Arbeits- und Organisationspsychologie. Annette Kluge

Arbeits- und Organisationspsychologie - Annette Kluge


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der Lean Production (image Kap. 1.3.1) konnte sich auch in Deutschland zumindest die teil-autonome Gruppenarbeit durchsetzen.

      Sozio-technische Systemtheorie heute: Organisationen als sozio-digitale Systeme

      In modernen Industrienationen finden wir heute fast keinen Kohlebergbau wie in den Jahren der Entstehung der sozio-technischen Systemtheorie mehr. Die Mitarbeiter/innen in Organisationen haben aus einer technischen Perspektive vor allem mit Computertechnologie zu tun, mit deren Hilfe Kundenbestellungen aufgenommen werden, Produkte in die Produktion eingestellt werden, die Auslieferung oder Versendung der Kundenbestellung überwacht oder Beschwerden von Kunden/innen entgegengenommen werden. Amazon, Zalando und andere online-Verkaufsportale (e-business) sind Beispiele für sozio-digitale Systeme. Selbst wenn Sie heute in ein Restaurant, ein Café, eine Eisdiele oder ein Bar gehen, werden die Bestellungen oft mit Handheld-Geräten aufgenommen und gleich in die Küche oder den Barbereich weiter gemeldet.

      In den letzten Jahren haben Organisationen sich in derartige sozio-digitale Systeme entwickelt, auch wenn sie kein Online-Händler für Privatkunden sind. Auch wer Baumaterial an Baumärkte liefert (also im Business-to-Business-Geschäft) oder in einer Boutique oder einem Elektronikfachmarkt Endkunden mit neuer Ware bedient, bildet zumeist ein sozio-digitales System. Ein von Ihnen gewünschtes Produkt ist nicht da? Dann lassen Sie den Verkaufsberater in seinen Rechner schauen, um festzustellen, wo die Ware ggf. noch vorhanden ist.

      In sozio-digitale Firmen werden fast alle bedeutsamen Geschäftsbeziehungen zu den Kunden/innen, Zulieferern und Mitarbeiter/innen digital ermöglicht oder vermittelt. Die organisationalen Kernprozesse werden durch digitale Netzwerke, die sich durch die gesamte Organisation spannen oder mehrere Organisationen verbinden, ermöglicht. In sozio-digitalen Systemen werden die Kernprozesse durch den digital gesteuerten Materialfluss, und den Fluss von Informationen und Wissen unterstützt oder erst möglich.

      Diese sozio-digitalen Systeme werden vor allem durch Management-Informationssysteme (MIS) möglich, oder, wie weiter unten beschrieben, durch cyber-physische Systeme. Informationstechnologien beinhalten die Soft- und Hardware einer Organisation, um die organisationalen Ziele zu erreichen (Laudon & Laudon, 2016). Sie gelten als komplexer als Informationstechnologie. Sie sind eine Kombination von vernetzten Komponenten, die Informationen sammeln, verarbeiten, speichern oder auch verteilen, um Entscheidungen und Steuerung in Organisationen zu ermöglichen. Für den Unterschied zwischen Informationen und Daten siehe Kluge (1999).

      Laudon und Laudon (2016) weisen darauf hin, dass auch digitale Organisationen sozio-technische Systeme sind und betonen, wie wichtig es auch hier ist, die Interaktion von Mensch und Informationstechnologie und -system ganzheitlich zu betrachten. So kann es manchmal nötig werden, ein technisch optimiertes System zu de-optimieren, um es für die Mitarbeiter/innen nutzbar zu machen. Digitale Anwendungen müssen an die Bedürfnisse der Mitarbeiter/innen angepasst werden.

      Des Weiteren zeigten Arbeiten aus dem Bereich der Management-Informationssysteme ein »productivity paradox« (Dehning, Dow & Stratopoulos, 2003; Karr-Wisniewski & Lu, 2010), nämlich dass ein »Mehr« an Informationstechnologie zu keiner Zunahme der Produktivität führt, sondern sogar zu einer Abnahme (Klausegger et al., 2007). Denn es besteht die Gefahr eines Information Overload. Ähnlich den Beobachtungen von Trist (siehe vorne), dass neue Maschinen im Bergbau die Produktivität nicht erhöhten, kommt es auch bei MIS darauf an, die Menschen in die Gestaltung von technischen Lösungen einzubeziehen.

      Das Thema ist demnach auch hier die »joint optimization« (Trist, 1981). Denn das soziale und das technische System sind auch in sozio-digitalen Unternehmen substantielle Faktoren. Ökonomische Leistung und Arbeitszufriedenheit sind auch hier die Ergebnisfaktoren, die je nach der Güte der Passung zwischen sozialem und technischem System variieren (Trist, 1981).

      Zu den MIS gehören auch die sog. Enterprise Resource Planning Systems (ERP-Systeme), die Geschäftsprozesse der Fertigung/Produktion, der Finanzabteilung und Abrechnung, von Vertrieb und Marketing und Human Resource Management miteinander vernetzten und die in allen diesen Bereichen anfallenden Daten in einer Form und gemeinsam speichern, sodass diese von verschiedenen Bereichen eingesehen und genutzt werden können (Laudon & Laudon, 2016). ERP -gelten als integrierte Reihe von Programmen, die die Kernprozesse einer Organisation unterstützen (Aladwani, 2001).

      So können Daten über den Verbrauch von Ersatzteilen in der Instandhaltung für die Warenbestellung beim Einkauf genutzt werden. Die Produktion erhält ihre Daten direkt vom Verkauf. Die Wichtigkeit von Informationen und deren technischer Bereitstellung zeigt sich in modernen Organisationen auch darin, dass die Funktion eines Chief Information Officer (CIO) eingerichtet wird, der für das Funktionieren des sozio-digitalen organisationalen Systems verantwortlich ist.

      Durch die Nutzung von Informationssystemen verändern sich die Transaktionskosten (image Kap. 1.2.2) und auch die Struktur von Organisationen, welche üblicherweise flacher werden (Laudon & Laudon, 2016).

      In Abbildung 1.10 wird deutlich, welche MIS die Kernprozesse (Primäraktivitäten) und auch die Unterstützungsprozesse (Unterstützungsaktivitäten) eine Organisation unterstützen. Im Kapitel zu cyber-physischen Systemen (s. u.) wird dargestellt werden, wie man sich das Zusammenspiel dieser Informationstechnologien im Fertigungsbereich zukünftig vorstellen kann.

      Organisationen als soziale Systeme

      Wie oben in der »offene Systeme-Theorie« beschrieben, sind Organisationen energetische offene Systeme (Katz & Kahn, 1966). Sie nutzen Energie als Input (Energie kann dabei Material, menschliche Arbeitskraft, Informationen, Werkzeuge, Elektrizität oder Öl, Geld u. v. m. sein), transformieren diese Energie im System (Throuput) und erzeugen dadurch ein Produkt oder einen energetische Output.

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      Abb. 1.10: Informationssysteme in modernen Organisationen (nach Laudon & Laudon, 2016)

      Nach der Theorie der sozialen Systeme, die auch in Organisationen vorliegen, beinhalten alle sozialen Systeme musterartig wiederkehrende Aktivitäten einer Anzahl von Individuen (ihrer Mitglieder) für diese Transformationsprozesse. In einem fertigenden Unternehmen sind die Ausgangsmaterialien und die menschliche Arbeitskraft der Input, die musterartig wiederkehrenden Aktivitäten die »Produktionsprozesse« und das fertige Produkt der Output (Katz & Kahn, 1966).

      Die Arbeiten von Katz und Kahn entstanden im Umfeld der Arbeiten von Likert. Katz und Kahn versuchten jedoch, organisationale Prozesse nicht durch individual-psychologische Theorien zu erklären, sondern verlagerten ihre Aufmerksamkeit auf systembezogene Konstrukte (Katz & Kahn, 1966). Sie waren der Meinung, dass interdependentes Verhalten von Personen in Organisationen sich nur auf einer angemessenen und kollektiven Ebene beschreiben und verstehen lässt.

      An den bis dato vorherrschenden klassischen Sichtweisen auf Organisationen kritisierten sie deren geschlossenen Systemcharakter, dass Individuen darin wie in einem soziale Vakuum betrachtet würden, und sahen in der offenen Systemperspektive ein dynamischeres und angemesseneres Rahmenwerk, um Verhalten in und von Organisationen zu erklären (Katz & Kahn, 1966).

      Alle offenen Systeme haben Folgendes gemeinsam (Katz & Kahn, 1966):

      1. einen Import von Energie, d. h. jedes offene System muss Energie aus der externen Umgebung aufnehmen.

      2. einen »Throughput«, d. h. offene Systeme transformieren die ihnen zur Verfügung stehenden Energien.

      3. einen Output, d. h. offene Systeme geben eine Form von Produkten in die Umgebung ab.

      4. Kreisläufe von Ereignissen, d. h. die musterartigen Aktivitäten des Austauschs von Energie haben einen kreislaufförmigen Charakter. Das Produkt, welches die Organisation an die Umwelt abgibt, ist die Energiequelle der sich wiederholenden Kreisläufe der Aktivitäten.


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