Die Geschichte Hessens. Hans Sarkowicz
Parktundra ähnlich der heutigen sibirischen Taiga. Die großen Eiszeitdickhäuter Mammut und Wollnashorn sterben aus, sicher nicht ganz ohne Zutun des Menschen, und Rentierherden, Wildpferdgruppen, aber auch Waldtiere wie Ur und Rothirsch sind die Bewohner dieser Landschaft. Der Mensch reagiert auf diese Umstellung mit Veränderungen von Verhaltensweisen und Techniken, […] Zugeschnittene und genähte Kleidung, Werkzeugkonstruktionen aus verschiedenen und aufeinander abgestimmten Materialien, verschiedene Wege der Nahrungskonservierung und Vorratshaltung, verschiedenartig perfektionierte Jagdmethoden und Wege des Fischfanges sind Teil der erworbenen Praktiken, deren Kenntnisse jetzt dem Menschen zur notwendigen Flexibilität verhalfen.« 2
Neolithische Revolution – Der Mensch wird sesshaft
Zu Beginn der Jungsteinzeit, dem Neolithikum, kam es zu tiefgreifenden Veränderungen, die der Historiker Rolf Gensen als »den wohl bedeutendsten Fortschritt der Menschheitsgeschichte – vergleichbar allenfalls mit der Industrialisierung Mitteleuropas«3 bezeichnet. Aus Jägern und Sammlern wurden Ackerbauern und Viehzüchter. Was diese Entwicklung in Hessen vor 7000 Jahren auslöste (und damit wesentlich später als im Vorderen Orient), bleibt weitgehend Spekulationen überlassen. Die neue Kultur der Sesshaften scheint sich aber nicht langsam entwickelt zu haben, sie trat bereits in voller Blüte hervor. Das deutet darauf hin, dass sie sich nicht vor Ort ausgebildet hatte, sondern durch einen Transfer nach Hessen gelangte. Zu den Neuerungen gehörten neben dorfartigen Siedlungen mit großen Häusern der Getreideanbau, die Viehzucht und die Herstellung gebrannter Gefäße. Den Hund hatte es schon länger als Haustier gegeben, jetzt kamen Schafe, Ziegen, Rinder und Schweine hinzu, die wohl aus dem Vorderen Orient mitgebracht wurden. Einkreuzungen mit einheimischen Wildrindern und Wildschweinen waren aber keine Seltenheit. Nach dem bandartigen Muster auf ihrem Geschirr werden die ersten Bauern in Hessen »Bandkeramiker« genannt.
Ihre bevorzugten Siedlungsgebiete waren die fruchtbaren Ebenen, auf denen sich Emmer, Einkorn und Gerste anbauen ließen, Futterpflanzen für die Nutztiere wuchsen und Nüsse oder Früchte gesammelt werden konnten. Zum Süßen verwendeten die Bandkeramiker wohl schon Honig. Auch das Salz und Wildkräuter zum Würzen waren ihnen vertraut. So nutzten sie zum Beispiel den Vogelknöterich wie wir heute den Pfeffer.
Da Düngung noch unbekannt war, verließen die Familien- oder Stammesgruppen wohl nach einiger Zeit ihre Plätze, um eventuell nach Jahren wiederzukommen. Das Leben muss in dieser Zeit extrem beschwerlich gewesen sein. Die Kindersterblichkeit war hoch, und so betrug die durchschnittliche Lebenserwartung nur 25 Jahre. Erwachsene konnten allerdings auch 40 Jahre oder mehr werden, wenn sie nicht vorher eine der zahlreichen Krankheiten, gegen die man nur selten Mittel kannte, hinweggerafft hatte. Denn die Ernährung war trotz Fleisch, Getreideprodukten und Früchten sehr einseitig. Aus Knochenuntersuchungen wissen wir, dass es einen deutlich erkennbaren Vitaminmangel gab, aus dem typische Krankheiten resultierten.
Bei der Kleidung waren die Bandkeramiker nicht nur auf Leder und Felle angewiesen. Wie Jens Lüning in dem Katalog zu der Ausstellung Die Bandkeramiker auf dem Hessentag 2004 in Heppenheim berichtet, besaßen die frühen Bauern »zwei neue Materialien, die Leinenfasern (Flachs) und Wolle. Lein wurde in vielen Siedlungen angebaut, und auf einem verbrannten Lehmstück aus Nordhessen sind Abdrücke eines leinwandbindigen Gewebes aus Lein festgestellt worden. Ob die bandkeramischen Schafe schon genügend Wolle in ihrem Haarkleid hatten, ist umstritten, doch auch Haare lassen sich gut verspinnen, und Unterwolle besaßen die Tiere in jedem Fall. Funde von Spinnwirteln zeigen, dass Flachs und Wolle versponnen werden konnten, und Webgewichte, dass daraus auf einem Gewichtswebstuhl Gewebe hergestellt wurden«4.
Das tägliche Leben der frühen Bauern dürfte in jeder Hinsicht beschwerlich gewesen sein. Und es kam noch etwas Weiteres hinzu. In den Gräbern häufen sich Waffen und Werkzeuge zur Herstellung von Waffen als Beigaben. Das deutet darauf hin, dass sich die kleinen Gemeinschaften gegen äußere Feinde verteidigen mussten. Denn im Gegensatz zu den Jägern und Sammlern, die ein Nomadendasein mit leichtem Gepäck führten, hatten die Bauern und Viehzüchter wertvollen Besitz, den sie verteidigen mussten. Vielleicht haben sich deshalb die auf die Bandkeramiker folgende Menschen der Rössener Kultur und noch stärker danach der Michelsberger Kultur Wohnplätze gesucht, die sich leichter verteidigen ließen. Erstmals wurden neben Flussauen auch hessische Höhen besiedelt. Die Häuser der Rössener Kultur waren teilweise bis zu 85 Meter lang und bis zu sieben Meter breit. Die Bauern der Michelsberger Kultur, die durch sogenannte Tulpenbecher charakterisiert wird, begannen damit, gewaltige Erdwerke zu errichten, über deren Funktion noch heftig spekuliert wird. Die Vermutungen reichen von befestigen Dörfern bis zu Kultplätzen. Markante Beispiele fanden sich vor allem im nördlichen Hessen. Dort wurde die Michelsberger Kultur vor etwa 4500 Jahren von der Wartberg-Gruppe abgelöst, die nach einem Fundort bei Kirchberg in Nordhessen benannt ist.
Steinkammergrab von Züschen mit »Seelenloch«
Die Menschen dieser Periode errichteten große Steinkammergräber, die über viele Jahre als Beerdigungsort dienten. Der Verstorbene wurde durch ein »Seelenloch« in die steinerne Grabkiste bugsiert. Die bekannteste Anlage dieser Art ist die Steinkiste von Züschen-Lohne, die in der Länge 20 Meter misst und in der Breite 3,5 Meter. Sie ist mit Zeichnungen geschmückt, die Rinder im Joch darstellen sollen und damit wieder auf die bäuerliche Herkunft der Künstler verweisen. Möglicherweise in einem direkten Zusammenhang mit diesen Steinkammern stehen die großen Menhire (»Hinkelsteine«), die bis in die Bronzezeit hinein an verschiedenen Orten in Hessen aufgerichtet wurden und Höhen von über fünf Metern erreichen konnten. Ihre Funktion ist bis heute ungeklärt. In früheren Zeiten lieferten die mysteriösen Steine reichlich Material für sagenhafte Erzählungen, die sich oft um Riesen rankten. Denn, so glaubte man, normale Menschen hätten die Quarzit- oder Sandsteinbrocken nie so aufstellen können. Ganz so ungewöhnlich war die Leistung allerdings nicht, wenn man bedenkt, dass zur selben Zeit die Pyramiden von Gizeh entstanden und sich in Mesopotamien schon lange eine faszinierende Schriftkultur entwickelt hatte.
Einen markanten technologischen Fortschritt brachte die Erkenntnis, dass sich aus den bereits bekannten Kupfer und Zinn im Verhältnis 9:1 Bronze herstellen ließ. Zinn wurde in Hessen allerdings nicht abgebaut.
»Das bedeutet, dass auch Hessen in das interregionale Netz einer metallenen Rohstoffversorgung einbezogen war. Dies förderte eine überregionale Kommunikation und technologische Innovation und wirkte sich letztlich in den Bereichen Wirtschaft und Gesellschaft sowie Ideologie aus. Nicht nur deshalb gilt die Bronzezeit als Zeit des Handels, des kunstvollen ›Berufs‹-Handwerkers, des prachtvoll gerüsteten Kriegers und prächtig geschmückter Frauen. Ohne dass wir wissen, welcher materielle oder ideelle Gegenwert für die Rohstoffe Kupfer, Zinn, Blei, Bernstein usw. ›gezahlt‹ wurde, ist davon auszugehen, dass die wirtschaftliche Grundlage der Bronzezeit Hessens traditionell Ackerbau und Viehzucht blieben. Die bronzezeitliche Gesellschaft wird durch eine zunehmend wirtschaftliche Arbeitsteilung und gesellschaftliche Schichtung gekennzeichnet. Eine graduell absetzbare Oberschicht, besonders gekennzeichnet durch die Betonung militärischer Aspekte – gerne als ›Adelskrieger‹ bezeichnet –, ist besonders in der Jung- und Spätbronzezeit fassbar, in einer Zeit, in der auch größere und kleinere befestigte Dauersiedlungen mit vielfältigen wirtschaftlichen Funktionen angelegt wurden.« 5
Grob unterscheidet man für die Bronzezeit die ältere Adlerbergkultur mit Flachgräbern und Hockerbestattungen, die mittlere Hügelgräberkultur und die jüngere Urnenfelderkultur. Wie schon der Name nahelegt, zeichnet sich die Adlerbergkultur in der mittleren Bronzezeit durch große Grabhügel aus, die in ganz Hessen verbreitet waren und sich als markante Geländemerkmale teilweise bis heute erhalten haben. In einzelnen Hügeln haben Archäologen bis zu 24 Gräber nachgewiesen. Eine völlig neue