Epistolare Narrationen. Margot Neger

Epistolare Narrationen - Margot Neger


Скачать книгу
der Selbstdarstellung des Plinius anhand einer Analyse der sogenannten „Paradebriefe“ 1,1‒1,8 aufarbeitete. Die hier angestellte Beobachtung, dass sich Plinius bei der Komposition seiner Briefbücher stark an der Praxis von Dichtern (man vergleiche etwa Horazens „Paradeoden“) orientierte, löste einen richtigen „Boom“ in der literaturwissenschaftlichen Erforschung der Pliniusbriefe aus, und man hat sich in diesem Rahmen verstärkt bemüht, Aspekte wie Buchkomposition, Intertextualität, self-fashioning und Kommunikationspragmatik zu beleuchten. Zu den wichtigsten seither publizierten Monographien und Sammelbänden gehören in chronologischer Reihenfolge etwa Hoffer (1999), Beutel (2000), Henderson (2002a), Castagna/Lefèvre (2003), Gibson/Morello (2003), Wolff (2003), Pausch (2004), 51‒146, Méthy (2007), Marchesi (2008), Lefèvre (2009), Gibson/Morello (2012), Winsbury (2014), Devillers (2015), Marchesi (2015), Schwerdtner (2015), Gibson/Whitton (2016), mehrere der bei König/Whitton (2018) versammelten Beiträge, ein längerer Abschnitt bei Keeline (2018: 277‒335), Whitton (2019) sowie Gibson (2020). Auch die Gender-Studies haben Plinius mittlerweile für sich entdeckt, wie die Monographien Carlons (2009) und Sheltons (2013) zur Darstellung der Frauen in den Briefen beweisen; dem Sozialprofil des Plinius als Senator und Aristokrat ist die althistorische Studie Pages (2015) gewidmet, während Germerodt (2015) das Konzept der amicitia in den Briefen untersucht. Literarische und sozialhistorische Ansätze kombiniert Häger (2019) in seiner Analyse des von Plinius entworfenen Bildes vom idealen Ehemann. Angesichts der in den vergangenen beiden Dekaden stetig anwachsenden Bibliographie ist es erstaunlich, dass die philologische Kommentierung der Briefbücher erst vor relativ kurzer Zeit begonnen hat – so wurde bislang nur der Kommentar Whittons (2013a) zu Buch 2 publiziert.14

      Ein Blick auf die jüngeren Publikationen zu Plinius zeigt, dass insbesondere die Themen Selbstdarstellung, Buchkomposition, Intertextualität und Kommunikationspragmatik das Interesse der Forscher auf sich gezogen haben.15 Die vorliegende Studie möchte nun einen Aspekt untersuchen, der bislang zwar in Ansätzen, jedoch noch nicht systematisch erforscht worden ist: Pliniusʼ Rolle als Erzähler und seine narrativen Strategien im Briefkorpus. Die Analyse richtet sich hierbei einerseits auf einzelne Briefe, in denen entweder von Handlungen und Ereignissen erzählt, Personen charakterisiert oder Objekte bzw. Orte beschrieben werden, wobei sich der Leser hier mit einer breiten Palette narrativer Techniken konfrontiert sieht: Anleihen an Historiographie, Biographie, Redekunst, Epos, Drama, Exempla-Literatur, Paradoxographie und anderen Gattungen gehören zum literarischen Repertoire des Plinius, der unterschiedliche Formen von Narrationen in einen epistolaren Rahmen einbettet und uns mal als distanzierter Erzähler, dann wieder als stärker involvierte Sprech-Instanz oder als handelnde Figur begegnet. Der Brief scheint für Plinius eine Art „Super-Genos“ zu sein, das mit den Konventionen anderer Gattungen – neben erzählenden Genres sei etwa auch die Lyrik und Epigrammatik genannt – spielt und experimentiert, wie in den späteren Kapiteln noch deutlicher herausgearbeitet wird.16 Abgesehen von der Erzähltechnik in einzelnen Briefen sollen auch Briefzyklen in den Blick genommen werden, deren Einzelteile eine narrative Linie bilden, sowie schließlich das gesamte Briefkorpus, das sich als eine epistolare Autobiographie lesen lässt17 und in dieser Form wohl als Gegenentwurf bzw. Komplementär-Projekt zu zeitgenössischen narrativen Texten wie Tacitusʼ Geschichtswerken oder Plutarchs und Suetons Biographien verstanden werden kann. Es soll also mit anderen Worten der Versuch unternommen werden, das Briefkorpus der Bücher 1‒9 als narrativen Makrotext zu lesen, der freilich nach ganz anderen Prinzipien strukturiert ist, als die Werke der genannten Zeitgenossen, und nicht streng chronologisch erfolgt – davon grenzt sich Plinius ja auch in Epist. 1,1Plinius der JüngereEpist. 1.1 programmatisch ab.18

      Dass Plinius seine Briefbücher sorgfältig komponiert hat und sich dabei literarischer Strategien bediente, die sich auch bei den Autoren poetischer libelli beobachten lassen, darf in der modernen Forschung mittlerweile als communis opinio gelten.19 Mit mehr Schwierigkeiten ist die Frage nach dem genauen Publikationsdatum der uns überlieferten Briefbücher verbunden: Während Mommsen von einer sukzessiven Publikation der Bücher 1‒9 in der Zeit von 96/97 n. Chr. bis 109 n. Chr. ausging und annahm, dass Plinius jedes Buch kurz nach dem spätesten darin enthaltenen Brief veröffentlichte,20 setzen andere Gelehrte die Veröffentlichung v.a. der frühen Bücher etwas später an, wobei Murgia (1985: 201) sogar davon ausgeht, dass die Bücher 1‒4 erst nach 106 n. Chr. publiziert wurden und das uns vorliegende Briefkorpus der Bücher 1‒9 eine literarische Einheit bildet:21

      „In fact the evidence indicates that Books 1‒9 are meant to be considered as a unit…For Pliny, we possess nine books of private letters with a single dedicatory epistle. And each book is dependent on others for full understanding…But for the dates of original publication, and for the original form and content of the books, we can have no secure evidence.”

      Vom Datum der Publikation einzelner Bücher bzw. des Gesamtkorpus zu unterscheiden ist der fortschreitende chronologische Rahmen, den die Bücher durch die dramatischen Daten ihre Briefe suggerieren. Murgia stellt hier die Überlegung an, dass dieser chronologische Rahmen nicht unbedingt aus der Praxis des Plinius resultieren muss, jedes Buch kurz nach dem spätesten darin enthaltenen Brief zu publizieren, sondern vom Epistolographen aus literarischen Gründen bewusst gewählt worden sein könnte.22

      Das narrative Potenzial der Briefsammlung und die Erzählstrategien des Plinius wurde bislang nur in Ansätzen untersucht:23 Eine narratologische Analyse einzelner Briefe findet sich etwa in dem oben schon erwähnten Aufsatz Traubs (1955), der das Verhältnis des Plinius zur Historiographie und insbesondere seine Erzähltechnik in den Briefen 3,16, 4,11, 6,16 und 7,33 untersucht. Moderne Erzähltheorien zieht Eco (1990) im Rahmen seiner Interpretation des Vesuv-Briefs 6,16 heran, wo er den discourse bzw. plot und die fabula einander gegenüberstellt.24 Kroon (2002) wiederum diskutiert narrative Modi (diegetisch vs. mimetisch) am Beispiel des „Gespenster-Briefs“ 7,27. Den narrativen Strategien der Selbstdarstellung widmet Illias-Zarifopol (1994) eine Monographie, in der zwischen „historical narratives“ und „personal narratives“ geschieden wird, wobei der ersten Kategorie die Episteln 4,11, 3,16 und 7,19 und der zweiten 1,5, 3,1, 7,33 und 9,13 zugeordnet sind. Illias-Zarifopol bietet sehr lesenswerte Interpretationen der einzelnen Briefe, berücksichtigt aber kaum den Gesamtkontext des Briefkorpus und die Frage, inwieweit die einzelnen Briefe als Segmente einer größeren Narration gelesen werden können. Zuletzt haben Gibson/Morello (2012) wichtige Beobachtungen zur Organisation der Briefsammlung angestellt, deren autobiographisches Potenzial sie hervorheben:25 Zwar sind die Briefe in den einzelnen Büchern nicht chronologisch angeordnet, doch das Briefkorpus insgesamt vermittelt den Eindruck einer zeitlichen Progression von der Phase nach Domitians Tod (97/98 n. Chr.) über Pliniusʼ Konsulat (100 n. Chr.) und Augurat (103 n. Chr.) bis hin zur Statthalterschaft in Bithynia-Pontus (ca. 109/10 n. Chr.). Somit lassen sich in den einzelnen Büchern „Zeitpools“ erkennen, die der Leser sozusagen als die jeweilige Gegenwart des Schreibens wahrnimmt; diesen „Pools“ können wiederum Briefe mit einem entsprechenden dramatischen Datum zugeordnet werden, die allerdings (gleichsam als narrative Analepsen) in ein späteres Buch integriert sind.26 Ein Beispiel ist etwa die um 107/8 n. Chr. verfasste Epistel 9,13Plinius der JüngereEpist. 9.13, die von den Hintergründen zur Rede De Helvidi ultione berichtet und damit ein Ereignis der Zeit um 97/98 n. Chr. thematisiert,27 d.h. inhaltlich eigentlich in den „Zeitpool“ des ersten Buches passt. Der Rezipient kann also nach der Lektüre mehrerer Briefbücher narrative Lücken füllen, wobei Plinius diesen rezeptionsästhetischen Prozess der Rekonstruktion seiner Autobiographie durch den Leser teilweise bewusst zu steuern scheint. Eines der Ziele der vorliegenden Arbeit ist es, diese Strategien der Leserlenkung näher zu beleuchten. Dass die Analyse einer Briefsammlung unter narratologischen Gesichtspunkten fruchtbringend ist, zeigt eine Studie Hanaghans (2019) zum spätantiken Epistolographen Sidonius Apollinaris, der in der praefatio zu seinen Briefbüchern Plinius explizit als sein Vorbild erwähnt (Epist. 1,1,1Sidonius ApollinarisEpist. 1.1.1) und auch sonst häufig auf die Briefe seines Vorgängers anspielt.28 Hanaghan untersucht etwa, wie Sidonius seine persona als Briefschreiber entwirft, die Zeit in den Briefen konstruiert, die in der Sammlung auftretenden Figuren charakterisiert und in diesem Zusammenhang auch ihre Stimmen bzw. Dialoge kontrolliert sowie schließlich das Gesamtkorpus arrangiert. In der vorliegenden, von Hanaghans Monographie unabhängig enstandenen Arbeit werden ähnliche Aspekte beleuchtet.

      Im


Скачать книгу