Erlebnispädagogik und ADHS. Benjamin Heller
gilt hierbei als biologische Ursache der Krankheit. Wenn DAT erhöht ist, wird zu viel Dopamin zurücktransportiert, sodass im synaptischen Spalt ein dauernder Dopaminmangel herrscht. ADHS sei also eine Dopaminmangelkrankheit. Diese Theorie wurde allerdings widerlegt, da andere Studien teilweise gegenteilige Ergebnisse, also eine niedrigere Dopamintransporterdichte oder gar keinen Unterschied der ADHS-Klienten zu gesunden Menschen, aufzeigten21.
2.3.2. Hirnentwicklungsstörung
Andere Forschungsergebnisse wollen die Ursache von ADHS auf die Hirnaktivität zurückführen. Eine verringerte frontale Hirnaktivität ist auf eine weniger starke Durchblutung des Nucleus caudatus zurückzuführen. Der Nucleus caudatus ist eine zum Striatum gehörende Struktur, welche den vorderen Teil des Gehirns mit dem limbischen System verbindet. Nucleus caudatus spielt eine Rolle bei Verhaltenshemmung und Konzentration. Das limbische System wiederum ist teilweise für die Steuerung von Emotion, Motivation und Gedächtnis zuständig. Die Hirnbereiche, die für die Kontrolle und Steuerung des eigenen Verhaltens und die Kontrolle der Emotionen zuständig sind, werden folglich beeinträchtigt. Das reduzierte Hirnvolumen, ein zu geringes Maß an chemischer Aktivität oder eine zu geringe Durchblutung der genannten Hirnbereiche bilden die Grundlage für die Entstehung von ADHS22. Die Ursachen für die anomale Hirnentwicklung sind nicht genau bekannt. Es wird vermutet, dass Alkohol- und Nikotinkonsum während der Schwangerschaft, aber auch die genetische Vererbung von bestimmten „ADHS-Genen“ dazu beitragen23. Dieser Ansatz blendet Erziehungsfehler und ein schwieriges familiäres Umfeld aus und beharrt darauf, dass ein resultierendes schwieriges häusliches Umfeld nicht die Ursache für das ADHS sei, sondern die Erbanlagen, die Eltern und Kinder gemeinsam haben. Dabei bezieht sich Barkley (2005) vor allem darauf, dass Kinder von Eltern mit ADHS auch eher mit ADHS diagnostiziert werden24. Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen erhöhen das Risiko einer ADHS. Vor allem zu früh geborene Kinder haben ein stark erhöhtes Risiko, an ADHS zu erkranken. Außerdem würde durch einen „negativen, kritischen und autoritären Umgangsstil von Seiten der Mutter gegenüber ihren hyperaktiven Kindern“25 das Fortbestehen einer Verhaltensproblematik befürwortet werden, dies sei aber nicht der Auslöser einer ADHS.
2.3.3. Umwelteinflüsse
Schmidt (2019) wählt einen Ansatz zur Erklärung, der vor allem auf Erfahrungen in der Familie Wert legt. Familiäre Beziehungsstörungen seien die Ursache für eine spätere Entwicklung von ADHS. Er stellt ähnlich wie in der KIGGS Welle aus Kapitel 2.2. fest, dass Kinder von Eltern mit schlechter Schulbildung ein erhöhtes Risiko haben, mit ADHS diagnostiziert zu werden26. Auch Kinder, die in Familien mit chronischen Eltern-Kind-Konflikten aufwachsen, sind eher davon bedroht, an ADHS und anderen Verhaltensstörungen zu erkranken27. Schmidt knüpft an der Neurowissenschaft an und betont, dass das „Gehirn weniger programmatisch fertig und verhaltensverursachend sei, sondern zeitlebens >plastisch<“, also je nach Input ständig veränderbar“ ist28. ADHS sei keine vererbte genetische Disposition, sondern „ein Wechselspiel von (nicht ADHS-spezifischer) genetischer Grundausstattung und anschließendem Input“29. Der Input meint dabei die Erziehungs- und Umwelteinflüsse, die auf das Kind einwirken. Hirnfunktion und Hirnstrukturen verändern sich also durch neue Erfahrungen. Psychische Prozesse, zum Beispiel Lernerfahrungen, haben einen messbaren Einfluss auf hirnfunktionelle Vorgänge30. Daraus resultiert eine zu erreichende dauerhafte Verhaltensänderung als Ziel der Psychotherapie zur Behandlung der ADHS mit der Folge einer Hirnfunktionsänderung. So könnten Psychopharmaka nicht nur ersetzt werden, sondern im Gegensatz zu ihnen, eine über die Behandlung hinaus andauernde Verhaltensänderung bewirken. ADHS-Kinder können, wenn sie in einem günstigen sozialen Milieu aufwachsen, keine oder nur minimale Symptome der ADHS entwickeln. Deswegen fordert Schmidt31, dass auch die Umwelt in eine Behandlung eines ADHS-Kindes mit eingebunden werden müsse. Es müsse das störende Milieu des Kindes, also Familie, Kindergarten oder Schule mit behandelt werden.
2.3.4.Ganzheitlicher Ansatz
Neurobiologe Gerald Hüther (2006), einer der großen Kritiker im Umgang mit ADHS, sieht die Ursache nicht rein biologisch oder genetisch, sondern geht von einem ganzheitlichen Ansatz aus. Er vermutet, dass gestörte Bindungsbeziehungen, fehlende Strukturen und Rituale, Stress und inkompetente Erziehungsstile, Überlastung der Eltern und die daraus resultierende übermäßige und stressige Reizexposition aufseiten der primären Bezugspersonen dafür verantwortlich sind, dass eine zu frühe und zu starke Stimulation dopaminerger Neurone im Mittelhirn stattfindet und einen Kreislauf zwischen neuronalen Strukturen und Umwelterfahrungen auslöst. Dieser führt später zu übermäßig expansivem Verhalten und mangelhafter autonomer Impulskontrolle. Kinder, die bereits in jungen Jahren gestresst sind, entwickeln also ein überentwickeltes dopaminerges System. Wenn sie dann weiterhin unter ungünstigen psychologischen Bedingungen heranwachsen, unter denen ihre erhöhten, zerebralen Angebote nicht genutzt und stabilisiert werden können, kommt es zu einer Rückbildung nicht genutzter Strukturen und damit zu einer unzureichend entwickelten exekutiven Frontalhirnfunktion32. Die Folgen sind demnach Defizite in der Impulskontrolle, Handlungsplanung und Folgenabschätzung. Hüther bezeichnet dies als „Teufelskreis übersteigerten Antriebs und gleichzeitig mangelhafter Antriebskontrolle“33.
Die deutsche Ärztekammer fasst zusammen, dass die Ursachen und Entstehungsbedingungen von ADHS noch „nicht vollständig geklärt“34seien. Man gehe aber davon aus, dass ADHS nicht auf eine einzige Ursache zurückzuführen sei, sondern mehrere Komponenten an der Verursachung beteiligt seien. Das Auftreten von ADHS sei nicht auf die Veränderung einzelner Gene zurückzuführen. Eine multifaktorielle Genese verschiedener Gene und/oder die Wechselwirkung zwischen genetischen und exogenen Faktoren (zum Beispiel DAT-10, ein Gen, das mit ADHS in Verbindung gebracht wird, aber auch mütterliches Rauchen oder Trinken) seien eventuell die Ursache35.
Abschließend kann resümiert werden, dass die Wissenschaft sich weiterhin uneinig bei der eigentlichen Ursache der ADHS ist. Aktuelle Forschungsergebnisse zeigen jedoch eine Tendenz zu einer multifaktoriellen Ursache, sprich einer Mischung aus ungünstigen Umweltfaktoren als auch genetischen Dispositionen.36
2.4. Gibt es ADHS wirklich?
Insgesamt betrachtet lassen sich zwei Lager in der Diskussion um ADHS stets wiederfinden:
Die Seite, die von der Existenz von ADHS absolut überzeugt ist und Handlungsanweisungen für betroffene Eltern und Lehrer*innen schreibt. Dazu gehört zum Beispiel der amerikamische Psychologe Russel A. Barkley. Barkley ist der Ansicht, dass ADHS eine genetisch bedingte und vererbte Erkrankung ist37 und blendet bei seinen Werken die Rolle der Eltern und der Familie weitestgehend aus. Bereits auf dem Cover von Barkleys Buch „Das große ADHS-Handbuch für Eltern“ entdeckt man den folgenden Kommentar: „Es geht nicht mehr darum, <<Schuldige>> zu finden: ADHS ist primär