Forensische Psychiatrie interdisziplinär. Manuela Dudeck

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und Strafe nur von Autoritäten abhängen und die Handlungsfolgen für die moralische Qualität einer Handlung entscheidend sind.

      2. Phase des Übergangs (zwischen 7/8 bis 10 Jahren)

      In dieser Phase erkennen Kinder, dass Regeln von einer Gruppe aufgestellt werden und doch veränderbar sind. Sie legen zunehmend Wert auf Gerechtigkeit und Gleichberechtigung.

      3. Stadium der autonomen Moral (ab 11 bis 12 Jahren) Kinder entwickeln ein Verständnis darüber, dass Regeln als Ergebnis sozialer Interaktion veränderbar sind. Sie beurteilen Moral und Strafe unabhängig von Autoritäten und berücksichtigen bei moralischen Entscheidungen die Absicht der handelnden Person.

      Kohlberg hingegen sah die Moralentwicklung als einen lebenslangen Prozess an und ging davon aus, dass sich die Menschen am Ende nur in der Stufe moralischen Denkens unterscheiden. Sein Modell besteht aus drei Niveaustufen, die wiederum in jeweils zwei Stufen unterteilt sind:

      • Präkonventionelles Niveau des moralischen Urteils

      − Stufe 1: Orientierung an Strafe und Gehorsam

      − Stufe 2: Orientierung an Kosten-Nutzen und Reziprozität

      • Konventionelles Niveau des moralischen Urteils

      − Stufe 3: Orientierung an wechselseitigen zwischenmenschlichen Erwartungen, Beziehungen und Übereinstimmungen (»gutes Kind«)

      − Stufe 4: Orientierung an sozialen Systemen und am Gewissen (»Recht und Ordnung«)

      • Postkonventionelles Niveau des moralischen Urteils

      − Stufe 5: Orientierung an sozialen Verträgen oder an individuellen Rechten

      − Stufe 6: Orientierung an universellen ethischen Prinzipien

      Beiden Modellen ist die Idee gemeinsam, dass moralisches Denken durch die zunehmende Fähigkeit zur Perspektivübernahme entsteht. Zudem verläuft die Moralentwicklung in unveränderlichen Stadien bzw. Stufen und universell gleich.

      Darüber hinaus sind einige alternative Theorien entwickelt worden, die sich zum einen eher auf die Entwicklung des prosozialen Verhaltens beziehen oder zum anderen soziale Urteile als Maßstab eingeführt haben. So hat Elliot Turiel (*1938) 1983 in seiner Domänentheorie zwischen Entscheidungen bezüglich Moral (richtig, falsch), bezüglich Konvention (Sitten und Regeln) und persönlichen Präferenzen unterschieden (Eisenberg & Miller 1987, Turiel 1983). Carol Gilligan (*1936) hat eine an Gerechtigkeit orientierte männliche Moral in Abgrenzung zu einer an Fürsorge orientierten weiblichen Moral postuliert, die heute als am meisten umstritten gilt (1984).

      Grundsätzlich existiert ein großes Wissen über die Entstehung von Moral, aber mehrere Aspekte geraten immer wieder in Kritik. Neuere Befunde legen nahe, dass unabhängig voneinander variierende Dimensionen der Moralentwicklung zu unterscheiden sind (Nummer-Winkler 2008). Ferner kann man nicht davon ausgehen, dass Menschen immer entsprechend ihres moralischen Wissens beziehungsweise ihrer moralischen Urteilskompetenz handeln. Durch das Urteilsniveau ist moralisches Handeln jedenfalls nicht festgelegt und nicht jeder Mensch, der unmoralisch handelt, ist antisozial. Deshalb versuchen Annahmen über moralische Emotionen und moralisches Handeln diesen Umstand genauer zu definieren.

      Die psychoanalytische Moralkonzeption nach Freud geht davon aus, dass das Kind zu Beginn ganz von der Erfüllung der eigenen Bedürfnisse bestimmt ist. Erst nach und nach lernt es von den Eltern, die eigenen Bedürfnisse zu beherrschen. Unbeherrschte Bedürfnissewerden durch Affekte wie Schuld oder Scham sanktioniert und die elterlichen Werte und Normen werden als internalisiert in das Über-Ich übernommen (Freud 1990). Die lerntheoretischenModelle schließen sich dem Konzept der Bestrafung durch Schuld und Scham bei Übertretung moralischer Konventionen an. Laut Lerntheorie erfolgt durch wiederholte Bestrafung eine konditionierte Angstreaktion. Die aversiv erlebten Emotionen wie Schuld und Scham werden daraufhin vermieden, da eine operante Konditionierung stattgefunden hat. Erst mit der Empathietheorie von Hoffmann (1975) wurden die kognitiven und emotionalen Grundlagen zusammengeführt, da diese affektive, kognitive und motivationale Komponenten integriert.

      2.4.2 Moralphilosophische Betrachtungen

      Die Normen einer sozialen Gruppe, d. h. einer Gesellschaft, lassen sich aus den o. g. kulturellen und/oder religiösenTraditionen ableiten, die das Miteinander von Menschen seit jeher strukturiert und reguliert haben. Sie stellen die Grundvoraussetzung für das Menschsein dar. Darauf aufbauend entstanden staatliche Gesetze, die durch die Gemeinschaft in Kraft gesetzt wurden. Ob und inwieweit Normen, die in diesem Prozess festgelegt wurden und werden, legitim sind, obliegt verschiedenen Anschauungen. Natürlich können Gesetze, die verbindliches positives Rechtdarstellen, gegen Natur- oder Menschenrechte von Teilen der Gesellschaft verstoßen. Außerdem können Gebote oder Gruppenregeln einer Gesellschaft von einer anderen als sittenwidrig abgelehnt werden (image Kap. 2.5). Beispielsweise übernimmt eine jede neue Generation einer Gesellschaft auf der einen Seite Gesetze der Älteren und stellt auf der anderen Seite tradierte Normen infrage (Hart 1971, Montada 2002). Die Kritik an der Legitimität von Normen hängt ganz entscheidend von deren ethischen Begründung ab. Die Moralphilosophie beschäftigt sich mit diesen Begründungen von richtigem und falschem Handeln und versucht, Antworten zu geben.

      Das wohl anerkannteste Merkmal der philosophischen Ethik ist die Universalisierbarkeit einer Norm bzw. des Verfahrens der Erarbeitung von Normen (Singer 1975). Es hat durch Kant (1748–1804) im kategorischen Imperativ die wohl bekannteste Formulierung erfahren: »Handle so, dass die Maxime Deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne« (Kant 1945, S. 42, § 7 Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft). Der kategorische Imperativ ist unabhängig von den daraus resultierenden Folgen anzuwenden, denn dieser zielt auf die Achtung der Interessen und Rechte anderer ab und sichert zu, dass ein jeder darauf zu achten hat. Ein Lügner z. B. behandelt andere Menschen bloß als Mittel und nicht als Zweck. Das ist für Kant nichts anderes als die »Wegwerfung und gleichsam Vernichtung seiner Menschenwürde«. Jede noch so kleine Notlüge ist ein Anschlag auf das ganz ethische Gebäude eines Staates. Lässt man auch nur eine Annahme zu, bricht alles zusammen. Kants berühmtestes Beispiel lässt deutlich werden, was die Konsequenzen dieses Handelns sein können: Ein Mann, der fürchtet, ermordet zu werden, flüchtet sich in das Haus seines besten Freundes. Plötzlich steht der potenzielle Mörder vor der Tür und fragt den besten Freund, ob der Mann anwesend sei. Folgt man Kant, muss der Freund auch in dieser Situation wahrhaftig, also mit einem »Ja« antworten, was rechtlich nicht haltbar ist (Kant 1797). Damit gilt der kategorische Imperativ, ohne auf die Konsequenzen zu achten, und ist keine empirische Erkenntnis. Er gilt a priori aus Vernunftgründen. Die Verbote zu töten, zu lügen usw. gelten, weil ohne sie kein Zusammenleben in sozialen Systemen möglich wäre. Dennoch gibt es Ausnahmesituationen, in denen diese allgemeinen Maximen nicht angewandt werden dürfen, und das bedarf einer guten Begründung (Gert 1983).

      Demgegenüber haben Jeremy (1748–1832) und John (1806–1873) einen utilitaristischen Ansatz als Form einer zweckorientierten Ethik entwickelt und das empirische Kriterium der Maximierung des Gemeinwohls für die Etablierung von Normen vorgeschlagen. Die Maximierung des Gemeinwohls meint die Summe aller individuellen hedonistischen Folgen und kann anhand von Lust und Leid oder Nutzen und Kosten ermittelt werden. D. h., es geht nicht in erster Linie um die Richtigkeit der Handlung, sondern um die Folgen oder die Ergebnisse der Handlung. In der Weiterentwicklung des Utilitarismus ist wiederum das Universalisierbarkeitsprinzip der Gerechtigkeit integriert worden, das verhindern soll, dass die Maximierung des Gemeinwohls auf Kosten von Einzelnen einer sozialen Gruppe oder Minderheiten gehen soll. Vilfredo Pareto (1848–1923) forderte auf dieser Basis eine Wirtschaftsordnung, die niemanden schlechter stellen darf (Posner 1987).

      In der Theorie der Gerechtigkeit geht es um die Konzeption einer sozialpolitischen Grundordnung, die auf dem Wert der Gleichheit beruht. John Rawls (1921–2002) war amerikanischer Philosoph und gilt als einer der wichtigsten Vertreter dieser Theorie des egalitären Liberalismus. Darin versucht Rawls, liberale und wohlfahrtsstaatliche


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