Mars. Asja Bakić
»Der Tod dringt auch an schwer erreichbare Orte vor, aber nur mit Hilfe der Literatur. Sonst kann er gar nichts.«
»Und die anderen Künste? Was ist mit Malerei, Bildhauerei, Musik?«
»Das interessiert uns nicht«, sagten sie. »Sie können nützlich sein, aber das Schreiben bewegt uns viel mehr.«
Ich schloss die Augen. Ich stellte mir meinen Freund Sebastian vor.
»Hörst du, was diese beiden Idiotinnen erzählen?«, fragte ich ihn.
»Ich höre, ich höre«, wieherte er. »Erinnere dich an Heraklit«, fuhr er fort. »Wenn die Menschen sterben, erwartet sie das, worauf sie nicht hoffen und woran sie nicht denken. Zähle bis fünfzig, um dich zu beruhigen.«
»Ich habe die Zahlen vergessen«, sagte ich nervös. »Ich komme nur bis zehn.«
In dem Augenblick, in welchem ich wieder die Augen öffnete, zeigten Tristessa und Zubrovka auf einen Karton.
»Dort sind Manuskripte, die besonders wertvoll sind.«
»Wer hat das alles für euch geschrieben?«, fragte ich.
»Das ist ein Geheimnis«, sagte Zubrovka. »Du wirst es erfahren, wenn wir in das Leben hinaustreten.«
»Jetzt musst du weiterschreiben«, sagte Tristessa, »wir haben nicht mehr viel Zeit. Die Bedingung für unser Hinaustreten ist eine vollständige Sonnenfinsternis.«
»Das oder Vollmond. Es ist eigentlich egal. Es müssen nur Elemente des Grauens sein.«
»In Ordnung«, sagte ich.
Ich verließ das Zimmer, und im Flur kam mir der Gedanke, dass ein Banküberfall im Vergleich zu dem Unsinn, den die beiden Sekretärinnen erzählten, eigentlich eine gute Idee sei.
»Gold ist wertvoller als das Leben«, dachte ich.
Woher weiß ich, dass Gold und andere Edelmetalle mehr wert sind? Ich weiß es, weil ich einst gelebt und mich davon überzeugt habe. Man musste das Nachdenken über soziale Fragen beiseitelegen. Die Sekretärinnen wollten ins Leben zurückkehren, und sie wollten mich mitnehmen. Ich hatte eigentlich nicht den dringenden Wunsch, wieder Luft zu atmen und zu sehen, was auf der anderen Seite geschieht, aber die Idee, dass die Literatur Macht hat, erfasste mich vollständig. Alles, was ich zuvor geschrieben hatte, endete in der Heimatbibliothek, zwei dünne Poesiebände, die niemand mehr lesen wird. Das Schreiben, das Staub ansetzt, gegenüber jenem Schreiben, das von den Toten erweckt. Es gab keinen Zweifel daran, welche dieser beiden Schreibarten mir besser gefiel.
Ich schrieb Tag und Nacht, ununterbrochen. Tristessa und Zubrovka brachten mir Getränke und Essen, manchmal wischten sie mir den Schweiß von der Stirn. Nach dreißig Tagen kam die Stunde der Wahrheit. Sie saßen an dem Tisch und lasen das Geschriebene. Sie glitten mit ihren Blicken schnell über Binde- und Fürwörter, sie lachten.
»Das ist es!«, sagten sie. »Es wird Zeit loszugehen.«
Sie stopften mein Manuskript in einen offenstehenden Karton, verschlossen ihn mit Paketband und stellten ihn zur Seite. Ich reckte meinen Hals, um zu sehen, ob sie mich in die »besonders wertvoll«-Kiste abgelegt hatten, glaube aber, dass diese bereits verschlossen war. Als hätte sich all das Beste in der Literatur schon in der Vergangenheit abgespielt, in der Zeit vor mir. Das ärgerte mich. Zwei dünne Gedichtbände, okay, aber dennoch von Bedeutung. Egal, wie dünn sie sind.
»Schließe dich in einem der Zimmer ein«, sagte Zubrovka. »Du darfst das Zimmer nicht verlassen, bevor du spürst, dass dich so etwas wie ein Lasso zur Ausgangstür zieht.«
»In Ordnung.«
Ich schloss mich in jenes Zimmer ein, in dem ich geschrieben hatte. Der Stuhl war unbequem, mein Leben war ebenfalls unbequem gewesen, und auch mein Tod war unbequem. Ich war schon an Druckstellen gewöhnt. Im Raum verbreitete sich eine große Hitze. Ich dachte, dass ich zusammen mit meinen posthumen geistigen Produkten verbrennen würde. Ich saß ruhig da, ich erwartete nicht, dass das, was die Sekretärinnen angekündigt hatten, eintreten würde. Plötzlich spürte ich, dass mich etwas an der Taille drückte, etwas presste meine Arme eng an den Körper und zog mich zur Tür.
Mein Freund Sebastian erschien.
»Wir gehen wieder zu den Lebenden«, sagte ich. »Kannst du es fassen?«
»Heraklit sagt, dass die Unsterblichen sterblich und die Sterblichen unsterblich sind, denn das Leben von diesen ist der Tod von jenen, der Tod von jenen das Leben von diesen«, sagte Sebastian.
»Schluss jetzt mit dem Heraklit«, rief ich.
Sebastian sah mich ein wenig beleidigt an.
»Was für eine Gans du bist. Mir wäre es lieber, Heraklits imaginärer Freund zu sein als deiner. Fein sein ist nichts für dich. Man sieht aus dem Flugzeug, dass du aus Bosnien kommst.«
Bevor es mir gelang, etwas zu antworten, öffnete sich die Tür, und ich verschwand in der Dunkelheit des Flurs. Über mir verbreitete sich das Schwarz. Ich konnte nicht erkennen, wo genau ich gerade war. Als wäre ich aus der Tiefe aufgetaucht.
»Wo sind wir?«, fragte ich die Person neben mir. Ich konnte ihr Gesicht in der Dunkelheit nicht erkennen.
»Ich glaube, dass wir in Montenegro sind«, sagte eine Frauenstimme.
Mein Kopf tauchte auf, ich sah mich um. Ich war noch nie in Montenegro.
»Der Durmitor«, rief jemand.
Ich befand mich im Wasser. Ich sah Tristessa.
»Wo sind wir aufgetaucht?«
»Im Teufelssee«, sagte sie und lachte.
Über uns schien der Vollmond. Ich sah mein Spiegelbild auf der Oberfläche des Sees. Natürlich war ich ein Zombie. Niemand kehrt unversehrt aus dem Reich der Toten zurück.
»Du hast mich nicht gewarnt«, sagte ich zu Tristessa.
»Was meinst du, warum Zombies Menschenhirne essen?«, fragte sie. »Sicher nicht deshalb, weil sie, als sie am Leben waren, Genitalien und Füße am meisten schätzten.«
Sie hatte selbstverständlich recht. Der große Ansturm der Schriftsteller auf das menschliche Gehirn begann. Alle beeilten sich, aus dem Wasser zu kommen. Irgendwo vor mir erblickte ich Njegoš.
Ihm steht sicher die Ehre zu, als erster zuzubeißen, dachte ich enttäuscht.
Auch Zombies halten sich leider an irgendeine Ordnung und beachten die Hierarchie. Ich wollte die Hand zur Faust ballen, aber es ging nicht. Jenes Lasso hielt mich auch weiterhin fest. Wer am Seil zog, wer mich zu einem fremden Gehirn leitete – ich erfuhr es nicht.
DER VERGRABENE SCHATZ
1.
Der Tote blieb liegen. Morgen käme jemand vom städtischen Dienst, um ihn abzuholen. In der Zwischenzeit versuchte man, seine Witwe, eine Frau, die an langjährigem Tablettenmissbrauch litt, zu beruhigen, man gab es aber bald auf – normale Dosen der Beruhigungsmittel wirkten nicht: Sie krümmte sich auf der Couch, sichtbar aufgebracht.
»Gebt ihr eine höhere Dosis«, sagte der Arzt.
Die Schwester las zwischen den Zeilen und gab ihr eine ganze Handvoll Tabletten. Die Witwe verlangte, dass man sie ins Bett bringe, gleich neben den Verstorbenen: Ihr Gefühl sagte ihr, dass der Mann neben ihr lebt. Die Enkel rannten aus dem Zimmer hinaus und wieder herein, ohne sich um die Oma zu kümmern – nur manchmal blieben sie stehen, um die Leiche zu berühren.
»Vielleicht lebt er wirklich noch«, sagte die älteste Enkelin.
Aus dem Nachttopf, der unter dem Bett stand, verdunstete der Urin des Verstorbenen und verbreitete einen beißenden Geruch.
Die Älteren trauerten jeder auf seine eigene Art, aber die Kinder hatten nicht allzu viel Zeit für Trauer,