H. C. Artmann - Bohemien und Bürgerschreck. Michael Horowitz
1921 kommt Hans Carl Artmann in der Wiener Vorstadt, im 14. Hieb, in Penzing, in Breitensee, zur Welt. In der Kienmayergasse 43. Auf Tür Nummer 8 im ersten Stock. Er wächst in einem schmalen Kabinett mit Fenster auf die Gasse auf: „meine kinderstube war zwar bescheiden ich bin bei erdäpfelsuppe und zwetschkenknödel aufgewachsen allein ich habe immer danach getrachtet ein mensch zu bleiben der nirgends aneckt …“
Der Vater ist weder „Handlungsreisender“ noch „Seemann“ – wie sich das der Sohn wünscht. Jahrzehnte später beschreibt er in den Gedichten „von der wollust des dichtens in worte gefasst“ immer wieder die Sehnsucht nach Abenteuern in weit entfernten, exotischen Ländern. Mit dem Vater gibt es schon früh außergewöhnliche Erlebnisse. Vor der Haustür in Breitensee: „vis-à-vis vom hubenyschuster, wo zu fronleichnam der erste altar steht.“ Oder „beim Österreicher oben“, wo sich in dem alten Haus ein „gefährlicher geheimgang“ befindet. Mit einem Loch, „das geht hundert meter in die erde hinunter und wasser ist auch drin. der letzte rest vom breiten see, sagt mein papa …“
1946, im Alter von 49 Jahren, stirbt Vater Johann Artmann. Im Ersten Weltkrieg granatverschüttet, sind seine Hände erfroren. Trotzdem stellt der Schuster Johann Artmann sogar Schischuhe her. Mutter Marie glaubt schon während der Schwangerschaft zu wissen, dass „mein Kind ein Dichter wird“. Und Artmann sagt später, dass er vieles von ihr habe, „… alle Wehwehchen, alles Witzige, das Treuherzige, auch das Nicht-Warten-Können, die Angst, dass etwas passiert, und das Poetische.“
Die enge Beziehung zur Mutter und geliebten Großmutter bleibt erhalten. Trotz der Schwierigkeiten mit der Welt der Erwachsenen – zwischen Breitenseer Bassena-Tratsch und tristem, aber stets sauberem Alltag. Mama Marie kocht sehr gut. „Linsen mit Knödln und am Sonntag Schweinsbraten … das hat sein müssen. Wie der Guglhupf zum Geburtstag.“
Oder es gibt Erdäpfelgulasch. Das „einzige original spezialerdäpfelgulasch der Familie Artmann. Es besteht aus drei grundelementen, zwei gewürzen und reinem wasser. Ich berechne die nötigen mengen für zwei mittlere esser:
1 kg speckige erdäpfel
30 dkg zwiebel
10 dkg würfelig geschnittenen bauchfilz
1 gehäuften eßlöffel paprika
(edelsüß und scharf zu gleichen teilen gemischt)
1 gehäuften teelöffel salz
heißes wasser
Man stelle nun zu beginn keinerlei yogaübungen an, allerdings sei man tadellos rasiert, der schnurrbart sei dem anlaß entsprechend gepflegt, man gehe noch einige minuten in den garten, betrachte das rosenrondell, erbaue sich kurz an den narzissen und schwertlilien, mache eine besinnliche runde um den teich, entwerfe tief durchatmend ein kleines gedicht. Darauf begebe man sich heiter lächelnd in die tadellos aufgeräumte küche, binde eine saubere weiße schürze vor, reinige nochmals fingernägel und hände, trockne diese mit einem vorgewärmten frottétuch, zünde die gasflamme an (kein elektroherd!), setze eine gußeiserne casserolle auf das feuer, lasse in dieser den würfelig geschnittenen bauchfilz aus. Inzwischen hat man die zwiebel feinnudelig geschnitten, füge sie bei und lasse sie in heißem fett schön goldbraun rösten. Ist man so weit, stelle man die gestaubten erdäpfelwürfel (ca. einen zoll im quadrat) dazu, rühre alles einige male um, stelle die casserolle wieder auf das feuer und warte, nach gelegentlichem umrühren, bis die erdäpfel gut blanchiert sind. Sodann nehme man die casserolle abermals vom feuer und überstreue alles mit dem paprika, rühre wieder um und gieße schließlich heißes, aber nicht kochendes wasser gerade soviel auf, dass die erdäpfel leicht bedeckt sind. Nun salze man nach geschmack und lasse das ganze zugedeckt bei kleiner flamme köcheln. Sind die erdäpfel gar, ist das gulasch praktisch fertig und kann serviert werden (suppenteller!). Wohlhabenderen leuten ist es erlaubt, dem erdäpfelgulasch noch einen schuß madeirawein beizufügen, für damen empfiehlt sich ein eßlöffel süßsaurer rahm (süßrahm mit einem spritzer limonensaft), der bei tische mit einer gabel in der gereichten portion verrührt wird. Dazu ißt man, wenn vorrätig, einige schnitten frisches kümmelbrot.“
MELODIE DER PERIPHERIE
Chinesen, Dämonen, Vampire und die Riesenwirtin
Während der 1920er-Jahre war Breitensee vor allem bescheidener Lebensraum für Arbeitslose, Handwerker und Holzfäller. Die Lebens- und Wohnverhältnisse waren äußerst bescheiden, oft wohnten auf kleinstem Raum mehr als zehn Personen. Die Betten wurden nie kalt, weil man sie tagsüber an in der Nacht arbeitende Bettgeher vermietete. Zwischen 1919 und 1921 wurden in den Baracken des ehemaligen „Kriegsspitals“ in der Linzer Straße Notunterkünfte für Obdachlose errichtet. Unmittelbar nach Ende des Ersten Weltkrieges entstanden am Wiener Stadtrand, in der Lobau und am Rande des Wienerwalds ohne Rücksicht auf Bauvorschriften „wilde Siedlungen“ – Kleingärten-Anlagen. Mit primitiven Hütten aus Holz und Lehm, die Kriegsopfern und heimgekehrten Soldaten als ganzjährige Unterkunft dienten.
Im „Siedlungsamt“, mit dessen fachlicher Leitung 1920 Adolf Loos beauftragt wurde, versuchte man die ungesetzlichen Bauten des „Roten Wien“ in geregelte Bahnen zu lenken. Loos entwickelte in Hietzing die Kriegsopfersiedlung „Friedensstadt“ zwischen Hermesstraße und Hörndlwald, und auch in Breitensee entstanden unter der Aufsicht des Architekten Kleingärten-Kolonien.
Die „Schrebergärten“ wurden in doppeltem Sinn wichtig: „Einschränkungen der Lebensmittelnot und Entspannung der überreizten Nerven …“ Die Notunterkünfte nach dem Krieg für Menschen, denen dadurch das Überleben garantiert wurde, entwickelten sich später zu grünen Paradiesen der Peripherie.
Wie das des pensionierten Straßenbahners aus der Leopoldstadt, der, unweit des Geburtsortes von H. C. Artmann in der Kienmayergasse, einen kleinen Schrebergarten hatte und eines Tages – zwischen dem „Flüstern sommerlicher Lieder von Amseln und Drosseln im Apfelbaum“ und dem ersten Schluck des selbst angesetzten Weichselschnapses das Opfer von Einbrechern wurde. Der ehrenwerte Oberrevisor a. D. Leopold Flötzlberger, der „niemals einen Feind außer dem Durst hatte, keinem Spionagering angehörte, nicht gedichtet, nicht gemalt hat und auch nicht tätowiert war“, wurde überfallen.
Vermutlich kannte Herr Leopold, der pensionierte Straßenbahner mit der stets trockenen Kehle, all die Wirtshäuser von Breitensee und Umgebung. Das „Ameisbach-Stüberl“, Stammlokal des Hutfabrikanen Johann Feil, der als Bürgermeister von Breitensee seinen Sprechtag gerne hierher verlegte. Denn hier gab es den „besten Grammelstrudl vom ganzen 14. Hieb. Die Zutaten: „30 Grammeln, 40 dkg Mehl, 10 dkg Zucker, etwas Milch oder Schlagobers, 2 Dotter, Vanille, Backpulver, Rum, Zitrone + Schale.“
Oder das „Baumgartner Casino“ und das „Hütteldorfer Brauhaus“, „die „Bauernalm“ und der „Ochsenkopf“. Eines der legendärsten Gasthäuser musste dem Bau der Breitenseer Kirche weichen: „Die Riesin“. Laut „Extrablatt“ vom 7. 10. 1895 wurde es nach einer Wirtin aus der Biedermeier-Zeit „von ganz außerordentlicher Größe und von einem seltenen Umfang“ benannt. Hier wurden als Beilage zum G’selchten und Bruckfleisch Knödel in der Größe eines Kindskopfs serviert.
„Die Riesin“-Wirtin mit ihren Knödeln kannte man in ganz Wien, aus allen Bezirken strömten Hungrige nach Breitensee. Und in den Gstanzln der Volkssänger lebten die Riesin und ihre Knödel weiter:
Ein Hoch der Riesenwirtin,
die immer freundlich lacht
und die besten, schönsten,
größten Knödl macht!
Einer der durstigsten Sänger des Bezirks war sicherlich „der alte Bräuchl“, als Gang- und Hofsänger höchst erfolgreich: „Seine Kinder konnten Handelsschulen besuchen, seine Frau, der er treu und herzhaft zugetan war, geht seit eh und je adrett und nett in den Konsum einkaufen, per Hut sozusagen“, berichtet H. C. Artmann. „Seit aber Bräuchl an seinem Sechziger etwas über den Durst getrunken hatte und am nächsten Morgen mit einem Kontrabass erwacht war, ging es mehr und mehr bergab: Der arme Mensch! A Stimmerl wie a Wimmerl!“
1964