Todesrunen. Corina C. Klengel

Todesrunen - Corina C. Klengel


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Hand starrte Tilla aus dem seitlichen Wohnzimmerfenster. Dann spurtete sie los, stürmte durch die Haustür den unbefestigten Schotterweg hinab, bis sie die Straße sehen konnte. Borderfeld hatte eindeutig von einem Handy aus telefoniert. Sie war sich sicher, hinter seiner Stimme und seinen Schritten das Geräusch eines anfahrenden Busses gehört zu haben. Die Straße machte einen Bogen. Tilla unterdrückte ihren keuchenden Atem für einen Moment und horchte. Sie war sich sicher, den Bus noch zu hören, der nun nach Stapelburg fuhr. Unsicher blickte sie sich um. Borderfeld sah sie nicht.

      Nachdenklich kehrte sie zurück ins Haus und an ihren Schreibtisch. Sie war sicher, er war in der Nähe und beobachtete sie. Sie blickte unwohl aus dem Fenster hinaus zum Wald. Er war winterlich kahl, Borderfeld könnte sie vom Weg aus sehen.

      Das Päckchen mit den neuen Texten hatte bereits am vorangegangenen Abend unter dem Postschlitz in ihrem Flur gelegen. Tilla zog sich den Abfallkorb heran und fischte die braune Packtasche heraus. Stirnrunzelnd registrierte sie, dass auch dieses Mal Briefmarke oder Stempel fehlten. Abgesehen von ihrer eigenen Adresse erstrahlte die Versandtasche in leerem, jungfräulichem Lehmbraun. Von einer Postzustellung schien er nichts zu halten. Er musste es persönlich durch ihren Briefschlitz geschoben haben. Wieder einmal wurde ihr unangenehm bewusst, dass sie absolut gar nichts von ihm wusste. Auf der Suche nach einem Hinweis glitt Tillas Blick über die akkuraten, handgeschriebenen Druckbuchstaben auf der Versandtasche. Alle waren exakt gleich groß und in gleichem Winkel. Selbst die Schrift dieses Mannes war so undurchsichtig und individualitätslos wie er selbst. Ungehalten knüllte sie den Umschlag zusammen und warf ihn zurück in den Papierkorb.

      Ohne sein Geld hätte Tilla nicht einmal dieses Haus unterhalten können, dessen Bausubstanz völlig frei von Extravaganzen wie Wärmedämmung und dergleichen war. Von den Führungen allein konnte sie nicht leben. Tilla starrte leer auf ihr Skript. Sie war es ihrer Mutter schuldig, wenigstens das Haus zu erhalten. Ein weiteres Scheitern konnte sie sich nicht erlauben. Es war niemand mehr da, der sie auffing.

      »Er zahlt gut. Das sollte reichen! Dafür kann er auch gern vor meiner Tür campieren!«, beschimpfte sie sich selbst und beschwor einem Mantra gleich ihre neue, distinguierte Persönlichkeit einer erfolgreichen Freiberuflerin herauf. Gehörte nicht dazu, dass sie sich einfach endlich mal daran gewöhnen musste, zu tun, was man ihr sagte? War das nicht immer so in der Arbeitswelt? Unwillig schob sie den Stapel von Texten zur Seite und zog sich stattdessen den aktuell zu übersetzenden Text heran. Sie hatte heute die erste Führung im Rammelsbergmuseum und musste gleich los. Bis dahin wollte sie mit einem ersten groben Durchgang fertig sein, bevor der Text am Abend den Feinschliff erhielt.

      Als sie eine Stunde später in ihren Wagen stieg und das Autoradio anstellte, folgte ihr Geist zunächst zögernd, dann jedoch immer entsetzter den Worten des Radiomoderators, der von einem übel zugerichteten Toten berichtete, den man am Klusfelsen in Goslar gefunden hatte.

      »Heilige Göttin! Auch noch am Klusfelsen«, murmelte sie. »Man könnte meinen, dass Odin und seine wüsten Gesellen die Raunächte eröffnet haben.«

      Nachdenklich bog Tilla vor dem breiten Tor ab. Nur langsam kehrten ihre Gedanken zu dem zurück, was vor ihr lag. Das Bergwerk hatte einige weihnachtliche Events auf dem Programm, bei denen Tilla eingeplant war. Eigentlich war sie recht zufrieden mit ihrem Leben. Eigentlich …

      Kapitel 16

      Während Tilla gerade vor dem breiten Tor abbog, trat Andreas Kamenz nur rund dreihundert Meter entfernt auf seinen Chef Gerd Wegener zu, der den Abtransport der Leiche in einem schmucklosen Zinksarg mit einer Mischung aus Abscheu und Nachdenklichkeit verfolgte. Vorsichtig tasteten sich die Sargträger über die Brücke aus feuchtem Holz, die den ursprünglichen Aufgang zur Kluskapelle überspannte.

      Kriminalhauptkommissar Gerd Wegener stand schon seit einer Weile völlig bewegungslos am Stamm der Linde und ließ den Tatort auf sich wirken. Andreas Kamenz wusste, dass dies für seinen Vorgesetzten normal war. Ihm selbst zog die feuchte Kälte derart durch Kleidung und Schuhe, dass er erbärmlich fror. Um dem entgegenzuwirken, trabte er geschäftig hin und her, doch die Kälte machte sich auch in seinem Inneren breit. Ein Opfer wie dieses hatte er noch nicht gesehen. Die Haut war entsetzlich fahl und weiß gewesen. »Völlig ausgeblutet«, hatte die Rechtsmedizinerin, Dr. Hannah Giresch, erklärt.

      Eine hochgewachsene Gestalt strebte mit forschen Schritten über den Weg aus feinem Splitt auf das rot-weiß gestreifte Absperrband zu, das einer der uniformierten Kollegen hilfsbereit hochhielt. Staatsanwalt Dr. Jan Berking steuerte auf Wegener zu. Die Männer begrüßten sich mit einem kaum wahrnehmbaren Nicken. Sodann erwartete der Staatsanwalt wortlos einen Bericht. Andreas Kamenz war von dem Gebaren derart fasziniert, dass er kaum merkte, dass man ihn erwartungsvoll ansah.

      »Viel haben wir noch nicht«, half ihm Wegener auf die Sprünge, den das unterkühlte Auftreten des jungen Staatsanwaltes nicht zu stören schien.

      Andreas Kamenz beeilte sich zu referieren: »Harald Schakenbeck, fünfundfünfzig Jahre alt, arbeitete im Sozialamt. Nach dem ersten Eindruck der Rechtsmedizinerin ist er mit einer ziemlich breiten, beidseitig geschliffenen Klinge erstochen worden und verblutet. Vorher scheint man ihm arg zugesetzt zu haben. Er ist mit Hämatomen übersäht. Dr. Giresch vermutet, dass er um Mitternacht herum starb.«

      Während des Berichtes nahm Berking die archaische Örtlichkeit in sich auf, bis sein Blick an der Kapelle hängenblieb. Man hatte an dieser Stelle vor langer Zeit eine Höhlung in den Stein getrieben. Der Klusfelsen stellte nicht nur für Christen ein Heiligtum dar. Zahlreiche Symbole, die man überall in den weichen Hilssandstein geritzt hatte, zeugten von seiner Bedeutung als Kultstätte für diverse Glaubensgruppen. Nachdenklich betrachtete Berking die matschige Wiesenfläche unterhalb ihres Standortes. In den letzten Tagen hatten Schnee und Regen permanent um die Vorherrschaft gekämpft. Dann umrundete er die Stelle, an der die Leiche gelegen hatte.

      »Hier oben auf diesem Steinplateau wird man wohl kaum Fußspuren sichern können«, stellte er verdrossen fest.

      »Nein. Und wenn, dann wäre eine Zuordnung wegen der zahlreichen Besucher und Spaziergänger nicht möglich«, antwortete Gerd Wegener.

      Berkings Blick streifte die Häuser, die nur von einer schmalen Baumreihe getrennt den Klusfelsen umgaben. Für einen Augenblick erschien eine Falte des Unmuts über seiner Nase. »Und es hat niemand etwas gehört?«

      »Die Kollegen sind noch damit beschäftigt, sich bei den Anliegern durchzufragen. Eine ältere Anwohnerin will ein Auto gehört haben, das wohl dort unten über den Fußweg gefahren ist. Aber gesehen hat sie nichts.«

      »Reifenspuren?«

      Als Antwort wies Wegener auf eine Gruppe von Tatorttechnikern, die sich bemühten, einen Gipsabdruck von einem Stückchen Matsch neben dem Spazierweg zu nehmen.

      »Wer hat den Toten gefunden?«, fragte Berking schroff.

      »Eine Spaziergängerin, die mit ihrem Hund unterwegs war. Sie wohnt dort hinten, aber sie hat in der Nacht ebenfalls nichts bemerkt«, warf Kamenz ein, der sich zunehmend über den Ton des Staatsanwaltes ärgerte.

      »Man sagte mir, das Opfer sei auf dem Bauch liegend mit ausgebreiteten Armen aufgefunden worden?«, fragte der Staatsanwalt nach.

      Nun ahnte Kamenz, warum Dr. Berking, der für schwere Delikte und organisiertes Verbrechen zuständig war, so schnell von seinem Wirkungsort Braunschweig ins beschauliche Goslar gekommen war.

      »Ja«, antwortete Wegener. »Das Ganze sieht tatsächlich ein wenig wie eine rituelle Hinrichtung aus. Aber wir sollten keine voreiligen Schlüsse ziehen.«

      Berking ging nicht auf Wegeners Einwand ein. »Ist ein bedeutsamer Platz, nicht wahr?«

      Andreas Kamenz war wie elektrisiert. »Eine rituelle Hinrichtung? Sind Sie deshalb hier?«

      Berking ließ sich Zeit mit seiner Antwort, die Kamenz und Wegner dann nicht wenig erstaunte. »Offen gesagt, ich weiß es nicht. Ich bin eigentlich nur zufällig hier.« Er blickte etwas unschlüssig über den alten,


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