Träume von Freiheit - Ferner Horizont. Silke Böschen

Träume von Freiheit - Ferner Horizont - Silke Böschen


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Henry schlüpfte zu ihr.

      »Bei dir ist es immer so schön kuschelig.« Er schmiegte sich an seine Mutter. »Aber nichts Papa sagen, ja?« Seine Stimme klang ängstlich.

      »Natürlich nicht. Ich würde ja auch Ärger bekommen.« Florence drückte ihren Sohn an sich. »Mein großer Schatz, du! Wir halten zusammen. Aber in den Gottesdienst müssen wir trotzdem. Und später zum Mittagessen zu Großmutter Antoinette.«

      Sie spürte ein leichtes Pochen in den Schläfen. Sie sah auf die kleine verzierte Konsolenuhr auf dem Kamin. Es war kurz nach sieben. Wann waren sie nach Hause gekommen? Es war lange nach Mitternacht gewesen. Ein herrlicher Abend! Sie schloss die Augen und summte die Melodie von »Oh, Dem Golden Slippers« vor sich hin. Sie seufzte. Zum Glück war Henri zum Schluss so betrunken gewesen, dass er ihr keine Vorhaltungen mehr machen konnte. Der Absinth ist mein heimlicher Verbündeter, dachte sie kurz. Unsinn! Wenn Henri nicht immer so viel trinken würde, wäre er viel umgänglicher. So wie im Sommer 1869, als sie sich kennengelernt hatten.

      Florence erinnerte sich an den Mann mit dem vollen schwarzen Haar. Ja, er hatte damals wirklich ausgesehen wie ein italienischer Graf. Und wie charmant er gewesen war! Hatte allen Frauen den Kopf verdreht. Aber sie war es, die er wirklich gewollt hatte. Alle anderen waren doch nur Zeitvertreib gewesen. Das hatte Henri selbst gesagt. Und sie hatte ihn hinreißend gefunden. In seinem eleganten Mantel, dem Hut. Ein vollendeter Gentleman. Sie war so naiv gewesen! Florence erinnerte sich an die Reaktion ihrer Eltern, als sie davon erfuhren, dass Henri de Meli ihr den Hof machte. Die Drapers waren zurückhaltend gewesen, empfanden ihre Tochter als zu jung für eine Ehe. Doch dann hatte es gar keine andere Option mehr gegeben.

      Denn sie wusste doch nichts. Rein gar nichts. Nie hatte ihre Mutter sie ins Vertrauen gezogen. Die Freundinnen hatten nur gekichert, wenn das Thema auf die Liebe kam und auf die Wünsche eines Mannes. Und Florence selbst? Sie hatte Henri vertraut. Sich ihm anvertraut. Die heimlichen Küsse, seine zärtlichen Berührungen, wenn er sie bei Spaziergängen – weit genug entfernt von den Argusaugen seiner Mutter – an die Hand fasste oder ihren Hals liebkoste. Florence erinnerte sich, wie liebevoll er gewesen war und wie romantisch. Doch dann war da dieser Abend gewesen. Mit einem Mal war Florence hellwach. Die Kopfschmerzen wurden stärker.

      Es war der Karnevalsball gewesen. Ihr erster Kostümball. Der Höhepunkt der ausklingenden Wintersaison. Sie hatte sich als Marie-Antoinette verkleidet. Ihre Mutter war mit ihr im Petit Bazar gewesen, um die passenden Stoffe auszusuchen. Die Schneiderin hatte daraus ein Traumkostüm genäht – Florence fühlte sich wahrhaftig wie eine französische Rokoko-Königin. Die Haare waren gepudert und hochfrisiert. Und schminken durfte sie sich! Das weiß gepuderte Gesicht mit Schönheitsfleck und schwarz umrandeten Augen, dazu der zinnoberrote Mund. Henri war begeistert gewesen. Den ganzen Abend lang wollte er immerzu mit ihr tanzen, dabei hatten sich viele Verehrer in ihr Tanzkärtchen eingetragen. Aber Henri gelang es, seine Konkurrenten auszustechen. Und ihr war es ganz recht gewesen. Henri war als Pirat verkleidet – in einem weißen Rüschenhemd, ein buntes Tuch um den Hals, die Haare nach hinten gekämmt. Sogar eine Augenklappe hatte er aufgetrieben. Florence war hingerissen.

      »Du bist meine schöne Beute«, hatte er ihr ins Ohr geflüstert, sie von der Champagnerbar weggezogen und war lachend mit ihr ein Stockwerk höher geeilt in einen langen dunklen Flur. Unter sich hörten sie die Musik und die Stimmen aus dem Ballsaal. Florence fühlte sich verwegen an seiner Seite. Das hier hatte nichts zu tun mit ihren Gesangsstunden bei Frau von Hohenstein von der Semperoper. Oder dem langweiligen Deutschunterricht bei den unverheirateten Schwestern Baumann. Die meisten ihrer Mitschülerinnen mussten an diesem Abend zu Hause bleiben. Florence dagegen hatte ihren Vater so lange bekniet, bis er ihr erlaubt hatte, zum Ball zu kommen. Schließlich war sie schon 16! Es war herrlich, erwachsen zu sein.

      Henri hatte sie geküsst. Ihre rote Lippenfarbe hatte sich auf seinem Mund verteilt. Er hatte sich an sie gepresst, ihr etwas ins Ohr geflüstert, was sie nicht verstand. Florence hatte versucht, sich aus seiner Umarmung zu lösen. »Oh, Henri, es ist alles so aufregend!«, begann sie. Es war das erste Mal in ihrem Leben, dass sie drei Gläser Champagner getrunken hatte. Doch Henri schien gar nicht zuzuhören. Er war stark. Viel stärker als Florence. Sie hatte Angst bekommen. Und sich selbst gleichzeitig kindisch dabei gefunden. Sie dachte, so sei das wohl zwischen Mann und Frau. Der Mann hat dieses innere Feuer, das nur eine Frau zügeln kann. So ähnlich hatte sie es einmal in einem Roman gelesen, den ihr ihr Bruder Thomas heimlich ausgeliehen hatte. Als Henri ihre Röcke hob, hatte sie ihn fortschieben wollen. Aber Henri war wie von Sinnen gewesen. Was war nur mit ihm los? Er tat ihr weh. Sie schrie. Doch keiner hörte sie.

      Florence behielt das Erlebnis im dunklen Flur für sich. Am nächsten Tag hatte Henri ihr ein herrliches Blumenbouquet schicken lassen, dazu eine Karte mit innigen Worten der Zuneigung. Die alten Drapers waren beeindruckt gewesen. Nur ihre Brüder Thomas und Theodore mochten den Verehrer ihrer Schwester nicht. Florence brauchte ein paar Tage, bis sie ihre alte Unbekümmertheit zurückerlangte. Die Schmerzen waren vergangen. Das Blut an ihren Unterröcken hatte niemand entdeckt, sie selbst hatte sich eines Abends in die Waschküche geschlichen und die Flecken herausgeschrubbt. Seit diesem Karnevalsabend fühlte sie sich anders, beschmutzt. Es verwirrte und beschämte sie. Und Henri? Er schickte kleine schmeichelhafte Billets, lud sie zu einem Spaziergang ein – natürlich in Obhut ihrer Mutter – und gab sich weiterhin charmant. Und dennoch, er schien ihr eine Spur zurückhaltender, unverbindlicher. Plötzlich war er häufig verhindert.

      Florence war ratlos gewesen. Genauso ratlos war sie immer dann, wenn wieder dieses Ziehen im Bauch einsetzte. Zuerst hatte sie geglaubt, ihre Periode kündige sich an. Doch sie blieb aus, die Bauchschmerzen nicht. Und sie hasste auf einmal den Geruch von frischem Kaffee. Eines Morgens konnte sie den Ekel nicht länger unterdrücken und stürzte vom Frühstückstisch, um sich über ihrer Waschschüssel zu übergeben. Ihre Mutter war argwöhnisch geworden. »Was ist los, Flossie, hast du dir den Magen verdorben?« Ihr Blick war durchdringend.

      Florence hatte geweint und ihr erzählt, dass sie auf einmal keinen Kaffeeduft mehr vertrug und dass ihr morgens, gleich nach dem Aufwachen, schon schlecht wurde. Elizabeth Draper hatte den Hausarzt kommen lassen. Ihr Verdacht wurde bestätigt: Das Mädchen war schwanger.

      Florence setzte sich auf und schüttelte die Kopfkissen aus. Dann sank sie zurück. Zum Glück hatte sie ihr eigenes Schlafzimmer. Jeden Morgen neben einem schnarchenden, nach Schnaps riechenden Ehemann aufzuwachen, war kein Vergnügen. Aber der kleine Henry hier, der sich so selig an ihre Seite schmiegte, der war ein Glück! Sie streichelte über seinen Kopf.

      »Jetzt müssen wir zwei aber wirklich aufstehen«, sagte sie leise. »Gleich kommt Adele mit dem Kaffee. Und dein Vater darf nicht herausfinden, dass du hier bei mir bist.«

      Der Junge ließ sich noch tiefer ins Bett sinken. »Ach, Mommy, ich mag aber nicht. Daddy wird sowieso wieder einen Grund finden, auf mich wütend zu sein.«

      »Ja, ich weiß.« Bekümmert strich sie ihrem Sohn über die Wange. »Ich wünschte, er würde mich schlagen, aber das wagt er nicht. Mein armer Junge! Wir dürfen deinen Daddy nicht zornig machen. Hörst du?«

      Das Kind nickte. »Aber ich habe manchmal so eine Angst vor ihm, dass ich gar nicht mehr antworten kann, wenn er mich etwas fragt. So wie gestern, bevor ihr ausgegangen seid. Ich sollte Vokabeln aufsagen. Aber mit einem Mal fielen mir die Wörter nicht mehr ein.« Er begann zu weinen.

      »Sschh, sschh, beruhige dich, mein Kleiner. Ja, ich weiß, ich weiß. Es ist schlimm. Ich wünschte, ich könnte dich besser vor ihm beschützen.« Auch Florence’ Stimme klang auf einmal dünn. Sie sah die Szene vor sich, Henri kommandierte seinen Sohn vor sich wie einen Zinnsoldaten. Das Kind wurde von ihm selbst unterrichtet. Er wisse genug, um den Jungen auf das Leben vorzubereiten, hatte Henri erklärt und kategorisch ausgeschlossen, dass ein Privatlehrer ins Haus kam oder der Junge eine Schule besuchte. So hatte ihr Ehemann wenigstens eine Aufgabe, dachte Florence grimmig. Henri hatte nie in seinem erlernten Beruf als Bergbau-Ingenieur gearbeitet, sondern lebte vom Geld seiner Mutter. Er war Privatier. Vielleicht war das der Grund für seine dauernde Unzufriedenheit. Gestern war es besonders schlimm gewesen. Vielleicht hatte Florence ihn gereizt – mit ihrer guten Laune, der Vorfreude auf den Abend. Als der kleine Henry dann verzweifelt nach der richtigen


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