Mars. Asja Bakić

Mars - Asja Bakić


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Schaut, die Frau, die dort im Fenster hockt, sagte ich. Andere Kinder sind ängstlich, das vergaß ich häufig. Ich hatte nur vorm Zahnarzt Angst, aber auch das ging schnell vorbei. Vom Ozren kam ich wie ausgewechselt nach Hause, als ein Kind, das nicht mehr beabsichtigt, mit dem Erzählen aufzuhören. Meine Familie bezeichnete mich als Philosophin. Ich wedelte ständig mit den Armen und gestikulierte wild. Poesie schrieb ich mit einem Zimmermannsstift. Ich war wirklich besonders. Ich war anders.

      »Ich habe nicht den Eindruck, dass du so anders bist«, sagte Zubrovka.

      Sie beugte sich über meine Geschichte, tippte mit dem Finger auf das Wort »besonders«.

      »Das ist nur eine Geschichte«, sagte ich.

      »Ich weiß, ich wollte nur sagen, dass du dir nicht allzu viel einbilden sollst. Du bist nicht die erste, die an diesem Tisch sitzt und schreibt.«

      »Genau an diesem Tisch?«

      »Genau an diesem Tisch, ja«, sagte Tristessa, die auf der anderen Seite stand.

      »Wie viele Menschen genau saßen vor mir an diesem Tisch?«, fragte ich.

      »Das können wir dir nicht sagen, das ist vertraulich.«

      Ich war verwirrt: Wenn ich selbst einen solchen Tod zusammengeträumt habe, wie war es möglich, dass ich von etwas geträumt habe, wovon vor mir schon andere geträumt hatten?

      »Ich verstehe das nicht«, sagte ich, »ihr habt von Kartoffeln in der Erde oder irgendetwas anderem gesprochen, aber in Wirklichkeit geht es um Kartoffel in der Erde oder das hier?«

      »Ist das hier die Hölle oder das Paradies?«, fügte ich hinzu.

      Zubrovka und Tristessa sahen sich bedeutungsvoll an.

      »Je nachdem, um wen es sich handelt«, sagten sie. »Für die Menschen, die nicht schreiben können, ist das hier die Hölle, für die, die es mögen und beherrschen, ist es das Paradies.«

      »Damit bin ich nicht einverstanden.«

      Ich stand auf und zerknüllte die Geschichte.

      »Ich will zurück in die Erde.«

      »Unmöglich«, antwortete Tristessa, »zuerst die Geschichten, dann kannst du weiter.«

      »Dieses ›weiter‹, was heißt das genau?«, fragte ich nervös.

      »Das können wir dir nicht sagen, es ist vertraulich«, sagten sie gleichzeitig.

      Ich begann, um den Tisch zu laufen. Tristessa versuchte, mich zu berühren.

      »Fass mich nicht an! Wag es nicht!«, rief ich.

      Die beiden gingen rückwärts zur Tür. Sie ließen mich nicht aus den Augen. Als sie fort waren, glättete ich das zerknüllte Papier und schrieb den Anfang der Geschichte auf ein anderes Blatt ab. Man musste weitermachen, man musste den Tod zu Ende bringen.

      Eigentlich war ich nicht besonders. Ich hatte einen bemerkenswerten Charakter, aber einen bemerkenswerten Charakter haben auch viele andere. Ich bin nicht die Einzige. Bevor ich diesen Gedanken fortsetzte, hielt ich inne. Die zweite Phase quälte mich. Es klang so, als planten die Sekretärinnen, eine Bank zu überfallen oder die Regierung zu stürzen, und ich solle ihnen dabei helfen. Ich lachte über mich selbst und schrieb: Schreiben ist kein Sprengstoff, es kann keinen Safe, keine Wand und keinen Keller hochgehen lassen.

      Da irrst du dich, ich stellte mir vor, wie Tristessa mich korrigierte. Wir haben dir gesagt ein Dutzend Geschichten, weil wir eine ausreichende Anzahl von Geschichten brauchen, damit wir ein Feuerwerk machen können.

      »Ich will mich nicht an illegalen Vorgängen beteiligen«, erwiderte ich, als würde ich mich tatsächlich mit Tristessa unterhalten.

      Du Dummkopf, rief sie, und an diesem Punkt endete unser imaginärer Streit.

      Ich schrieb weiter.

      Nach einem Unfall lebte mein Onkel eine Zeit lang bei uns. Mama pflegte ihn. Er schlief einige Monate lang in unserem Wohnzimmer. Manchmal sah ich in der Nacht direkt an seinem Kopfende stehend Pornofilme und lachte mich tot. Ich wusste, dass er mich nicht hörte. Er hatte eine gute Ausrede, er war krank. Die anderen Familienmitglieder waren gesund, aber sie beachteten mich trotzdem nicht. Von allen Kindern in der Schule war ich am unsichtbarsten. Zumindest schien es so. Ich ging allein in die Schule. Und ich kehrte allein nach Hause zurück. Ich hatte keine Freunde, nur den großen Wunsch, alles zu wissen.

      Ich hatte aber einen imaginären Freund – das Einhorn Sebastian, das ich nur erwähnte, wenn ich hohes Fieber hatte. Deshalb lehnte ich es ab, ins Krankenhaus zu gehen, da ich einmal den falschen Leuten von meinem Einhorn erzählt hatte. Sie dachten, dass ich verrückt bin. Meine Schwester rettete mich im letzten Moment, wir flüchteten gemeinsam aus dem Krankenhauszimmer.

      »Wenn es euch Sonderlinge nicht gäbe«, hatte Zubrovka gesagt, als wir uns kennenlernten, »wäre jeder Tod eine Kartoffel.«

      Ich bekam Rückenschmerzen, ich musste mir die Füße vertreten. Ich ging hinaus in den Flur und blieb vor dem Zimmer stehen, in das ich gehen wollte. Ich hörte das Kichern von Tristessa und Zubrovka nicht, deshalb nahm ich an, dass sie irgendwohin ausgegangen waren. Ich griff wieder nach der Türklinke: verschlossen. Ich brach das Schloss auf – ich weiß nicht, woher ich den Mut nahm. Ich trat einige Male mit dem Fuß gegen die Tür, und ich schaffte es, einzubrechen.

      Das Zimmer stand voller Kartons. Sie waren aufeinandergestapelt bis zur Decke. In der Mitte des Zimmers stand ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen und eine kleine Lampe. Ich nahm an, dass hier die beiden Sekretärinnen saßen. Ich öffnete eine beliebige Kiste und sah, dass sie vollgepackt mit Manuskripten war.

      »Was machst du da?«, hörte ich die wütende Stimme von Zubrovka.

      »Die Tür war offen«, log ich.

      »Sie hat die Tür aufgebrochen«, sagte Tristessa und hob die kaputte Türklinke vom Teppichboden auf.

      »Ich musste es wissen.«

      »Wir hätten es dir bald gesagt, du hättest dich noch ein wenig gedulden müssen.«

      »Das konnte ich nicht. Die zweite Phase hat mich gequält.«

      Die Sekretärinnen setzten sich an den Tisch. Es gab keinen dritten Stuhl, daher musste ich stehen. Tristessa knipste die kleine Lampe an, und das schwache Licht beleuchtete ihre grimmigen Gesichter. Doch ihre schlechte Laune hielt nicht lange, Tristessa begann zu lachen und mit der Faust auf den Tisch zu schlagen.

      »So ist das also, du musstest es wissen!«, sagte sie.

      Sie lachte laut auf, als wäre ihr Mund gefüllt mit fremdem Lachen – als hätte sie sich mit Lachen anstelle von Kuchen vollgestopft.

      »Du gefällst mir«, sagte sie. »Ich weiß, dass du auch Zubrovka gefällst, deshalb werde ich dir alles erzählen.«

      »Die Situation sieht folgendermaßen aus«, legte sie los. »Unsere Aufgabe besteht darin, interessante posthume Texte zu sammeln, ein großes rituelles Feuer anzuzünden, Papier in das Feuer zu werfen und …« Sie hielt inne. Ihre Arme hatte sie angehoben, sie wollte die Spannung erhöhen. »… bumm!«, rief sie aus. »Das Beste vom Tod wird ans Tageslicht kommen.«

      »Du meinst, die Toten werden zu den Lebenden kommen?«, fragte ich verwirrt.

      »Nicht alle Toten, nur die Toten, die gut schreiben.«

      Zubrovka, die zuvor still dagesessen hatte, mischte sich in das Gespräch ein.

      »Die Literatur«, sagte sie, »ist die Hauptverbindung zwischen Tod und Leben.«

      Ich hatte den Eindruck, dass die beiden das Schreiben allzu romantisch betrachteten, ich wollte sie aber nicht unterbrechen.

      »Wir brauchen das Feuer des geschriebenen Wortes, um einen winzigen Riss an der Oberfläche der Wirklichkeit entstehen zu lassen, um so in sie eintreten zu können. Du hast doch Märchen gelesen, du weißt, wie das funktioniert.«

      »Märchen sind


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