Träume von Freiheit - Ferner Horizont. Silke Böschen

Träume von Freiheit - Ferner Horizont - Silke Böschen


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natürlich. Das hätte ich beinahe vergessen. Meine Frau ist für ihre gute Laune bekannt. Es gibt kein Fest, kein Dinner, an dem sie nicht alle anderen mit ihrer Fröhlichkeit ansteckt …« Sein Ton war bissig.

      »Ich weiß nicht, was diese Bemerkung soll. Hättest du lieber jemanden an deiner Seite, der melancholisch ist?«

      »Nein, sicher nicht. Aber weißt du, Florence, es kommt darauf an, die Haltung zu bewahren. Auch wenn man bester Dinge ist«, dozierte er und schenkte sich selbst ein Glas weißen Burgunder ein. »Ich vermute, du möchtest heute keinen Wein, oder? Dr. Zumpe hat mir mitgeteilt, dass du etwas unpässlich bist.«

      Florence sah ihn überrascht an. Henri nahm einen tiefen Schluck und atmete aus. »Da staunst du, was ich alles weiß! Ich sehe es an deinem hübschen Gesicht. Das kleine Frauchen begreift gar nicht, was um sie herum passiert.« Er schüttelte mit gespielter Verzweiflung den Kopf.

      »Henri, bitte! Ja, es stimmt, Dr. Zumpe war hier. Ich dachte zuerst, er wollte zu dir, aber nein, angeblich hättest du ihn geschickt. Dabei habe ich doch gar nichts. Gut, ab und zu die Kopfschmerzen. Aber wahrscheinlich hast du recht, und ich sollte tatsächlich weniger Zigaretten rauchen.« Sie war fest entschlossen, diesen Abend überlegt und gemessen zu gestalten. Sie musste in Ruhe mit Henri sprechen – über die ungeheuerlichen Vorwürfe und Ideen seiner Mutter.

      »Ich verrate es dir, Florence. Dr. Zumpe hat mir eine Nachricht zukommen lassen. Er macht sich Sorgen. Und ich auch.«

      Florence berührte vorsichtig seine Hand, die neben dem Weinglas lag. Henri zuckte zusammen. »Beinahe hätte ich das Glas umgeworfen!«

      »Aber ich bin doch deine Ehefrau, Henri!«

      Er nickte fahrig. Dann läutete er nach dem Personal. Das Abendessen wurde aufgetragen.

      Florence rang sich durch, wenigstens ein paar Bissen zu essen. Henri beäugte das Stochern auf dem Teller argwöhnisch.

      »Da liegt der Doktor schon richtig, wenn du nicht einmal mehr essen magst.«

      Florence tupfte sich den Mund ab. »Womit liegt er richtig?«

      »Mit seiner Diagnose. Deine Launenhaftigkeit, deine Abgeschlagenheit, die dauernden Kopfschmerzen. Und zwischendurch rührst du nicht einmal das Essen an. Dr. Zumpe meint, dass du an einer Mischung aus Hysterie und Melancholie leidest.«

      »Henri, ich bin gesund. Es ist etwas anderes. Ich traf vorhin deine Mutter. Unten auf der Mosczinskystraße, an der Ecke Christianstraße. Ich weiß gar nicht mehr, was der Auslöser war, aber wir gerieten in einen Streit. Und …« Florence schluckte. »Deine Mutter behauptete auch, dass ich krank sei. So …« Sie tippte sich an ihren Kopf. »Also, ihrer Meinung nach gehöre ich in eine Irrenanstalt. Stell dir das einmal vor! Und es ging noch weiter. Du wärst angeblich auch dafür.«

      Jetzt war es heraus. Sie sah ihren Mann an. Henri leerte sein Weinglas und drehte es am Stiel. Er schwieg.

      »Hörst du, Henri, in eine Anstalt! Das hat sie gesagt. Und angeblich findest du auch, dass ich dorthin gehöre.«

      Auf einmal klang ihre Stimme ängstlich. Fast wie die eines Kindes. Henri spürte ihre Furcht. Sah plötzlich wieder die ganz junge Florence vor sich. Damals beim Maskenball im Hotel de Saxe. Als sie zurückkehrten aus dem dunklen Korridor und sich wieder unter die anderen Gäste mischten. Ein Hauch von Scham stieg in ihm auf. Schnell verscheuchte er die Erinnerung. Es war ihre eigene Schuld, ganz allein. Immer reizte sie ihn, reizte seine Mutter, ja, sie reizte alle möglichen Menschen, das hatte er schon häufiger gehört. Und dann kam dieses zitternde Stimmchen. Selbst schuld. Sollte sie doch aufhören. Sollte sie doch einmal Vernunft annehmen. Er war im Recht. Florence war hübsch anzuschauen, hübsch anzuhören, und man konnte mit ihr lachen, doch das alltägliche Leben war mit dieser Frau unmöglich. Eine schlechte Mutter, die die Kinder verweichlichte. Eine überforderte Hausfrau, die nie verstanden hatte, dass man sich mit Dienstboten nicht gemeinmachte, und als Ehefrau eine Zumutung. Wie sie andere Männer ansah, gurrte, kicherte, den Kopf schräg hielt. Die Wut war wieder da. Wie schwarze Tinte floss sie durch seine Adern, sein Herz.

      »Florence, ich stimme meiner Mutter zu!«, sagte er laut und sah sie endlich an. Sah die braunen Augen, in denen Tränen schimmerten. Sah den Kirschenmund, der offen stand. Sah, wie ihre Hand anfing zu zittern. Sie war ein Nervenbündel. Dr. Zumpe hatte es gesagt, so oder so ähnlich. Wie es eben ein Arzt sagt. Henri war kein Mediziner. Er war Bergbau-Ingenieur. In einem Stollen braucht man Ruhe und Besonnenheit. Sonst ist es lebensgefährlich, dachte er. Florence würde alle verrückt machen unter Tage. Sie war ja selbst verrückt. Er musste aufstoßen. Dieser neue weiße Burgunder war nichts für seinen empfindlichen Magen.

      Er hörte, wie sie die Luft durch die Nase ausstieß. »Henri, ich kann es nicht glauben! Hat dich deine Mutter so sehr gegen mich aufgehetzt? Hat sie es endlich geschafft, dass du mich wegstößt?« Sie schüttelte den Kopf und presste die Lippen zusammen. Das Schluchzen sollte nicht hinaus.

      »Meine Mutter hat dir so oft angeboten, dir zu helfen. Wie man einen Haushalt führt, wie man Kinder erzieht. Sie wollte dich unterstützen als eine de Meli. Aber nichts davon hast du angenommen!«

      »Wer geht denn jeden Sonntag nach der Kirche zu ihr? Jeden Sonntag sitzen wir bei deiner Mutter, und ich muss mir ihre Kritik anhören, was ich alles falsch mache.«

      Das Essen wurde abgeräumt. Henri stand auf und ging zum Büfett. In einem der verspiegelten Schrankfächer befand sich seine ansehnliche Sammlung von verschiedenen Sorten Magenbitter und anderen hochprozentigen Flüssigkeiten. Er goss sich einen Karlsbader Becherbitter ein.

      »Ich verstehe gar nicht, warum du dich so aufregst. Sieh es doch einmal so, du kommst in ein schönes Maison de Santé und kannst dich einmal wirklich erholen. Musst dich um nichts kümmern. Ohne Kinder. Ohne mich. Ich habe schon mit Dr. Zumpe gesprochen. Er riet mir zu einer Kur für Neurastheniker. Da gibt es wohl allerhand wirkungsvolle Maßnahmen. Und ganz in der Nähe. Wir kommen dich besuchen.«

      Florence hörte ihren eigenen Herzschlag. Es war eine abgemachte Sache. Sie hatten es hinter ihrem Rücken geplant. Dr. Zumpe war mit im Bunde. Ihr wurde schlecht.

      »Was ist mit dir? Du bist ja ganz weiß im Gesicht. Magst du auch einen Magenbitter?«

      Florence schüttelte den Kopf. Ihre Stimme bebte. »Ich kann nicht glauben, was du da sagst. In ein Maison de Santé? Was heißt das denn? Das ist doch nur ein schöner Name für eine Irrenanstalt!«

      »Florence, mäßige dich, bitte! Es ist doch nur zu deinem Besten.« Er tat so, als müsste er nachdenken.

      »Vergiss bitte nicht, wie du dich aufgeführt hast. Vergiss nicht die Episode mit dem Maler. Ich habe sie nicht vergessen!« Jetzt klang er drohend.

      Florence schüttelte den Kopf. »Immer kommst du mir mit dieser alten Kamelle! Du weißt so gut wie ich, dass alles ganz harmlos war. Ein junger Kunstmaler. Gerade erst von der Akademie. Na und? Er hat ein schönes Bild von mir gemalt, das musst du doch wohl zugeben. Ja, und wir haben uns gut verstanden, viel gelacht. Ich habe dir nichts verschwiegen. Wenn man stundenlang stillsitzen muss, ist es eine Erleichterung, sich zu rühren, und ja – auch einmal ausgelassen zu sein.«

      Henri stöhnte. »Und die Sache mit dem Konfetti? Wie konntest du es zulassen, dass dir so ein Malerbursche einfach Papier ins Haar streut? Auf dem Gemälde sehe ich kein Konfetti in deiner Frisur. Wer weiß, was noch alles passiert wäre, wenn nicht zufällig das Dienstmädchen hereingeplatzt wäre …«

      »Ja, und dir alles brühwarm berichtet hätte!« Florence verachtete ihn für seine Eifersucht. Und sie verachtete ihn dafür, dass er die Dienstboten bestach, damit sie ihn über alle Vorgänge in seinem Haus unterrichteten. »Du bist doch selbst krank. Krank vor Eifersucht! Und soll ich dir sagen, woran das liegt? Dafür braucht man keinen Dr. Zumpe, das sagt einem der gesunde Menschenverstand«, sie holte Luft. »Es liegt daran, dass du immer noch in den Fängen deiner Mutter bist. Schau dich doch an! Wie ein Schoßhündchen hängst du an ihr. Nichts kannst du allein entscheiden, immer hat sie das letzte Wort. Nur einmal, ein einziges Mal, hast du nicht das gemacht, was sie dir gesagt. Da hast du mich geheiratet. Und dafür


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