No such Future. Friederike Müller-Friemauth
Marketing als »Gottesdienst am Kunden«
Erinnern Sie sich noch an Cocooning, den Trend der US-Forscherin Faith Popcorn aus den 1980er-Jahren? An den Wellness-Hype? Das Kult-Marketing? Die Tage des Kundendialogs seien gezählt, hieß es bei Letzterem. Marken würden zu Mythen, Logos zu Hostien. Das moderne Marketing würde religiöse Werte durch Waren-Ikonen ersetzen. Frisch recycled heißt der Kult des Sozialen heute bei Norbert Bolz Sociopleasure – ritualisiertes Marketing als »Gottesdienst …«. Soll heißen: alter Wein in neuen Schläuchen.
Dann aber So! Oder?
Dass die Aufnahmebereitschaft gegenüber solchen Trendreportagen merklich nachließ und ein Sammelsurium an Freak-Art noch keinen Aussagewert über die Zukunft hat, erkannte die Branche irgendwann dann auch einmal selbst. Und die Trendreporter reagierten.
Entgrenzter Trendbegriff
Fortan geht der Trend zu xy-Trends. Der ehedem noch einigermaßen übersichtlich auf Zeitspannen von zwei bis drei Jahren bezogene Trendbegriff wurde – zeitlich-sachlich-sozial – aufgepeppt. Anything goes! Und was nicht passt, wird passend gemacht. Unter dem aktuellen Begriffs-Rettungsschirm »Trend« wird heute so Schillerndes gehandelt wie Zivilisationen, technologische Zyklen, Konjunkturen, Marktphasen, Modewellen oder Lifestyles und einiges mehr. »In einer groben Vereinfachung (!) lässt sich der meta-historische Prozess als eine Schichtung von zyklischen Schwingungen verstehen, in denen die einzelnen Ebenen jeweils verschiedene Zeit-Schwünge ausführen«.6
»Verkompliziert« (wenn das überhaupt noch möglich ist) wurden diese Trendschwünge zusätzlich durch Bezüge auf verschiedene Trendebenen. Beispielsweise auf Mikrotrends (die sind kleiner), Makrotrends (die sind größer), Megatrends (die sind erheblich viel größer und vor allem lang anhaltender) sowie Metatrends (Trendbündel von mehreren höchst relevanten und grundlegenden Entwicklungen). Manche sprechen zudem noch von Schlüsseltrends (die sind, das sollte jetzt wohl klar sein, besonders wichtig). Und, ach ja: Jüngst wollen einige der Trendreporter sogar Minitrends7 gesichtet haben … Sehn so Sieger aus?
Zumindest ahnt man, warum so mancher KM-Unternehmer um diese Form von Trendforschung einen Bogen macht: Bei Megatrends wie Die Bedeutung von Frauen in Wirtschaft und Gesellschaft nimmt zu, Globalisierung bei Regionalisierung, Konkurrenz der Mega-Cities oder Die BRICS-Staaten kommen (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) ist die Perspektive so weit – 50 Jahre und mehr Relevanz –, dass irgendwie jeder betroffen ist. Aber was heißt das schon? Dass die Welt sich ändert? Das wissen Unternehmer. Bloß: Wo der Bezug zum eigenen Geschäft dabei liegen soll, bleibt oft ein Rätsel.
Kritiker dieser Form von Trendforschung munkeln, diese hätte mit ihrem bedeutungsschwanger aufgeladenen filibusterischen Geschwurbel das Perpetuum mobile erfunden. Was das ist? Sie selbst! Eine eigene Zukunfts-Denke. Ein eigener Zukunfts-Sprech – mit dem sie menschliche Universal-Bedürfnisse in den Mähdrescher der jeweiligen Zeitläufte steckte und aus dem dabei rauskommenden, gehäckselten, ewigen (bloß ziemlich uninspiriertem) Stroh funkelndes Gold spintisierte. Über diesem Rumpelstilzchen-Geschäftsmodell hat die Branche allerdings den Boden unter den Füßen (sprich: ihr methodisches Fundament) verloren. Und noch dazu einen Haufen Glaubwürdigkeit.
Mikro / Makro / Meta / Mega
Am Anfang stehen Weak Signals: schwache Signale für einen möglichen Trend. Diese haben inzwischen Zuwachs bekommen – von den Emerging Issues. Diese sind zwar mit schwachen Signalen »verknüpft«. Während jedoch die schwachen Signale »meist Einzelphänomene thematisieren, führen Emerging Issues Trends und schwache Signale zusammen und weisen auf strukturelle Veränderungen hin«. Aber waren schwache Signale nicht eigentlich Hinweise auf Trends? Seis drum. Emerging Issues stellen »Muster« dar – vielleicht so etwas wie eine Mikro-Trend-Anballung? Obwohl: Auch »Megatrends wie die Globalisierung oder der Übergang zur Wissensgesellschaft bringen kontinuierlich neue Emerging Issues hervor. Viele Emerging Issues speisen sich auch aus dem Zusammenspiel mehrerer Trends«.8
Na, Mensch – dann ist doch alles klar!
Neue Bescheidenheit
Noch einmal stellte sich die exzentrische Trendforschung dem schärfer werdenden Gegenwind. Diesmal allerdings nicht so hemmungslos innovativ wie beim maßlosen Aufblasen des Trendbegriffs. Die Tonlage wird kleinlauter – man ist offensichtlich mit Defensivarbeit beschäftigt.
Rückzugsgefechte
∎ Der umtriebige Norbert Bolz ließ jüngst verlauten, die gesellschaftsübergreifend wichtigen Megatrends seien gar nicht als Prognosen (also zeitlich gerichtet) gemeint, sondern lediglich als Kampfzonen zwischen Entwicklung und Gegenentwicklung9 zu verstehen. Ausgang offen, Richtung unbekannt …
∎ Matthias Horx vermeldete, die vom Marketing geliebten »Zielgruppen« und deren jeweilige »Lebensstile«, auf die die Trends abzielten, gäbe es gar nicht mehr. Und der Begriff »Lifestyle«? Der sei eine Idee des letzten Jahrhunderts, lässt er durch sein Kelkheimer Zukunftsinstitut verlautbaren (sinnigerweise Herausgeber der Studie Lebensstile 2020). Unsere schnelllebige Zeit und die Konjunktur von Bastelbiographien ließen es nicht zu, dass ein Stil länger anhielte als bis zur nächsten Straßenecke. Die Zukunft gehöre dem Life-Morphing10 – also dem Stil-Mix. (Was listigerweise – trotz Büßerpose, Marktforschungs-Bekrittelung und Marketing-Kritik – die Ausgangslage dafür schafft, das Trendreporter-Fließband für neue Stile trotzdem einfach weiterlaufen zu lassen.)
∎ Die Kölner Möbelmesse brach 2012 mit einer langjährigen Tradition und stellte ihr Trendbuch ein. Mit der erstaunlichen Begründung, dass es einfach zu viele interessante Entwicklungen gäbe! Vor lauter Weak-Signals-Bäumen sieht man den Trendwald nicht mehr …
∎ Bei der empirisch fundierten Trendforschung, die durch Marktforschung absichert wird, sind es dagegen die Kunden, die sich zurückziehen: Da die Kosten für repräsentativ erhobene Programme die Marketing-Budgets von immer mehr Unternehmen sprengen, sind sie für viele schlichtweg nicht mehr bezahlbar.
»Wichtig ist, dass er nun eine klare Linie in sein Leben bringt.«
LOTHAR MATTHÄUS zum Kokaingeständnis von CHRISTOPH DAUM
Analyse: Spielformular
Unsere Darstellung der Herkunft der Zukunftsforschung bis in die Jetztzeit wollte mehr nachzeichnen als Glory Days.
Erstens sollte klar geworden sein, dass die medial-öffentlich sichtbaren Trend-Master – die »exzentrischen« – lediglich die Spitze des Eisbergs von Zukunftsforschung darstellen. Diese hat nicht nur andere, seriöse Ursprünge (wie den leider fast vertrockneten wissenschaftlichen Zweig), sondern auch einen weithin unbekannt arbeitenden Teil (in Thinktanks, Wissenschaftsverbänden und Forschungsabteilungen von Großkonzernen beheimatet).
Zweitens: Egal, wie unsichtbar der seriöse Bereich ist – höchstwahrscheinlich leistet sich beispielsweise das Militär als Dauernutzer von Zukunftsforschung keine Luxus-Sektionen. Schließlich geht es hier todernst zu. Irgendetwas an dieser Zunft wird also lohnend sein. Und Großkonzerne? Werden ebenfalls keine Spielwiesen unterhalten. Schließlich geht es bei ihnen noch ernster zu. Hier geht es nämlich ums Geld.
Warum aber – drittens – der lange Anlauf? Über die Anfänge der Zunft und Delphi? Wohl kaum, um zu erklären, dass eine zeitgemäße Zukunftsforschung mit altgriechischen Orakelsprüchen wie »Kräht der Hahn auf’m Mist, ändert sich die Nachfrage oder sie bleibt, wie sie ist!« derzeit noch überlebensfähig wäre. Nö: Interessant an den Ursprüngen für alles Weitere ist etwas ganz anderes.
Durch die entsprechenden Mahnungen und Sinnsprüche an den Wänden des Delphischen Tempels während der (künstlich verlängerten?) Wartezeit wurden die Kunden sanft, aber bestimmt mit sich selbst konfrontiert. Der Kunde saß in der großen »Wartehalle«. Überdachte seine Situation. Erwog vielleicht schon Szenarien, die auf mögliche Prophezeiungen folgen könnten. Hoffte und harrte oder bangte. Jedenfalls formte er schon erste Antworten auf sein Problem (genau: Zukünfte!). Trug