Vertrieb geht heute anders. Andreas Buhr
– danach richteten, wann der Verkäufer für sie Zeit hatte. Der Kunde als König? Naja, regiert haben lange eher Produktentwicklung und Vertrieb. Doch abseits jeder klassischen Zielgruppendefinition, die sich in Grenzen von Alter, Einkommen oder Bildungsniveau bewegt, hat sich ein neuer Kundentyp entwickelt, selbstbewusst und präsent: Der digitale Kunde geduldet sich nicht. Er fordert. Er reagiert nicht. Er agiert. Der Kunde wird selbst zum Experten. Und wenn der Vertrieb nicht aufpasst, hechelt er dem Kunden in naher Zukunft hinterher. Der Kunde wird nicht auf ihn, wird nicht auf uns warten.
Hintergrund
Social Economy: Oft wird damit der Dritte Sektor bzw. Non-Profit-Sektor bezeichnet. Im Kontext dieses Buches ist damit aber gemeint, dass sich alle Wirtschaftsteilnehmer über die digitalen Plattformen und Kanäle gesellschaftlich austauschen, dass diese Art der sozialen Interaktion und Kommunikation prägend für die Fortentwicklung des wirtschaftlichen Geschehens ist.
Sharing Economy: Der Begriff Sharing Economy, seltener auch Share Economy oder Shareconomy, ist ein Sammelbegriff für Firmen, Geschäftsmodelle, Plattformen, Online- und Offline-Communitys und Praktiken, die eine geteilte Nutzung von ganz oder teilweise ungenutzten Ressourcen ermöglichen, z. B. Autos / Autonutzungen, Nutzungen von Flugzeugkapazitäten in der privaten Luftfahrt, Maschinen, Werkzeuge, Spielzeug, Wohnungen etc.
Platform Economy: Aus dem Englischen übersetzt: Die Plattform-Ökonomie oder Plattformwirtschaft bezeichnet die Summe wirtschaftlichen und sozialen Handelns, das durch (Internet-)Plattformen ermöglicht wird. Typischerweise bringen diese Plattformen Nachfrage und Angebote aller Art (Käufe, Verkäufe, Menschen etc.) zusammen (Stichwort: Online-Matchmaker) oder sie bilden Technologie-Frameworks. Bei Weitem die gebräuchlichste Art sind »Transaktionsplattformen«, »digital Matchmakers« (basierend auf: Wikipedia [Englisch])
Mehr als nur neue Vertriebswege
Daher ist die Verunsicherung in vielen Firmen so groß wie zuletzt während der Großen Depression, resümiert der Economic Policy Uncertainty Index. Kaum jemand in den Unternehmen weiß ob der Entwicklungen auf den Märkten und entlang der soziopolitischen Verwerfungen so recht, wo die Reise hingeht. Und das wirkt sich direkt auf den Vertrieb aus.
Denn hinzu kommen die Herausforderungen der neuen Arbeitswelt, der Digitalisierung und Automatisierung der internen Fertigungs-, Abwicklungs- und externen Kommunikationsprozesse, der Künstlichen Intelligenz (KI). Der veränderten Ansprüche der neuen Generationen von Mitarbeitern – der Generationen Y und Z –, die die Unternehmen als Mitarbeiter, als die neuen Führungskräfte und als Kunden bestimmen. Der globalen Trends, wie Virtualisierung, Disruption, Flexibilisierung und Automatisierung. Das ist alles nicht neu. Was neu ist, ist die Geschwindigkeit, mit der diese Trends das Marktumfeld der Unternehmen und die Unternehmen selbst aufmischen.
Acht Prognosen für 2030
Acht Voraussagen für das Jahr 2030 hat das renommierte World Economic Forum (WEF) getroffen, die unsere Volkswirtschaften, also auch dich als Mensch, Unternehmer, Vertriebsleiter, radikal betreffen werden. Hier eine kurze Zusammenfassung der globalen Vorschau des WEF, quasi auf Punktformel gebracht:
•Es gibt keine Produkte mehr, nur noch Dienstleistungen (Services).
•Der Ausstoß von Kohlendioxid kostet weltweit einen (hohen) Preis.
•Es gibt eine Handvoll an Weltmächten – die bisherige Dominanz der USA wird Geschichte sein.
•Medizinische Versorgung verlagert sich vom allgemeinen Gesundheitswesen auf das private Umfeld.
•Fleisch zu essen und die Fleisch-Industrie sind out.
•Die heutigen Flüchtlinge sind die CEOs von morgen.
•Die vielzitierten westlichen Werte werden bis zu den Grenzen ihrer Belastbarkeit ausgetestet.
•Die Menschheit sucht neue Entwicklungsmöglichkeiten außerhalb ihres geliebten, aber unverantwortlich ausgebeuteten Planeten – geht es in Richtung Weltraum?
Aber noch sind die Besiedlung ferner Planeten und der Weltraumhandel wahrlich nicht unser drängendstes Problem. Angesichts neuen Protektionismus und Nationalismus, Mauern und Zollstreit, Brexit und Rohstoff-Ausverkauf, angesichts globaler Verwerfungen, die die Märkte und Volkswirtschaften auch gegenwärtig schon weltweit spüren, greifen in vielen Firmen, kleinen wie großen, Gefühle der Unberechenbarkeit und der Ohnmacht um sich. Wenig bis nichts scheint noch kalkulierbar; mit letzter Sicherheit lässt sich nur sagen, dass die digitale Transformation uns alle in den Unternehmen massiv betrifft – auch den Vertrieb. Nur darf diese »Sicherheit der ständigen Unsicherheit« eines nicht: Zögerlichkeit bei euch auslösen. Denn Zögern ist in den heutigen Märkten gleichbedeutend mit Rückschritt. Das ist ein Tod auf Raten.
Digitale Transformation nach außen und innen
Für viele Unternehmen kommt das Aus zurzeit noch schneller, als sie »Agilität« sagen können, nämlich für diejenigen, die die digitale Transformation zu lange verschlafen haben und sich an modifizierte Technologien und Geschäftsmodelle auf ihren Märkten nicht anpassen konnten. Die neue disruptive Businessmodelle in ihrer Branche entweder ignorieren oder zu spät wahrnehmen und denken, die digitale Transformation beträfe in ihrem Unternehmen nur den Bereich Forschung und Entwicklung und nicht etwa auch Marketing und Vertrieb. Dabei liegt gerade an der Schnittstelle zum Kunden, also in der »digitalen Transformation nach außen«, das größte und wichtigste Anwendungsfeld der Digitalisierung, wie die Abbildungen auf der folgenden Seite zusammenfassen.
Wenn du also wissen willst, wie »Vertrieb heute anders geht«, kommst du nicht umhin, dich mit der Bedeutung der Digitalisierung für deine Branche, deinen Vertrieb und für deine Führungsrolle auseinanderzusetzen.
Die Schnellen fressen die Langsamen und jetzt sogar die Großen
Interessanterweise hinken der aktuellen digitalen Entwicklung derzeit Branchen hinterher, von denen wir es nicht erwartet hätten, wie etwa Beratung und Dienstleistung – speziell die Finanzdienstleistungen. Gerade hier tobt jedoch der Kampf der Etablierten gegen die schnellen und aggressiven Fintechs und Securetechs erbittert. Eine Flut an digitalen Finanz- und Versicherungsplattformen und Apps schwappt über die bisherigen marktbeherrschenden Player hinweg, die sich bemühen, mit Ausgründungen und Zukäufen den Anschluss zu schaffen und mit ihrem Geld neue Ideen zu übernehmen und größer in den Markt zu bringen. Dabei geht es ihren Geschäftsmodellen zum Teil massiv an den Kragen – schauen wir uns den Markt zum aktuellen Stand 2018 / 2019 mal überschlägig an (wenn du dieses Buch zwei oder drei Jahre nach Erscheinen liest, wird das natürlich schon wieder nostalgischen Charakter haben): Digital Services, wie moneymeets beispielsweise, verzeichnen Riesenzuläufe an Neukunden, da sie die Provisions- und Kickback-Modelle der Finanzdienstleister offenlegen und ihre Kunden an diesen beteiligen. Dadurch können sie konkurrenzlos günstig sein. Die 2011 bzw. 2013 gegründeten Einlagenvermittler Deposit Solutions und Raisin haben bereits im vierten Quartal 2018 Einlagen im unteren zweistelligen Milliardenbereich vermittelt. In allen (klassischen Finanzdienstleister-)Bereichen, in denen es etwas zu vermakeln gibt, sind mittlerweile digitale Start-ups am Drücker, auch beim Investment in Immobilienprojekte sowie bei der Anlageberatung: Allein 23 deutsche »Robo Advisor« listet Anfang 2019 die Website robo-advisor.de auf – und ihrem Ansatz ist inhärent, dass Kunden ihre Vermögens- und Anlageverwaltung direkt und selbst online tätigen.
Abbildung 1: Die aktuelle Bedeutung der Digitalisierung in den Unternehmensbereichen
(Van Dick et al. 2016,