An heiligen Wassern. Jakob Christoph Heer
Er ist nur ein davongelaufener Klosterschüler, er darf niemand die Beichte abnehmen; die Leute nennen ihn nur Kaplan, weil früher, zu Bergwerkszeiten, die Kapelle der Lieben Frau eine Kaplanei gewesen ist.«
Josi hatte das Bedürfnis zu widersprechen.
»Aber hat er auf den Alpen mit seinen Tränken und Sprüchen nicht schon manchmal krankes Vieh gesund gemacht? Denk' nur an die zwölf Stücke des Bäliälplers. Sie hatten die Klauenseuche und man wollte sie schon töten, da segnete sie Johannes und sie wurden in drei Tagen gesund.«
»Ja — und dafür starben dem Bäliälpler drei Wochen nachher die beiden schönen Kinder, die bis dahin kerngesund gewesen waren; er und seine Frau, die früher glücklich zusammen lebten, haben jetzt nichts als Zank und Streit, er ist wild über sie, weil sie den letzköpfigen Pfaffen ohne sein Wissen in den Stall geführt hat, und immer sitzt er zornig und traurig im Wirtshaus.«
»Die Kinder sind vielleicht auch sonst gestorben,« versetzte Josi kühl. »Wir lassen den Kaplan nie in unseren Stall, haben wir deswegen weniger Unglück mit dem Vieh als andere Leute? Nein, im ganzen Dorfe haben wir am meisten. Drei Jahre hintereinander haben wir Jungvieh aufgezogen, es wuchs und gedieh auf das schönste, aber jedesmal, wenn's bald hätte verkauft werden können, ist's umgestanden. Die Loba, die der Vater am Samstag verkauft hat, ist seit vier Jahren das erste Stück, das geraten ist.«
»Die Loba!« — Vroni bückte sich tiefer unter ihrer Last; die Thränen, die sie vergossen hatte, als der Händler das schöne liebe Rind davongeführt hatte, drohten wieder zu kommen. Sie wurde traurig und still.
»Du erzählst der Mutter nichts von Kaplan Johannes, gelt, Vroni,« versetzte Josi schmeichelnd, als sie durch die mit großen Pflastersteinen besetzte Straße von St. Peter schritten. »Nein, gelt, du sagst nichts!«
»Ei, wie Josi betteln kann.« Das Gesicht Vronis hatte sich gehellt. »Wenn du dich nie mehr mit dem Kaplan einlässest, will ich still sein.«
Sie schritten durch die lose Reihe gebräunter Holzhäuser, Ställe und Städel[2], die das Dorf bilden. Als sie am Gasthaus zum Bären vorbeikamen, einem alten, massiven Steinbau gegenüber der Kirche, die sich auf einem Felsenhügelchen erhebt, öffnete sich ein Fenster und eine Männerstimme rief: »Vroni! — Josi!«
[2] Stadel, schweizerdeutscher Ausdruck für Heuschuppen.
»Der Vater!«
Freundlich reichte ihnen der bärtige Wildheuer ein Glas voll Wein: »Ihr werdet wohl Durst haben!«
Vroni nippte nur, Josi aber nahm einen tapferen Schluck.
»Sagt der Mutter, es könne, bis ich heimkomme, etwas später werden, als ich gemeint habe, der Presi ist nach Hospel gegangen und ich muß ihn erwarten.«
So der Vater. Die Kinder verabschiedeten sich, schlugen einen Seitenweg ein, der durch Kartoffel- und Roggenäckerchen an den sonnigen Hang hinüberführt, wo die Maiensässen[3] und Alpweiden der Leute von St. Peter liegen.
[3] Maiensässen sind Berghäuser zwischen den Dörfern und den Alpweiden, sie bilden beim sommerlichen Zug der Sennen und des Viehs auf die Hochweiden den Zwischenaufenthalt, wo gewöhnlich im Mai mehrere Wochen geruht wird.
Da stand unter einem Felsblock ihr kleines Haus, auf dessen steinbeschwerten Schindeln eine große Steinbrech blühte, jene Blume, von der die Sage der Aelpler behauptet, daß sie nur auf den Dächern wachse, unter denen der Friede wohne. Freundlich schauten die kleinen Fenster, vor denen Stöcke roter Geranien prangten, gegen das Dorf.
»Ja, die Wildheuerfränzi versteht sich auf Blumen.« So sprach man im Dorf. »Blumen und Geschichten sind ihr Sonnenschein.«
Erschöpft ließ Vroni die Kraxe auf die Bank vor dem Felsblock sinken, auch Josi stellte die seine mit einem Ausruf der Erleichterung ab.
Unter der Thüre erschien die Mutter, die Wildheuerfränzi, selbst in ihren abgetragenen Kleidern eine hübsche Frau, von kräftigem Wuchs, vollem, üppigem dunklem Haar, offenen Zügen und jenen großen, blauen, vielsagenden Augen, die Vroni von ihr geerbt hatte.
»Da seid ihr ja,« sagte sie erfreut, Josi aber rief: »Mutter, eine Neuigkeit, die Wildleutlawine kommt!«
Eine geraume Weile später sah man den Presi mit seinem Fuhrwerk gegen das Dorf fahren.
II.
Der Gasthof zum Bären war ein Altertum des Dorfes St. Peter. Die Ueberlieferung berichtete, das aristokratische Haus sei, als noch ein Saumweg über die damals weniger vergletscherten Berge nach Welschland geführt habe, eine Sust, eine Warenniederlage, gewesen, wo die Maultiere gewechselt wurden. Man erzählte sich, die Knappen des Bergwerkes hätten, wenn sie ihr Silber und Blei über die Berge nach Welschland führten oder von dort mit dem Erlös zurückkamen, im Bären hart gezecht, aus silbernen Bechern getrunken, mit silbernen Kugeln gekegelt und manchmal sommerlang fröhliche Italienerinnen als Spielgefährtinnen in dem Haus einquartiert.
Nur als Nachklang lebte die Erinnerung an diese üppigen Zeiten in St. Peter fort, das Leben ging jetzt in Haus und Dorf den gemessenen stillen Gang der einsamen Alpendörfer. Seit zwei- oder dreihundert Jahren stand das Bergwerk still; so glänzend, wie es die Sage schilderte, mochte das Knappenleben nie gewesen sein. Das Schmelzhaus war eine Ruine und der alte Paßweg nach Welschland mit seinem Verkehr war verschollen, an den Erzreichtum der Gegend erinnerten nur noch die schönen Drusen und Gesteinsblüten, die man da und dort als Schmuck hinter den Fenstern der Wohnungen sah.
Für den vielhundertjährigen Bestand des Bären aber sprachen seine massive Bauart und die Jagdtrophäen, die am Dachgebälk befestigt waren: gebleichte Steinbock- und Wolfsschädel, besonders ein eingetrocknetes mumienhaftes Bärenhaupt, das als Wahrzeichen des Hauses an einer Kette gegen die Thüre und die Freitreppe hinunterhing, die mit schönem eisernem Geländer zum Eingang emporführte. Die weißgrauen Zähne des Hauptes waren vermorscht und verwittert; die Jagdzeichen reichten wohl bis in die Zeit der Venediger zurück, denn so lange schon gab es im Glotterthal weder Bär noch Wolf, und seit dem Anfang dieses Jahrhunderts sind auf den Felsen und Firnfeldern der Krone die Steinböcke ausgestorben.
Ueber dem Fenster neben der Treppe prangte als eine neuere Zuthat am alten Bau die Inschrift »Postbureau St. Peter« und der eidgenössische Postschild.
Die stattlichen Wirtschaftsräume des Bären befanden sich im ersten Stock; helles Arvengetäfel, aus dem die dunkeln Astringe wie Augen schauten, und alte geschnitzte Wappenzier an den Decken fesselten den Eintretenden. Der Hauptschmuck der großen Stube war ein alter Leuchter, der ein Meerweibchen darstellte, dessen Leib in ein Hirschgeweih auslief.
Am Eichentisch unter dem Leuchter saßen der Bärenwirt Peter Waldisch und Hans Zuensteinen, der Garde[4].
[4] Garde (französisch garde, Hüter) nennt man in den Thälern, wo »Wässerwasserfuhren« bestehen, dasjenige Gemeinderatsmitglied, das die Aufsicht über die Wasserleitung hat.
Sie prüften das Fäßchen Eigengewächs, das jener gestern in Hospel draußen geholt hatte.
»Wie Feuer, meiner Treu!« sagte der rauhbärtige Garde, das eine Auge zukneifend und durch das erhobene Glas blinzelnd, in dem der Weißwein sonngolden erglänzte — »aber, aber, Presi,« seine Stimme wurde plötzlich sehr ernst, »die Abmachung mit Seppi Blatter ist nichts. Wenn der ganze übrige Gemeinderat dafür