Schöner Mist - Mein Leben als Landei. Irmgard Hochreither
»Ich muss dir was zeigen.«
Er greift zu einem Stapel Fotos und breitet sie andächtig vor mir auf dem Tisch aus. Auf den Bildern erkenne ich die langjährigen Kumpel seiner Rockband. Ecki am Keyboard, Dirk am Schlagzeug, Michael an der E-Gitarre und ihn selbst als Leadsänger mit Bass am Mikrofon. Und: Ecki, Kopf an Kopf mit einem riesigen schwarzen Köter, Michael beim Wischen eines mir unbekannten Küchenfußbodens, die Jungs beim gemeinsamen Frühstück auf einer von Hagebuttensträuchern zugewucherten Terrasse eines Fachwerkhauses.
»Und?«
Ich schaue den Mann verständnislos an.
»Polkefitz«, sagt er mit einem seligen Lächeln im Gesicht. »Ich habe dir doch von Polkefitz erzählt. Ein kleines Dorf im Wendland. Ein uraltes Bauernhaus in einem riesigen Garten. Es ist Jahre her, da haben wir dort immer wieder mal ein Wochenende verbracht. Ein herrliches Fleckchen Erde. Und niemanden hat es gestört, wenn wir unsere Verstärker bis zum Anschlag aufgedreht haben. Wir konnten endlich mal nach Lust und Laune losjammen.«
»Und? Ist das etwa deine Überraschung?«
»Der Besitzer hat angerufen. Das Haus steht jetzt leer. Wir könnten es mieten.
Für die Wochenenden. Mal raus aus der Stadt. Kostet fast gar nichts.«
»Du willst mich in die Pampa verschleppen?«, kreische ich, kurz vorm Hyperventilieren. »Vergiss es! Wenn überhaupt Pampa, dann nach Argentinien. Was soll ich in der deutschen Provinz?«
Dort bin ich aufgewachsen. Vorstadt-Idylle mit Einfamilienhäusern in ordentlich gepflegten Gärten. Ligusterhecken. In Form gestutztes Grün. Blumen, die in einer Reihe strammstehen wie Zinnsoldaten. Bin ich abgehauen aus dieser kleinen geordneten Welt, um jetzt wieder dorthin zurückzukehren? Nicht mal aus Liebe zu einem Mann kann man das von mir erwarten.
»Du könntest einen eigenen Gemüsegarten haben«, meint er vorsichtig.
»Gemüsegarten? Ich will keinen Gemüsegarten. Vielen Dank. Falls Du es noch nicht gemerkt hast: Ich bin ein Stadtmensch! Durch und durch. Ich träume nicht von selbst gezüchteten Salatgurken. Ich brauche auch keine Kate im Country-Look zum Glücklichsein. Ich wohne sehr gerne im vierten Stock und kaufe mein Basilikum auf dem Wochenmarkt.«
Die Hartnäckigkeit, mit der er am Thema klebt, stachelt meinen Widerspruchsgeist erst recht an.
»Es ist wirklich wunderschön dort«, versucht er es erneut. »Durch die Lage im ehemaligen Zonenrandgebiet hat man den Landstrich sich selbst überlassen, und das ist der Natur sehr gut bekommen. Es gibt ganz viele seltene Tiere da.
Störche, Fischadler, Biber. Und dann der Blick über die Wiesen, diese Weite.«
»Wenn du Blick willst«, grolle ich, »dann setz’ dich auf unsere Dachterrasse.«
Ein Besichtigungstermin wird für den folgenden Samstagnachmittag organisiert. »Wir tun nichts, was du nicht willst«, beschwichtigt mich der Mann, während er sein Navi mit den Daten füttert, »nur mal anschauen«.
Seine Taktik ist aufgegangen. Nachdem wir die letzten Tage über nichts anderes geredet haben als über die Schönheit der Natur im Landkreis Lüchow-Dannenberg und den unerhörten Liebreiz von Polkefitz, ist meine Neugier nun so angestachelt, dass ich mir trotz aller bisherigen Widerstände selbst ein Bild davon machen will. Mit dieser Gegend verband ich bisher nur ein paar wenig erbauliche Schlagzeilen: Gorleben, Atommüll-Zwischenlager, Castor-Transporte, rebellische Bauern. Meine Sympathie gehörte zwar immer den Demonstranten, die unbeirrt seit Jahrzehnten jeden Transport mit ausgefuchsten Störmanövern begleiten, aber ich hatte nie den Wunsch, mir diesen Zipfel Deutschlands mal näher anzusehen.
Nun fiebere ich, ohne es zugeben zu wollen, der Reise ans Ende der Welt entgegen. Mit mühsam zu Schau getragenem Pokerface sage ich gönnerhaft:
»Ich will kein Spielverderber sein. Wenn wir schon einer strahlenden Zukunft entgegengehen, dann gemeinsam.«
Laut Navi sind es 122 Kilometer bis zu unserem Ziel. Die Fahrt soll anderthalb Stunden dauern. Wir rollen auf der Autobahn über meine geliebten Elbbrücken Richtung Lüneburg. Hinter uns die Großstadt, vor uns die Provinz. Dann runter auf die Bundesstraße. Es wird einspurig. Überholverbote und mit Blumen geschmückte Kreuze am Wegesrand erzählen von tollkühner Selbstüberschätzung. Oder ist es Todessehnsucht? Wir fahren über die Dörfer. Barendorf, Bavendorf, Dahlenburg. Kurz vor der Ortschaft Göhrde wird die Landschaft hügelig, dichter Wald reicht bis an die Straße. Gab’s hier im Unterholz nicht einen Doppelmord, der nie aufgeklärt wurde?
»Das ist aber sehr, sehr lange her.«
Der Mann an meiner Seite will jetzt auf gar keinen Fall mit mir über frei im Landkreis umherlaufende Mehrfachkiller reden und lenkt meine Aufmerksamkeit auf ein Schild, das eine respektable, sprungbereite Wildsau zeigt. Seitlich davon die fette Warnung: Keiler kommt!
Die Straße wird immer schmaler und führt schließlich als unbefestigter Weg ohne Gehsteig in ein Dorf, in dem die Häuser hufeisenförmig um einen Platz stehen. Sie scheinen den Besuchern ihre hübschen Fachwerkfassaden entgegenzustrecken, als wollten sie sich zur Begrüßung von ihrer Schokoladenseite zeigen. Gleichzeitig erinnert das Ensemble aber auch an die Verteidigungsbereitschaft einer Wagenburg im Wilden Westen. Oder an Klein Bonum, das wehrhafte gallische Widerstandsnest.
»Polkefitz ist ein Rundlingsdorf«, klärt mich der in Heimatkunde bewanderte Mann auf, »so was gibt es nur hier, im Wendland.«
Er zeigt auf eine Gartenpforte, neben der die Hausnummer 9 angebracht ist.
»Da müssen wir rein. »
Kaum habe ich die Klinke runtergedrückt, da rast etwas Großes, Blondes auf mich zu. Der Hunde-Experte an meiner Seite knurrt leise:
»Bleib einfach stehen und schau ihm nicht in die Augen.«
Wie bitte?
Das kläffende Ungeheuer erweckt nicht den Anschein, als würde es auf solche Tricks hereinfallen. Ich fühle, wie mir der Angstschweiß den Rücken hinunterläuft. Hunde können Angst riechen, das ist alles, was mir in der Sekunde einfällt. Dann sehe ich einen Mann und eine Frau, offenbar die Besitzer der Bestie, auf uns zusprinten.
»Du hast mich auf dem Gewissen«, kann ich gerade noch zischen, bevor ich zur Salzsäule erstarre. Morgen, denke ich, hat die Regional-Zeitung ihren Aufmacher: Hamburger Journalistin von Hofhund zerfleischt. Sekunden später springt mir der Blonde mit Karacho gegen das Brustbein und verewigt die Abdrücke seiner Dreckpratzen auf meinem Lieblingspulli.
»Pfui Leo!«, ruft eine aufgebrachte Frauenstimme und säuselt dann entschuldigend: »Wir sind noch dabei, ihm das abzugewöhnen.«
Leos Frauchen stellt sich als Helena vor und reicht uns die Hand, während ihr Mann Paul den Springteufel in die Sitzposition zwingt.
»Lange nicht gesehen«, sagt der zum Leadsänger aus der Stadt. Und zu mir:
»Schön, dass ihr da seid.«
Mir zittern die Knie. Aber die erste Lektion sitzt: No Kaschmir, wenn du aufs Land fährst.
Helena inspiziert den Schaden.
»Wir sind versichert gegen so was«, sagt sie und befühlt mit dem Zeigefinger das kleine Loch, das eine spitze Kralle des Ungeheuers in die Wolle gerissen hat, »aber wenn du mir den Pulli hier lässt, kann ich ihn dir auch kunststopfen. Der wird wieder wie neu.«
Ich nicke geistesabwesend. Ich lebe noch. Das Loch ist mir im Augenblick völlig egal.
»Leo ist ein Hovawart«, klärt uns Paul auf, »die waren im Mittelalter dazu da, in Eigenregie die Höfe zu bewachen.«
Der Mann an meiner Seite nickt und meint fachkundig:
»Nicht ganz einfach, die Rasse. Sehr revierbewusst und schwer zu erziehen.«
Paul grinst.
»Kennst dich wohl aus mit den Vierbeinern, was?«
Der Hofherr ist ein kräftiger Mann mit wilder, weißer Lockenmähne.