H. C. Artmann - Bohemien und Bürgerschreck. Michael Horowitz
Stunden erzählte er mir später aus seinem Leben. Manchmal von heftigen Hustenanfällen gebremst. Aber der fast 80-jährige, körperlich schwache Schriftsteller ist weiterhin der Enthusiast, als der er auch immer wesentlich Jüngere mitgerissen hat. Ein Verführer, der die Nähe der Jugend suchte und dabei oft jünger als die Jungen war.
Voller Verve erzählte er von all den schrulligen Figuren aus Breitensee. Von all den prägenden Persönlichkeiten der Peripherie, die in seinen Erzählungen immer wieder liebevoll beschrieben wurden. Und er erwähnte wie beiläufig, dass er bei den Frauen ein „Spätstarter war und mit der ersten im zarten Alter von 26 Jahren geschlafen hatte“. Und gleich ein Kind zeugte. Sein erstes. Sohn Patrick. Später sollten noch vier Kinder folgen: Patricia, Manja, Carl Johan Casimir und Emily Griseldis.
„Eigentlich bin ich ein verhältnismäßig treuer Mensch, wenn ich einmal wo gelandet bin, bleib ich picken. Frauen lernt man nur langsam kennen. Richtig versteht man sie erst, wenn man schon wieder auseinander ist. Wenn’s aus ist, glaubt man, das halt ich nicht aus. Später lacht man darüber …“
Artmann erzählte mir von der abenteuerlichen Flucht aus der Kriegsgefangenschaft, dem allerersten Gedicht, das er für ein Bauernmädchen aus Hollabrunn geschrieben hat. Oder von seiner Erinnerung an das Nachkriegs-Wien, von Existenzen zwischen Bangen und Hoffen, von Euphorie und Enttäuschung. Er schlug sich ganz gut durch, arbeitete als Statist im „Etablissement Ronacher“ und als Übersetzer bei den Amerikanern.
Und H. C. Artmann erinnerte sich an das Exil in Berlin, Mitte der 1960er-Jahre. An das Untermietzimmer im dritten Stock in der Kleiststraße 35. In Berlin-Schöneberg, wo John F. Kennedy im Juni 1963 seine berühmte Rede mit dem Satz „Ich bin ein Berliner“ gehalten hat. Am Türtaferl der Wohnung des aus Wien geflohenen Dichters stand „hans carl artmann – 7x läuten“. Immer kamen Freunde auf Besuch. 24 Stunden Open House. Relikte der vielen Partys sind die Bier- und Whisky-Flaschen, überall am Boden verstreut. Und durchaus stolz erzählte er davon, dass er in der Diskothek „Eden-Saloon“ des Berliner Nachtclub-Königs Rolf Eden in der Damaschkestraße im einen Twist-Tanz-Wettbewerb gewann. Und Günter Grass nur Zweiter wurde.
Plötzlich ist Artmann damals im November 2000, wenige Wochen vor seinem Ableben, in seinen Gedanken wieder in Wien gelandet. Im Ottakringer Wirtshaus „Zur blauen Nosn“ in der Johann-Staud-Straße 17. Wir sollten in den nächsten Tagen rausfahren und nachschauen, was in der Vorstadt, vor allem in Breitensee, noch existiert: Die Tee- und Likörstube der Franciska Marous, der Sparverein „D’ Ameisbachler“, die Gaststätte Hapler, wo einmal jährlich hinten im Extrazimmer die Verkaufsausstellung „Das gute Bild für den Normalverbraucher“ mit Stillleben aller Art stattfand.
Und auch die Pawlatschen, wo früher das Ringelspiel, der Watschenmann und das Kasperltheater gestanden sind, sollten wir unbedingt suchen. Oder das kleine Tschocherl und die Greißlerei hinter der Kirche. Und wir sollten schauen, ob vom Chinesenviertel in der Kuefsteingasse noch irgendetwas zu erkennen ist, ob auf der Steinhoferwiese, einem „wahren Paradies der Beinbrüche, verstauchten Kreuze und ausgekegelten Handgelenke“, noch immer so viel los ist.
Und er wollte mir bei unserer Exkursion das Café Smejkal zeigen, wo man das Bummerl um zehn Groschen ausgespielt hat. Und das 1905 als Zeltkino gegründete „Breitenseer Lichtspieltheater“, in dem er zu Beginn der 1930er-Jahre einen der letzten Stummfilme gesehen hat: „Eine schamlose Frau“ mit Greta Garbo. Und, nach dem Einbau einer Tonanlage, die großen Revue- und Operettenfilme der Ufa wie „Die Drei von der Tankstelle“ mit dem Schlager „Ein Freund, ein guter Freund“.
Hauptdarstellerin des schwungvollen Films, der von der politischen Ohnmacht jener Zeit ablenken sollte, war Lilian Harvey. Der leidenschaftliche Kinogeher Artmann erinnerte sich, dass man damals in den „Illustrierten Blättern“ lesen konnte, dass die aus den Londoner Slums stammende Schauspielerin „ihre in Armut lebenden Angehörigen von der Tür ihrer palastartigen Villa vertreiben ließ, wo sie jeden Tag in deutschem Sekt badete und ihre Fingernägel mit geschmolzenen Perlen überziehen ließ“.
Einmal wartete H. C. am frühen Nachmittag schon unten vor der Haustüre auf mich, Ecke Josefstädter Straße/Schönborngasse. Elegant, im erbsengrünen Corduroy-Twill-Trenchcoat im Raglanschnitt. Der unvermeidbare Tschik – trotz ewiger Bronchitis – zwischen den Fingern. „Soll ich vielleicht mit 79 noch zum Rauchen aufhören?“ Nach der knappen, herzlichen Begrüßung fuhr er mit dem Aufzug wieder in die Wohnung hinauf.
Er war schon zu schwach für unseren Ausflug in seine Kindheit, nach Breitensee. Drei Jahre zuvor rutschte er in der Gardasee-Villa von André Heller am spiegelglatten Parkettboden aus und brach sich das Becken. Seit damals schmerzt jeder Schritt.
Müde von einem Leben aus Euphorie und Einsamkeit, Tatendrang und Traurigkeit hat er sich ein halbes Jahr vor seinem 80. Geburtstag verabschiedet. In „Grammatik der Rosen“ nimmt er 20 Jahre davor das Ende vorweg: „ich lege ein wenig ermüdet mein binokel auf die holzbraune fläche meines fensterbrettes und sage auch als freund adieu, wer weiß, ob ihr mich verstehen könnt, aber es wäre schön, ihr tätet es … adieu!“
REISEN IM WINDSCHATTEN DER POESIE
Späte Ehrungen und ein aschenleichter Tod
Anfang Dezember des Jahres 2000 war in Wien von Adventstimmung noch nichts zu spüren. Die blonde Wetterfee erklärte im Fernsehen, dass Gumpoldskirchen sensationell 19 Grad gemeldet hat und bei uns nördlich des Alpenhauptkamms auf der „Quecksilber-Säule“ momentan um fünf Grad mehr als in Casablanca, ja, und sogar um zwölf Grad mehr als in Damaskus gemessen wurden.
H.C. Artmann litt seit Wochen unter dieser „teuflischen Witterung, diesem furchtbaren Föhn, der drückt so, mein Kreislauf ist im Eimer …“. Schon immer habe ihm der Föhn zu schaffen gemacht und Schmerzen im Knie und im Rücken verursacht. Seit Tagen hat er seine Wohnung nicht mehr verlassen. Der „freund der fröhlichkeit“, der Freund der Frauen, einer, „dem es die Poetik zwar angetan hat, mehr aber noch ein fescher Hintern“, der liebenswerte Strawanzer – in dessen Leben es immer wieder Räusche und Raufereien gegeben hat.
Ein Mann, der früher mit Grandezza als „Artmann Quirin Kuhlmann“, „Metro Goldwyn Artmann“ oder „Artmann of Arabia“ auftrat. Seine Identität und Herkunft verschleierte er gerne spielerisch, sein autobiografisches Verwirrspiel ist auch Teil seines Werkes. H. C. hat viele verschiedene Existenzen und Gesichter, Bärte und Brillen – mit Fenstergläsern.
Er wollte nicht nur ein Leben leben, er pendelte ständig zwischen Dichtung und Wahrheit, nannte sich selbst einen „Schwindler aus Überschwang“. Das fiktive Waldviertler Bauernnest St. Achatz am Walde – die Heimat des „Lyrikers Casimir Achatzhäußer“ – wurde statt der realen Wiener Vorstadt, dem nicht allzu spektakulären 14. Hieb, als Geburtsort angegeben. Dort, wo nur vier Klassen Volks- und vier Klassen Hauptschule reichten, um einer der bedeutendsten Dichter des 20. Jahrhunderts zu werden.
Am liebsten präsentierte sich der Bonvivant aus Breitensee als direkter Nachfahre des Grafen Dracula, als Frankenstein, Sindbad oder Detektiv Tom Parker, als „H. C. artmann, den man auch john adderley bancroft alias lord lister alias david blennerhasset alias martimer grizzleymodld de vere &c. &c.“ nennen kann.
Ein Mensch, der sich und sein Leben nie zu ernst nahm. Einer, der „a gesagt, b gemacht, c gedacht, d geworden“ war. Ein Schriftsteller, der die Sprache liebte – ein, wie er selbst sagte, „Kuppler und Zuhälter von Worten, der das Bett bietet“. Ein Einzelgänger, der zwischen Splendid Isolation und ausschweifendem, barockem Spiel pendelte. Er lebte in einer Mischung „aus hemmungsloser Euphorie und ganz stiller Traurigkeit“. Angetrieben von zügelloser Neugier und grenzenloser Fantasie ließ er die Realität oft hinter sich.
Ein rastlos Reisender, der „auf einem großen grünen Walfisch nach der Sandwich-Insel reiten will“. Im Windschatten der Poesie sieht er sich als „Husar mit Schnauzbart“, „surrealer Grenzgänger“, „vazierender Vorstadtpoet“, „chinesischer Hofdichter“ oder „empfindsamer Lauscher an Nachtigallenschnäbeln“.
Doch seit Monaten ist er körperlich