sagt den Leuten im Thal, daß die Wasser ruhig die furchtbare Strecke fließen.
Schweigend waren die Geschwister eine Weile gegangen, da lehnte Josi die Kraxe an die Halde, die den Weg säumt, und schaute gespannt zu der Leitung empor.
Nein, höher noch hinauf, zu dem blauschillernden Gletscher, der mit einer Last reinen weißen Firnenschnees über die Wände hinausragte. An seinem Rand stoben immer kleine weiße Rauchwolken auf, ein Rieseln und Schäumen, wie das von Wasserfällen ging durch die Wildleutfurren abwärts, verlor sich in ihren Klüften und knatternder Widerhall der kleinen Lawinen füllte das Thal.
»Hast du das auch schon gesehen?« fragte Josi.
»Nein,« antwortete Vroni kurz und beklommen.
»Eben darum kommt die Wildleutlaue. In den letzten Wintern ist mehr Schnee auf den Gletscher gefallen, als die Sommer haben zu schmelzen vermögen; der Gletscher ist gewachsen, er tritt über die Felsen hinaus, man sieht ihn, wo man ihn vorher nicht hat sehen können. Jetzt, wo es heiß wird, schmilzt der Schnee, das Wasser fließt in das hervorstehende Eis; die Last wird zu groß, der Gletscherbruch kommt, die Wildleutlaue!«
»Ums Himmels willen, Josi, laß uns gehen!«
»O, dem Weg schadet es nichts; wenn die Luft beim Sturz nicht so sausen würde, so könnten wir da ruhig zusehen, Eis und Schnee stürzen in die Schlucht, die ist ja groß. Aber es ist wegen der heligen Wasser!«
Vroni war unbekümmert um den Bruder, der ihr alles mit großen Worten vortrug, aufgestanden, er folgte, in einer halben Stunde hatten sie den Stutz, die Schlucht und die Weißen Bretter hinter sich, vor ihnen lag auf dem sanften Oval des ebenen Thalhintergrundes ihr Heimatdorf, St. Peter, das rings von hohen Bergen umsäumt ist.
Einen Augenblick schauten die Geschwister, die das letzte Wegstück schweigend zurückgelegt hatten, über die weißen Windungen des Sträßchens am Stutz hinab und nach dem Teufelsgarten zurück. »Lug' dort, Bini!« rief Josi. Das wilde Kind hatte sich hinter der Kapelle auf das Maultier geschwungen und sprengte nun, eben noch unterscheidbar, wie ein fliegender Schatten über die schmalen Matten des Thales gegen Tremis hinab. Vroni sah es wohl, wie sich das treuherzige Gesicht Josis verklärte, als er noch einen Schein der Gestalt erhaschen konnte.
Ueber ihr frohmütiges Antlitz flog ein Schatten.
»Du, Josi, was der Kaplan Johannes gethan hat, das ist schrecklich. Er hat dir und Binia den bösen Segen gegeben. Jetzt, wenn ihr auch wolltet, könnten du und Binia nie ein Paar werden.«
Josi