Crash-Kommunikation. Peter Brandl
Buch zum Komplexitätsmanagement verfasst hat, schlägt in dieselbe Kerbe: »Kontrollverlust und damit Stress entsteht nicht nur, wenn einem die Dinge ›aus der Hand‹ gleiten. Bereits Ungewissheit und mangelnde Vorhersagbarkeit genügen, um das besagte Gleichgewicht zu verletzen.«3
Ursachen von Stress
Stress am Arbeitsplatz entsteht also auch,
– wenn Menschen nicht wissen, wie es weitergeht,
– wenn Menschen nicht einschätzen können, was um sie herum vor sich geht,
– wenn der eigene Selbstwert durch die Entwicklung bedroht ist (beispielsweise durch Konflikte mit Vorgesetzten, Kollegen oder Mitarbeitern),
– wenn Menschen das Gefühl haben, dass sie eine Situation nicht mehr beherrschen können.
Stressauslösende Situationen in Unternehmen
Damit sind wir schon ziemlich nah an typischen Unternehmenssituationen und ihren Folgen für die Mitarbeiter. Unternehmen strukturieren um; dadurch verändern sich Aufgabenbereiche, aber auch Teams. Eine Fusion mit einem Mitbewerber steht an, und keiner kann abschätzen, wie sich das auf den eigenen Arbeitsplatz auswirkt. Sinkende Absatzzahlen verschärfen den Konkurrenzkampf, intern wie extern. Oft ist es schlicht die zunehmende Komplexität von Aufgaben in einer globalisierten Hightechwirtschaft, die das Gefühl von Ohnmacht und Überforderung und damit Stress auslöst. Macht man sich diese Prozesse bewusst, so lassen sich Handlungsweisen in Unternehmen mit stammhirngesteuerten Reflexen erklären.
Abhauen als Reaktion auf Stress
Da ist zum Beispiel der Geschäftsführer eines mittelständischen Maschinenbauers, der tief in der Krise steckt. Die Umsätze brechen ein, die Billigkonkurrenz aus Fernost macht schwer zu schaffen, zu allem Überfluss hat ein Großkunde den Vertrag gekündigt – eine Insolvenz scheint nicht mehr ausgeschlossen. Man sollte meinen, dass der Geschäftsführer in dieser heiklen Situation mit Volldampf an der Sanierung seines Unternehmens arbeitet. Doch stattdessen lässt er sich für ein zeitraubendes Ehrenamt gewinnen und ist kaum noch vor Ort. Er stürzt sich mit Feuereifer auf repräsentative Aufgaben und mischt aktiv in der Pressearbeit des Vereins mit – von der Bildauswahl bis zur peinlich genauen Korrektur der Satzfehler im neuesten Flyer (!) ist er sich für keine Aufgabe zu schade. Abhauen – eine klassische Fluchtreaktion, erwartungsgemäß mit wenig Erfolg. Das Unternehmen muss Insolvenz anmelden und wird von einem Wettbewerber übernommen.
Totstellen als Reaktion auf Stress
Oder nehmen Sie zahlreiche Traditionsunternehmen, die irgendwann den Zug der Zeit verpassen und sehenden Auges in den Untergang steuern. So konzentrierte Märklin sich unverdrossen weiter auf Modelleisenbahnen, als längst Playstations und Computer in die Kinderzimmer Einzug gehalten hatten und sich fast nur noch ältere Herren für die kleinen Eisenbahnen interessierten. Das Unternehmen musste Insolvenz anmelden. Auch Uhrenhersteller Junghans schaffte die Wende nicht, obwohl die Firma durch Billigkonkurrenz mehr und mehr unter Druck geriet. »Zu spät stellte die Firma von Massenware auf hochwertige Uhren um«, urteilte die Frankfurter Rundschau. Im Januar 2009 wurde das Unternehmen an einen Investor verkauft.4 Nicht eine unvorhersehbare Krise machte den Traditionsmarken den Garaus, sondern ein schleichender Prozess, vor dem die Inhaber offensichtlich die Augen verschlossen. In beiden Unternehmen wird der Vertrieb von Jahr zu Jahr sinkende Absatzzahlen gemeldet haben. In beiden Unternehmen wird die Buchhaltung schrumpfende Gewinne und irgendwann steigende Verluste verzeichnet haben. Offenbar übte sich das Management in Vogel-Strauß-Politik. Man könnte auch sagen: Totstellen – wenn ich mich nicht rühre …
Angreifen als Reaktion auf Stress
Und auch reflexhaftes Angreifen ist Managern nicht fremd. Ein Beispiel: Ein mittelständisches Medienunternehmen geht an die Börse. Der Börsengang spült zwar das erwartete Kapital in die Kasse, doch die kühn gestarteten Projekte – darunter der Einstieg ins Film- und ins Beratungsgeschäft – verschlingen Unsummen und bescheren nur magere Umsätze. Während der Aktienkurs immer weiter in den Keller geht, zettelt der zunehmend unter Druck geratene Vorstand und Mitgründer des Unternehmens zu allem Überfluss noch einen Prozess mit einem Hauptaktionär an. Aus seiner Sicht regiert ihm der zu viel ins Geschäft hinein und maßt sich damit Eingriffe an, die ihm nicht zustehen. In der Presse wird daraufhin mehr über die neuesten Entwicklungen in dieser juristischen Auseinandersetzung berichtet als über die Produkte des Unternehmens. Die Folge: Negativschlagzeilen ohne Ende, sinkende Umsätze, die Aktie stürzt weiter ab. Der Prozess, in dem es unter anderem um den Ausschluss einer Investorengemeinschaft um den Hauptaktionär von den Hauptversammlungen des Unternehmens geht, wird verloren. Am Ende wird der Vorstand entlassen. Das Unternehmen überlebt vorerst, doch der neue Vorstand muss Mitarbeiter entlassen, Programme zusammenstreichen und Kosten sparen, wo es nur geht. Das nennt man dann wohl wildes Angreifen – koste es, was es wolle.
ANTI-CRASH-FORMEL
Fragen Sie sich gerade in schwierigen Situationen gelegentlich: Wer führt hier gerade Regie – Stammhirn oder Großhirn?
Die Tücken der menschlichen Wahrnehmung
Solche Beispiele machen Betrachter oft ratlos: Sehen die Akteure denn nicht, was sie anrichten? Die Umsatzzahlen liegen doch auf dem Tisch; die negativen Presseberichte kann man »eigentlich« ebenso wenig übersehen wie die Flut von Uhren der Billigkonkurrenz im Schaufenster um die Ecke oder auf Branchenmessen. Das führt uns zu einer heiklen Frage.
Wie wirklich ist die Wirklichkeit?
Die »objektive« Wahrnehmung der Welt
So lautet der provokative Titel eines Buches von Paul Watzlawick. Der bekannte Kommunikationspsychologe und Philosoph war radikaler »Konstruktivist«. Watzlawicks Antwort auf die Titelfrage lautet schlicht: Die Welt ist nicht, wie sie ist – sie ist das, was wir aus ihr machen. Jeder von uns »konstruiert« sich seine eigene Wirklichkeit. Wir leben in dem sicheren Glauben, die Welt »objektiv« wahrzunehmen. Doch diese lieb gewonnene Wahrheit stellen schon lange nicht mehr nur Kognitionspsychologen infrage, denn menschliche Wahrnehmung ist hochgradig selektiv und subjektiv. Ein ebenso simples wie augenfälliges Beispiel: Sie haben sich gestern Abend entschieden, ein neues Auto der Marke XY zu kaufen – Sie denken nur noch über die Farbe nach. Heute Morgen auf dem Weg ins Büro sehen Sie auf dem Arbeitsweg überall Wagen der Marke XY und vergleichen im Geiste die Farben. Hat sich die Zahl der Autos dieser Marke über Nacht explosionsartig vermehrt? Sicher nicht. Gestern haben Sie sie nur nicht gesehen.
Die Tücken der Wahrnehmung
Ein anderes Beispiel für die Unzuverlässigkeit unserer vermeintlich »objektiven« Wahrnehmung liefert ein Film, der gerne in Vorträgen gezeigt wird: Zwei Teams mit je fünf Personen werfen sich Bälle zu. Ein Team trägt schwarze, das andere weiße T-Shirts. Das Publikum wird gebeten, bei der kurzen Filmsequenz mitzuzählen, wie häufig das weiße Team Ballkontakt hat. Die meisten Anwesenden schauen daraufhin hochkonzentriert zu. Doch nachdem die Ergebnisse der Zählung im Plenum verglichen worden sind, überrascht der Vortragende mit der Frage: »Wer von Ihnen hat den Gorilla gesehen?« Wer den Film noch nicht kennt, reagiert in der Regel ungläubig. Und doch stimmt es: Mitten in der Filmsequenz läuft ein Mann in einem Gorillakostüm durch das Bild, er blickt sogar direkt in die Kamera. Kaum einer der Zuschauer sieht ihn.5 Wie kommt das?
WAHRNEHMUNGSFILTER
Filterfunktion im Gehirn
Bei der Fülle von Informationen, die ständig auf uns einströmen, kann unser Gehirn gar nicht anders, als radikal auszuwählen. Jeder Bewohner einer Industrienation wird