Träume von Freiheit - Ferner Horizont. Silke Böschen

Träume von Freiheit - Ferner Horizont - Silke Böschen


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Lorgnon unauffällig vor die Augen und tat so, als suche sie die Gegend nach jemandem ab. In Wirklichkeit starrte sie immer wieder zu den de Melis. So ein hoffnungsvoller junger Mann war er gewesen, die Witwe schüttelte missbilligend den Kopf. Und jetzt? Sein Gesicht sah aufgedunsen aus, überhaupt war er in letzter Zeit sehr rund geworden. Hatte gar nichts Vitales, nichts Zupackendes mehr. Und die Schulterpartie erst! Es war kein Schwung in dem Mann, das konnte jeder sehen. Es war, als würde seine Frau alle Kraft aus ihm herausziehen. Die Witwe grübelte über den Verfall und kam zu dem Schluss, dass jeder Mann eine Aufgabe benötigte. Henri de Meli hatte keine Aufgabe. Er musste nicht arbeiten. Selbst um das gewaltige Vermögen musste er sich nicht selbst kümmern. Kein Wunder, dass man da zum Alkohol greift, setzte die Witwe ihren inneren Monolog fort.

      Die Glocken begannen zu läuten. Langsam setzten sich die Menschen in Bewegung und suchten ihre Plätze in der Kirche. Florence hielt ihren Sohn Henry und die kleine Minnie an der Hand. Ihr Mann ging zwei Schritte vor ihnen gemeinsam mit seiner Mutter. Florence setzte sich zusammen mit den Kindern auf die Bank, auf der schon ihre Schwiegermutter und Henri Platz genommen hatten. Sie bekreuzigte sich.

      »Minnie, zappele bitte nicht so mit den Beinen. Wir sind hier in der Kirche«, ermahnte sie ihre kleine Tochter.

      Minnie stoppte das Schaukeln. »Dann setz ich mich zu Granny. Da darf ich schaukeln«, gab die Kleine zurück.

      »Nein, du bleibst, wo du bist«, zischte Florence.

      Und Minnie gehorchte beleidigt, bis sich die alte Frau de Meli einmischte: »Mein Schätzchen, nach der Kirche kommst du mit zu Granny. Da habe ich eine schöne Überraschung für mein kleines Mädchen!«

      Minnie strahlte.

      Florence zwang sich, ihre Schwiegermutter anzulächeln. Doch Antoinette de Meli würdigte Florence keines Blickes. Nervös suchte Florence die Hand ihres Sohnes. Ein zarter Druck, eine Vergewisserung. Der Junge lehnte sich noch enger an sie.

      Die ersten Töne der Orgel erklangen. Henri de Meli richtete sich auf und faltete die Hände über seinem Bauch. Er fühlte sich elend. Der viele Absinth gestern. Doch die Abläufe an einem Sonntag waren unumstößlich. Gottesdienst, danach gemeinsames Mittagessen mit der ganzen Familie bei seiner Mutter und anschließend ein Spaziergang entweder an der Elbe entlang oder durch den Großen Garten. Nur bei schlechtem Wetter blieben sie in der Wohnung von Antoinette in der Lüttichaustraße 16 und legten Patiencen oder spielten eine Runde Bridge. Dann wurde Kuchen serviert, und zum Abschluss musste Henry junior am Hammerklavier zeigen, was er in der vorangegangenen Klavierstunde gelernt hatte. Henri stöhnte leise. Wahrscheinlich würde der Junge sich wieder verspielen oder vor lauter Aufregung gleich zu weinen anfangen. Es war ein Kreuz mit diesem Kind. Er lugte zur Seite und betrachtete seinen Sohn, der sich an seine Mutter schmiegte. Von Anfang an hatte ihm dieser Junge den Platz an der Seite von Florence streitig gemacht und ihn fortgedrängt. Henri dachte an das zersprungene Lineal. Er spürte, wie der Zorn zurückkehrte.

      Florence’ Gedanken schweiften ab. Sie dachte an den Abend. Warum konnte nicht jeder Tag so wunderbar enden wie der gestrige? Mit Tanz, mit Musik, mit Lachen? Ach, um wie vieles leichter wäre doch das Dasein! Sie seufzte. Über ihren Sohn hinweg hörte sie ein tiefes, gleichmäßiges Atmen. Unauffällig blickte sie zur Seite. Henri war eingeschlafen. Sein Mund war halb geöffnet, der Kopf leicht zur Seite gefallen. Seine Mutter schien nichts zu bemerken. Florence griff über ihren Sohn hinweg an die Hüfte ihres Ehemannes und versetzte ihm einen kleinen Stoß. Henri schlug die Augen auf. Er lächelte ihr zu. Verschwörerisch. Sie zwinkerte zurück. Manchmal war das Gefühl wieder da, das Gefühl vom Anfang. Dann sah sie Henri an und war froh, dass er ihr Ehemann war. Er hatte seine guten Seiten. Henri streckte vorsichtig seine Hand nach ihr aus. Ihr Sohn saß zwischen ihnen. Sie drückte seine Hand und nahm den schwachen Alkoholgeruch wahr, den er noch immer ausströmte. Dann versuchte sie sich auf die Predigt zu konzentrieren, doch sie hatte längst den Faden verloren.

      Antoinette de Meli überlegte kurz, ob sie den Wein beim Essen heute einmal weglassen sollte. Henri zuliebe. Damit er gar nicht erst damit anfing, doch dann kam es ihr seltsam vor. Ein Mittagessen – zumal an einem Sonntag – und keinen guten Tropfen Riesling? Warum sollten alle darben, nur weil ihr Sohn sich nicht unter Kontrolle hatte? Selbstbeherrschung war leider nie seine Stärke gewesen, dachte sie enttäuscht und gab dem Diener mit einem Kopfnicken zu verstehen, die Gläser aufzufüllen. Florence nippte nur an ihrem Glas. Sie sah unauffällig zu Henri. Ihm schien der Wein gutzutun. Seine Züge entspannten sich.

      »So, mein Junge, probier einmal! Damit später ein echter Weinkenner aus dir wird.« Henri schob seinem Sohn das halbvolle Glas zu.

      Antoinette de Meli zog die Augenbraue hoch. »Meinst du wirklich, der Junge muss jetzt schon daran gewöhnt werden?«

      »Ja. In seinem Alter konnte ich schon den Unterschied zwischen einem Chardonnay und einem Rheinwein herausschmecken.«

      Das Kind sah fragend zu seiner Mutter. Florence seufzte. »Henri, vielleicht sollten wir alle an diesem Tag eher Wasser trinken als Wein. Es war spät gestern.«

      »Nein, nein. Lass nur! Prost, mein Junge!« Erwartungsvoll sah er zu seinem Sohn, der die Augen niederschlug und dem Wunsch seines Vaters entsprach. Nach wenigen Schlucken stellte er den Kelch wieder ab. Sein Gesicht färbte sich rot, er versuchte einen Hustenanfall zu unterdrücken. Schnell nahm Florence die Damast-Serviette und hielt sie schützend über seinen Mund. Der Junge keuchte und prustete.

      Sein Vater lachte. »So schlimm schmeckt dieser Tropfen nun wirklich nicht. In diesem Weinkeller werden nur gute Weine verwahrt, nicht wahr, Mutter?«

      Antoinette de Meli ignorierte ihn und schwieg. Florence antwortete an ihrer Stelle. »Henry ist noch ein Kind. Er verträgt keinen Alkohol.« Und leise fügte sie hinzu: »Sein Vater auch nicht.«

      Henri funkelte sie böse an. Die Wut war wieder da. Wie diese Frau ihn nur immer wieder provozierte!

      Florence drehte sich zu ihrer Schwiegermutter. »Wie geht es Mary? Ich habe sie seit bestimmt zehn Tagen nicht gesehen. Und heute ist sie leider auch nicht bei uns.«

      »Auch wenn man bei Tisch nicht über Krankheiten und Gebrechen spricht«, dieser Tadel musste sein, fand Antoinette, »kann ich dir sagen, dass sie sich auf dem Weg der Besserung befindet. Aber sie muss weiterhin das Bett hüten. Sie bedauert sehr, dass sie nicht hier bei uns sitzen kann«, antwortete sie spitz. »Am Freitag war Dr. Zumpe noch einmal bei ihr. Mit jedem Tag wird es besser, ich bin sehr erleichtert.«

      »Wie schön, dies zu hören!« Florence hatte die Kritik an ihrer Frage sofort verstanden und ärgerte sich über sich selbst, dass sie ihrer Schwiegermutter wieder Anlass für Kritteleien gegeben hatte. Aber sie vermisste das freundliche Gesicht ihrer Schwägerin in dieser Runde. »Gern würde ich sie in der nächsten Woche besuchen kommen, wenn es erlaubt ist«, fügte sie hinzu.

      »Wir sollten besser noch eine Woche warten, denke ich. Mary hat eine schwache Konstitution. Schon als Kind musste ich mich mehr um sie kümmern als um meinen Henri. Sie gleicht ihrer Großmutter väterlicherseits nicht nur äußerlich – auch, was das Zarte angeht«, antwortete Antoinette und erinnerte sich kurz an ihre eigene Schwiegermutter, die selten das Haus verlassen hatte und früh verstorben war. Vor drei Wochen erst war Mary 42 Jahre alt geworden. Sie würde nicht mehr heiraten. Es hatte sein Gutes, eine Tochter bei sich zu behalten. Sie könnte sich um mich kümmern, wenn ich alt bin, so hatte es sich Antoinette vorgestellt. Doch nun war es umgekehrt. Auch weitere Enkelkinder konnte sie nicht erwarten. Nicht von Mary. Ein Jammer.

      Antoinette tupfte sich die Lippen mit der Serviette ab. Gott machte es ihr nicht leicht. Der Ehemann – ein Tunichtgut, der jedem Rock nachgestiegen war. Die einzige Tochter – schwach und blass daheim. Der Sohn – gefangen in einer Mesalliance. Die Schwiegertochter eine Erbschleicherin mit unstetem Charakter. Nur die beiden Enkelkinder gaben ihr Anlass zur Freude. Besonders die kleine Minnie, benannt nach ihr. Antoinette de Meli. Ein entzückendes kleines Mädchen, zum Glück ganz anders als die flatterhafte Mutter. Antoinette betrachtete das Kind mit tiefer Zuneigung. Die dunklen Locken, die großen Augen – eine kleine Schönheit wuchs hier heran.

      Florence beobachtete ihre Schwiegermutter unauffällig. Sie wusste,


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