Die Geschichte Hessens. Hans Sarkowicz
eigenen Besitzes, bis das kraftlose Alter sie zu solch hartem Kriegertum untauglich macht.«9
Zumindest im letzten Punkt hatte Tacitus, der Germanien nicht aus eigener Anschauung kannte, Unrecht. Wir wissen zwar nur wenig über die sozialen und gesellschaftlichen Verhältnisse der Chatten, aber immerhin so viel: »Der überwiegende Teil der Chatten lebte in Weilern und Gehöften«, wie etwa die großflächigen Ausgrabungen bei Geismar in der Nähe von Fritzlar zeigten. Aber »regelrechte Dörfer mit mehreren hundert Einwohnern gehörten zu den Ausnahmen«10. Große Stadtanlagen wie noch bei den Kelten waren ihnen allerdings unbekannt.
Die Chatten hatte Tacitus nicht nur deshalb so genau beschrieben, weil er sie als positives Beispiel herausstellen wollte, er sah in ihnen auch ernsthafte Gegner der römischen Militärmacht. Mit der Eroberung Galliens durch Caesar im Jahr 51 v. Chr. wurde der Rhein die nordöstliche Grenze des römischen Reichs. Der Einfall von Germanenstämmen in das römische Gallien im Jahr 16 v. Chr. veranlasste Kaiser Augustus, gegen die rechtsrheinischen Germanen vorzugehen. Er ließ mehrere große Militärbasen am Rhein errichten, darunter auch Mogontiacum (Mainz). Von dort überschritt 9 v. Chr. der kaiserliche Stiefsohn Drusus mit seinen Soldaten den Rhein und erreichte trotz heftiger Gegenwehr der Germanen, auch der Chatten, noch im selben Jahr die Elbe. Allerdings starb er bald an den Folgen eines Unfalls. Sein Bruder Tiberius setzte den Feldzug fort, ohne aber zu anhaltenden Erfolgen zu gelangen. Trotzdem ließ sich Tiberius in Rom als Triumphator feiern. Er glaubte, die Germanen in Verträge einbinden zu können, aber das sollte sich als folgenschwerer Irrtum erweisen. Denn 9 n. Chr. vernichtete ein germanisches Heer, dem sich auch Chatten angeschlossen hatten, die 17., 18. und 19. römische Legion unter Quintilius Varus, höchstwahrscheinlich bei Kalkriese. Damit war auch der römische Traum einer rechtsrheinischen Provinz zunächst geplatzt. In Waldgirmes, heute ein Stadtteil von Lahnau, hatten die Römer schon vor der Zeitenwende damit begonnen, mitten in germanischem Gebiet eine Stadt zu errichten, die auch zivile Verwaltungsaufgaben wahrnehmen sollte. Bei Ausgrabungen in Waldgirmes wurden in einem Brunnen Teile einer monumentalen Reiterstatue gefunden, die höchstwahrscheinlich Kaiser Augustus zeigte. »Keramikscherben, Fibeln und auch einige Gebäudegrundrisse«, so Gabriele Rasbach, »sprechen für eine Bevölkerung aus gallo-römischen und einheimischen Siedlern. Doch der Versuch, römische Strukturen einzuführen, scheiterte. Die Niederlage der römischen Truppen in der Varus-Schlacht führte in Waldgirmes offenbar zu einem ›Bildersturm‹, bei dem mindestens zwei der auf dem Forumsplatz aufgestellten Reiterstatuen zerstört wurden. Die Deponierung eines der lebensgroßen bronzenen Pferdeköpfe in einem Brunnen zusammen mit mehreren Mühlsteinen scheint hingegen kultisch motiviert«11.
Nach der Niederlage des Varus blieben einzelne rechtsrheinische Militärstützpunkte als Brückenköpfe erhalten, darunter Kastel, Friedberg und Rödgen bei Bad Nauheim. Sie waren zum Teil mit einheimischen Milizionären besetzt und bildeten ab 14 n. Chr. die Basis für die »Rache«-Feldzüge des Germanicus. Der Neffe des Tiberius, der unterdessen die Nachfolge von Kaiser Augustus angetreten hatte, soll dabei den chattischen Hauptort Mattium zerstört haben. Die Suche nach den archäologischen Überresten von Mattium ist aber bis heute erfolglos geblieben. Bereits zwei Jahre später ließ Tiberius die verlustreichen Kämpfe abbrechen. Nur kurz danach starb Gemanicus, der gleich mit drei Ehrenbögen gefeiert wurde. Einer davon wurde in (Mainz-)Kastel errichtet. Sein Fundament hat sich bis heute erhalten.
Nach mehreren Kriegen gegen die Germanen waren die Römer nur wenig weitergekommen. Zwar verfügten sie über einen respektablen Brückenkopf und damit auch über die heißen Quellen der Mattiaker, eines germanischen Stammes direkt gegenüber von Mainz, aber die Gefahr von germanischen Einfällen war nicht gebannt und eine neue rechtsrheinische Provinz schien in weite Ferne gerückt. Welche Gefahren an der Rheingrenze lauerten, mussten die Römer im Jahr 69 n. Chr. erfahren, als der niederrheinische Statthalter Vitellius gegen Kaiser Nero rebellierte. Mehrere germanische Stämme erhoben sich, darunter die Chatten, und belagerten Mainz. Zwar konnte der neue Kaiser Vespasian sein Legionslager retten, aber es wurde immer deutlicher, dass die Rheingrenze ohne starke Truppen nicht zu halten war. Um weiteren Angriffen zuvor zu kommen, entschloss sich Kaiser Domitian im Jahr 83 n. Chr. zum Angriff auf die Chatten, bei dem er die Wetterau in seinen Besitz bringen konnte.
Die Chatten waren keine bis an die Zähne bewaffneten Krieger, wie es Tacitus nahelegte, sondern eher schlecht ausgerüstete Bauern, die in offener Feldschlacht gegen die Römer keine Chance hatten. Sie versuchten es deshalb mit einer Art Guerillataktik. Sie griffen plötzlich aus dem Hinterhalt an, um genauso plötzlich wieder zu verschwinden. Den römischen Soldaten und ihren Hilfstruppen mangelte es dagegen an einer wirksamen Strategie. Hinzu kam, dass zu jener Zeit starke Truppenverbände in die südosteuropäische Provinz Moesia (heute Bulgarien) verlegt wurden, um die dort eingefallenen Daker abzuwehren. »An ein Weiterführen des Krieges gegen die Chatten war nicht mehr zu denken«, schreibt der frühere Leiter des Saalburgmuseums, Dietwulf Baatz: »Es trat ein historischer Wendepunkt ein: War bisher die Rheingrenze von größter militärischer Bedeutung für das Reich gewesen, so wurde von nun an die Donaugrenze zum neuen Schwerpunkt. Am Rhein musste sich der Kaiser mit einem enttäuschend geringen Gebietszuwachs begnügen.«12
Der Limes und die Saalburg
Vielleicht schon im Jahr 85 n. Chr., spätestens um 90 n. Chr. gründete Domitian die Provinz Germania Superior (Obergermanien) mit Mainz als Hauptstadt. Zum Schutz der neuen Provinz, die rechtsrheinisch den Taunuskamm, große Teile der Wetterau und das Gebiet zwischen Main und Neckar umfasste, ließ der Kaiser die Grenze mit Sichtschneisen und hölzernen Wachtürmen sichern. Erst in den folgenden Jahrzehnten wurde der Limes mit Palisaden aus Holzpfählen verstärkt, später kamen noch Wall und Graben hinzu. Trotzdem war der Limes, der sich vom Rhein an den Main zog und dann weiter in das Donaugebiet, nie eine Befestigung, die germanische Einfälle hätte abhalten können. Der Limes schützte die provinz-römische Bevölkerung vor räuberischen Übergriffen und regelte den Austausch mit den germanischen Gebieten. Eine militärisch strategische Funktion besaß der Limes somit nicht, obwohl in regelmäßigen Abständen kleine und größere Kastelle errichtet wurden, die eine militärische Besatzung aufwiesen. Das bekannteste Kastell in Hessen ist die Saalburg, die einer Kohorte, also bis zu 1000 Soldaten, Platz bot. Wie viele römische Überreste wurde auch die Saalburg später von der örtlichen Bevölkerung als Steinbruch genutzt. Der hessen-homburgische Regierungsrat Elias Neuhof schrieb 1777:
Der Haupteingang der Saalburg
»Eine andere Römische Schanze verdienet vorzüglich hier angemerkt zu werden. Sie hat den Namen Saalburg, und ist nicht weit von dem Weg, der von Homburg über das Gebürg nach Usingen gehet. Es ist ein großer viereckigter Platz, der mit einem tiefen Graben und Aufwurf umgeben, an dem Paß aber mit dergleichen doppelt verwahret und noch deutlich zu sehen ist. In den ältern Zeiten ist auch solcher mit einer Mauer eingeschlossen gewesen, da man aber in den neuern die Steine nach und nach aufgebrochen, und zu dem Herrschaftlichem Schloß- und reformirten Kirchenbau etc. beyfahren lassen.«13
Erst 1818 wurde die Steingewinnung verboten. Und 1870 begannen die Grabungen. Um die Jahrhundertwende engagierte sich dann Kaiser Wilhelm II. für die Idee, das Grenzkastell auf dem alten Grundriss neu zu errichten. 1907 wurde die Saalburg eingeweiht. Sie beherbergt heute eines der faszinierendsten (Freilicht-)Museen Deutschlands.
Der Obergermanisch-Raetische Limes, den die UNESCO 2005 zum Weltkulturerbe erklärt hat, schützte auf seinen 180 Kilometern über hessisches Gebiet drei römische Verwaltungseinheiten: die Civitas Mattiacorum mit Wiesbaden als Hauptort, die Civitas Auderiensium mit Dieburg als Mittelpunkt und die Civitas Taunensium um (Frankfurt-)Nida, wo jüngst ein 3000 Quadratmeter großer Tempelbezirk mit mindestens