Mars. Asja Bakić
Kindern war es egal, dass Großvater nur Dinge hinterlassen hatte, die für Erwachsene bestimmt waren, da man sie immer in etwas Nützliches verwandeln konnte: Aus den Büchern wurden Treppen für Puppen gebaut, die Medaillen wurden zu Glasuntersetzern, und am interessantesten war das Schicksal einiger Bleistifte aus Holz, die Großvater in einer Schublade aufbewahrte. Kurz nach Großvaters Tod erwischte die älteste Enkelin ihre Cousine dabei, wie sie hinter einem Sessel hockend mit einem der Bleistifte ihr eigenes Genital erforschte. Obwohl sie nicht überrascht war, entschied sie, dass diese Bleistifte – und zwar alle – nicht mehr zum Schreiben und Zeichnen dienen konnten, vielleicht hatte die Cousine ja nicht nur den einen, sondern alle Bleistifte für ihr privates Vergnügen benutzt. So landete also ein Teil von Großvaters Erbe im Müll. Die Eltern waren jedoch nicht einverstanden, sie forderten, dass die Bleistifte wieder aus dem Mülleimer herausgeholt und weiter benutzt werden sollten, da sie glaubten, dass die Mädchen sie aus lauter Übermut weggeworfen hatten. Die Kinder sagten nichts dazu, nicht einmal, als einer der Erwachsenen nervös an der Spitze eines der Bleistifte knabberte, während er einen wichtigen Brief verfasste.
Die Großmutter erholte sich nur langsam, doch bald kehrte sie zu ihren alten Gewohnheiten zurück. Sie versteckte weiterhin diverse Tabletten im Wäscheschrank, schob heimlich Nahrungsmittel unter die Wintermäntel und erlaubte den Kindern, »Twin Peaks« zu sehen, obwohl die Eltern es ausdrücklich verboten hatten.
Im schnellen Vorwärtsspulen ihrer Kindheit erkannten die Enkel, dass die herabhängenden Hoden des Großvaters, die aus dem Hosenbein der kurzen Shorts herausspähten, nicht das Lustigste waren, das sie in ihrem Leben sehen würden, da einige Etagen unter der Wohnung der Großeltern Nataša lebte, ein Mädchen, deren Vater ein großer Verehrer japanischer Pornografie war. Einige Stunden beim gemeinsamen Spielen in ihrer Wohnung hatten genügt, um Großvaters Schande vergessen zu machen.
Natašas Vater sammelte erotische Comics und Zeitschriften, und Nataša hatte auch ein kleines Schaukelpferd, auf dem die Kinder abwechselnd schaukelten, eine Art Simulation der sexuellen Handlungen der Erwachsenen. Sehr bald schon wurden sie erwischt, und die gesamte Kollektion der pornografischen Zeitschriften und Comics landete auf dem leeren Parkplatz, dort hingeworfen, als hätte man den Armen ein Bündel Geldnoten von einem Luxusbalkon zugeworfen. Natašas Mutter beendete mit dieser Geste einen recht angenehmen Frühling, danach gab es keine Rückkehr mehr. Die Kinder hatten merkwürdige Dinge gesehen, »Twin Peaks« war dagegen Pipifax. Sie wurden empfindsam gegenüber Geheimnissen. Alles, was verborgen war, wollten sie fortan erforschen und kennenlernen. Sie ertrugen die Lügen der Erwachsenen nicht, obwohl sie selbst häufig und völlig ohne Grund logen, das Wichtigste aber war – sie blieben naiv. Wäre es nicht so gewesen, wäre das, was sich in den folgenden Ferien abspielte, nicht möglich gewesen.
2.
Als Oma endlich aufgehört hatte, Opa zu beweinen und Abfall und Tabletten überall im Haus zu horten, fuhren die Kinder zusammen mit ihr und mit ihrem Onkel nach Smoluća, jenem Dorf, in dem die Großmutter geboren und aufgewachsen war, um dort die Sommerferien zu verbringen. Nach ihrer Ankunft wechselte der Onkel sogleich vom Fahrersitz auf die Bank unter einem Walnussbaum, öffnete eine Flasche Bier und betrachtete die Wiese vor dem benachbarten Ferienhaus. Die Kinder umkreisten ihn, drei Mädchen, die alles wissen wollten. Der Onkel trank in großen Schlucken.
»Willst du später in dem Fass baden?«, fragten die Kinder.
»Natürlich«, sagte der Onkel.
Am selben Tag sollten Verwandte in das benachbarte Ferienhaus einziehen. Sobald sie einträfen, würden alle auf die Bäume klettern und sich gegenseitig mit unreifen Früchten, zumeist Pflaumen, bewerfen. Der Onkel würde ihnen helfen, sich dünne, gezwirbelte Schnurrbärte ins Gesicht zu malen. Sie würden Maiskolben von dem benachbarten Feld klauen und den Dorfkindern dafür die Schuld in die Schuhe schieben. Die älteste Cousine würde vermutlich zu viel unreifes Obst und Mais essen und anschließend – wie im letzten Jahr – zwei Stunden auf dem Plumpsklo verbringen. Die anderen Kinder würden lachen und ihr angewidert neue Rollen Toilettenpapier anreichen. Alles wäre wie immer.
»Der Brunnen ist ausgetrocknet«, hörten sie die Großmutter vom Fuß des Hügels rufen. »Es gibt keinen Tropfen Wasser.«
Der Onkel trank weiter sein Bier und machte sich keine großen Sorgen. Er mochte es sowieso lieber, zu Hause zu bleiben und sich vor den Fernseher zu fläzen.
»Es gibt kein Wasser, mein Gott, es gibt Schlimmeres«, sagte er zu den Kindern.
Jedes Mal, wenn sie hier waren, sagte der Onkel: »Unten im Tal, direkt neben dem Brunnen, liegen riesige, mit Gold gefüllte Krüge vergraben. Wenn die Außerirdischen kommen, um mich zu holen, werde ich sie ausgraben und mit zum Mars nehmen.«
»Vergiss bloß nicht das Bier«, pflegte Oma ihm bissig zuzuwerfen, aber der Onkel scherte sich nicht um ihre Worte.
»Warum graben wir sie nicht sofort aus?«, fragten die neugierigen Kinder.
»Weil die Zeit noch nicht reif ist«, sagte der Onkel.
Die Kinder glaubten ihm, weil er zu Hause eine umfangreiche Kollektion der Zeitschrift Arke hatte, die sich den Themen Ufos, Hexen, Meeressirenen und Geister verschrieben hatte. Und die Kinder lasen sie immer, wenn sie Gelegenheit dazu hatten. Hier und da hatten sie auch Pornos gefunden, die der Onkel in Schallplattenhüllen versteckte. Sie konnten nicht verstehen, warum er sie ausgerechnet dort aufbewahrte oder warum er sie überhaupt versteckte.
»Oma, Oma, wo kommt das denn her?«, fragten die Enkelinnen einmal.
Die Großmutter, die mitgekommen war, um die Wohnung des Onkels aufzuräumen, fing sich schnell.
»Das hat Opa vor langer Zeit im Hauseingang gefunden und hierhergebracht, damit wir damit die Fenster putzen können.«
Die Kinder waren naiv, aber nicht dumm. Es war klar, dass Oma etwas verbarg. Bald darauf, als sie das nächste Mal in die Wohnung des Onkels kamen, lagen die Pornos nicht mehr in den Schallplattenhüllen, die Arke-Hefte lagen dennoch an ihrem gewohnten Platz. Die Kinder fanden all das seltsam. Die Bilder, die man in den Arke-Heften sehen konnte, kamen ihnen merkwürdiger vor als jene, mit denen der Onkel angeblich die Fenster putzte, und diese hatte er jedoch nicht versteckt. Die Großmutter kam langsamen Schrittes zum Ferienhaus. Der Onkel sah sie lächelnd an.
»Wie willst du in dem Fass baden, wenn es kein Wasser gibt?«, fragten ihn die Kinder.
»Ich werde das Fass mit nach Hause nehmen«, antwortete der Onkel und nahm noch einen Schluck Bier.
»Wir müssen Zoran rufen«, warf Oma ein. »Ich glaube, dass der Brunnen nicht mehr zu retten ist.«
»Warum willst du ihn nicht mit den Kindern holen gehen?«, fragte der Onkel und öffnete ein neues Bier. »Das Auto schafft diesen steilen Hang nicht. Ihr könnt durch den Wald spazieren gehen.«
Großmutter blickte ihn an, sagte aber nichts. Sie drehte sich zu ihren Enkelinnen und fragte: »Möchtet ihr mit mir einen Spaziergang machen?«
»Wir würden lieber mit dem Onkel gehen«, antworteten sie.
Die Großmutter küsste sie der Reihe nach auf die Stirn, blickte wieder ihren Sohn an und sagte ruhig: »Sag Zoran, er soll sich beeilen. Das ist schon der dritte Brunnen, der ausgetrocknet ist. Und auch im Brunnen deiner Schwester gibt es kein Wasser.«
Der Onkel stand lustlos auf und zog ein T-Shirt an, das er einige Minuten zuvor wegen der Julihitze ausgezogen hatte.
»Vielleicht schafft es der Fiat doch bis zu Zorans Haus. Der Hang ist gar nicht so steil«, sagte er.
3.
Die Kinder saßen auf der Rückbank des langsam vorwärts ruckelnden Autos. Ihnen war heiß – ihre nackten Beine klebten am Kunstleder. Es gab noch kein Internet, und so konnten sie sich nicht bei gleichaltrigen Freunden darüber beschweren, wie schwer sie es hatten und wie heiß es war. Der Onkel murrte vor sich hin. Er war Junggeselle, und die Großmutter